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Realismus und Gesellschaftsvertrag

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Man könnte darauf natürlich antworten, dass Hobbes’ Projekt der Tradition des Gesellschaftsvertrags angehört und dieser Bereich des Denkens schließlich mit einer hypothetischen Vorstellung vom Menschen und der Gesellschaft arbeitet, um eine Theorie der Souveränität und der Rechtmäßigkeit zu konstruieren. Doch dieser Einwand ist nicht gültig. Hobbes’ Vorgehen lässt sich nicht in die Tradition des Gesellschaftsvertrags einordnen, so wie sie sich von Jean-Jacques Rousseau bis John Rawls entwickelt.

Es gibt nämlich einen Punkt, an dem sie wesentlich davon abweicht. Die Theorie des Gesellschaftsvertrags, so wie sie seit dem 17. Jahrhundert funktioniert, ist mit dem Anspruch einer hypothetischen Methode verbunden, deren Ziel es nicht ist, die Wirklichkeit wiederzugeben, sondern die Kriterien zu begründen, mit denen man sie beurteilen und verändern kann. Rousseau und Rawls geben zu, dass die von ihnen errichtete Denkanordnung fiktiv, bildhaft und experimentell ist. In Vom Gesellschaftsvertrag führt Rousseau den Gegensatz ein zwischen einer historischen Vorgehensweise, die auf Tatsachen beruht, und einer auf Abstraktion beruhenden Reflexion über die Grundlegung und die Rechtmäßigkeit sozialer Verhältnisse. Er ordnet seine Methode in die zweite Kategorie ein: Er weiß nicht, sagt er, wie sich die politischen Beziehungen eingebürgert haben, aber er bekräftigt, dass das, was ihn interessiert, die Ausarbeitung der Kriterien ist, mit denen ihre Rechtmäßigkeit erfasst werden könne. Die normative Denkweise, die die Methode der Vertragstheorie kennzeichnet, gründet auf einem Bruch mit dem Anspruch, geschichtlich das Wirkliche zu beurteilen: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Einer hält sich für den Herrn der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie. Wie ist dieser Wandel zustande gekommen. Ich weiß es nicht. Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können.“8

Die Tradition des Gesellschaftsvertrags ist dadurch gekennzeichnet, eher einen hypothetischen Zugang als eine historische Methode zu entwickeln, um das Problem der unterschiedlichen Rechtmäßigkeit der politischen Systeme lösen zu können. Diese methodologische Position hat sich im Lauf der Philosophiegeschichte mehr oder weniger durchgesetzt und wurde in der zeitgenössischen Debatte durch John Rawls politischen Konstruktivismus erneuert. Rawls unterstreicht die Bedeutung, die der Abstraktion für die Ausarbeitung von Kriterien zukommt, mit denen sich die Frage beantworten lässt, welche Form eine gerechte politische Gesellschaft annehmen sollte. Was er politischen Konstruktivismus nennt, gründet auf der Vorstellung, dass es heftige Konflikte gibt, die nur durch Abstraktion gelöst werden können: „Die Arbeit des Abstrahierens ist demnach nicht ohne Grund: sie ist keine Abstraktion um der Abstraktion willen. Vielmehr bietet sie die Möglichkeit, die öffentliche Diskussion fortzuführen, wenn gemeinsame Überzeugungen, die weniger allgemein sind, sich als nicht länger tragfähig erwiesen haben. Wir müssen damit rechnen, daß wir, je tiefer ein Konflikt reicht, um so höher in die Abstraktion hinaufsteigen müssen, um einen klaren und unverstellten Blick auf seine Wurzeln zu bekommen. Da die Konflikte über das Wesen der Toleranz und über die Grundlagen der Kooperation auf der Basis von Gleichheit sich innerhalb der demokratischen Tradition als langwierig erweisen haben, müssen wir annehmen, daß sie tief reichen. […] So gesehen ist die Ausarbeitung der idealisierten und abstrakten Konzeptionen der Gesellschaft und der Personen, die mit diesen grundlegenden Ideen verbunden sind, notwendig, um eine vernünftige politische Gerechtigkeitskonzeption zu finden.“9 Rawls spricht sich offen für den Rückgriff auf eine spekulative Technik aus, wenn es darum geht, normative Kriterien zu entwickeln, die es ermöglichen, die Wirklichkeit zu beurteilen, die Phantasie anzuregen oder, wie Bertrand Guillarme sagt, „ein reflektiertes Gleichgewicht zwischen allen Intuitionsgraden einer Person“10 herzustellen.

