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Ausnahme und Bürgerkrieg: Was sich dem Gesetzten entzieht
ОглавлениеTatsächlich gibt es Augenblicke, in denen Agamben sich bewusst wird, dass Kategorien wie Volk, Verfassung, „wir“, Bürgerschaft, Legitimität, Souveränität und die Erzählungen, die ihnen zugrunde liegen, weit von der Realität entfernt sind. Doch statt auf sie zu verzichten, wird seine Reflexion zu einer Form des Nachdenkens über die Kluft zwischen der Wirklichkeit und diesen Kategorien, über ihre Nicht-Verwirklichung, ihre Unangemessenheit, ihre Unvollständigkeit. Man kann hierin die Bestätigung dafür zu sehen, dass wir es tatsächlich mit einer Logik zu tun haben, die man mythologisch nennen kann, weil sie kein Außen hat: Sie lässt sich von dem, was ihre Gültigkeit in Frage stellt, nicht erschüttern, es vermag nicht, ihre Entwicklung zu unterbrechen, sondern wird von ihr absorbiert.
Wahrscheinlich hat Agamben deshalb zwei Begriffe ins Zentrum seines Werks gestellt, die sich an der Grenze dessen befinden, was er die politische Sphäre nennt: den Ausnahmezustand und den Bürgerkrieg.
Ich möchte mich hier auf den „Bürgerkrieg“ beschränken. In seinen Analysen erklärt Agamben, dass er den Bürgerkrieg zum Gegenstand nimmt, weil er sich in einem „Bereich der Ununterscheidbarkeit zwischen dem unpolitischen Raum der Familie und dem politischen des Gemeinwesens“34 befindet. Anders gesagt, der Begriff des „Bürgerkriegs“ ermöglicht es, die Aktions- und Beziehungsformen zu erfassen, die sich der Einteilung in politisch/privat und Gemeinwesen/Familie entziehen. Es geht um die Schwelle der Ununterscheidbarkeit, auf der das Politische und das Unpolitische zusammenfallen. Der Bürgerkrieg „markiert […] eine Schwelle der Ununterscheidbarkeit, vermittels deren das Unpolitische sich politisiert und das Politische ‚ökonomisiert‘“35. Hier liegt der wesentliche Punkt: Das Interesse an der Form des Bürgerkriegs führt Agamben dazu, zu erfassen, dass es letztlich keine politische Substanz gibt:
Die Politik ist ein Feld, das unablässig von den polaren Spannungen der Politisierung und der Entpolitisierung, der Familie und des Gemeinwesens durchzogen wird. Die Spannung zwischen diesen beiden entgegengesetzten Punkten, die voneinander getrennt und doch aufs engste verbunden sind, ist […] unauflöslich.36
Die Frage, die sich nunmehr stellt, ist folgende: Welchen Nutzen hat es, Kategorien zu setzen, „die Politik“ und „die Familie“, polis und oikos einander entgegenzusetzen, wenn man im Anschluss feststellen muss, dass die Wahrheit sich ihnen entzieht, sodass es nötig ist, einen dritten Begriff hinzuzufügen (Bürgerkrieg), um die Wirklichkeit denken zu können? Anstatt davon zu sprechen, dass es nur Strömungen der Politisierung und Entpolitisierung gibt, die sich der „politischen Substanz“ nähern oder sich von ihr entfernen, ohne sie jemals vollends erreichen zu können, wäre es da nicht angemessener zu sagen, dass das, was Agamben „Politik“ nennt, nicht existiert und dass man