Die Bedeutung Rawls in der Gegenwartsdiskussion und die Tatsache, dass wir, wenn wir schreiben, nicht aufhören, uns zu ihm zu positionieren, erklärt sich wahrscheinlich aus der Klarheit und der Kraft dieser Position. In seiner Methode liegt etwas, das bewirkt, dass man ihn nicht ignorieren kann und dass sie uns anspricht. Rawls hat die wesentliche Frage gestellt, auf welchen Kriterien wir eine Kritik der Gegenwart gründen und zu einer Transformation der politischen Ordnung aufrufen können. Und folglich zwingt er uns dazu, uns Fragen zu stellen über die Art und Weise, wie wir andere soziale Institutionen zu begreifen suchen, und über die Kriterien, die uns dabei leiten.

Chantal Mouffe sagt oft, dass die Intellektuellen nicht auf der Stufe der „Desartikulation“ bestehender Institutionen Halt machen dürfen, sondern sich auch die Frage der „Reartikulation“ einer anderen Hegemonie und der Form, die sie annehmen soll, stellen müssen.11 Offensichtlich ist das eine Position, mit der viele Autoren Probleme haben (aber nicht alle, man denke zum Beispiel an Bourdieu und Passeron, die ihr Werk La Reproduction mit einer Reflexion über die Bedingungen einer „rationalen Pädagogik“12 abschließen). Das Nachdenken über die möglichen und wünschenswerten Formen der Reartikulation politischer Institutionen führt uns nun aber dazu, die Frage der Kriterien und ihrer Ausarbeitung zu stellen – führt uns also zu Rawls.

Von Rousseau bis Rawls greift die Tradition des Gesellschaftsvertrags bereitwillig auf die Abstraktion zurück und fußt mithin auf der Behauptung einer Grenze zwischen einem konstatierendhistorischen und einem abstrakt-normativen Denken. Hobbes geht aber ganz anders vor. Wenn er seine fiktiven Erzählungen konstruiert, sagt er nicht: Ich greife auf die Abstraktion zurück, ich breche mit der Beobachtung, um ein Modell auszuarbeiten. Er sagt genau das Gegenteil. Er sagt: Ich beobachte, ich betreibe Politikwissenschaft, ich breche mit der Spekulation, ich leite aus Tatsachen ab. Die Hervorbringung einer Abstraktion ist etwas ganz anderes als die Verteilung mythologischer Elemente in einem Denken, das sich als beschreibend ausgibt.

Der Gegensatz zwischen der vermeintlich historischen Methode Hobbes’ und der ausdrücklich abstrakten Methode Rousseaus drückt sich ferner auch im Unterschied der politischen Wirkungen ihrer Werke aus. Indem er den Mythos als Geschichte ausgibt, erzeugt Hobbes einen Legitimierungseffekt, der sich auf alle Souveräne, ohne irgendeinen Unterschied zwischen ihnen zu machen, ausdehnt: Hobbes liefert Gründe dafür, sich dem, was ist, zu unterwerfen. Die Tradition des Gesellschaftsvertrags hingegen erzeugt, da sie abstrakt und spekulativ ist, kritische Effekte: Sie liefert Kriterien, um Systeme zu beurteilen. Rousseaus Leser sind der Auffassung, dass er normative Grundlagen bereitstelle, um die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit einer bestehenden politischen Autorität zu beurteilen, und dass man aus seinen Analysen ableiten könne, dass die Aufforderungen zum Gehorsam vonseiten des Souveräns in den meisten Fällen illegitim sind. Das ist das genaue Gegenteil der Konsequenzen, die sich aus dem Leviathan ergeben.13

Das politische Bewusstsein

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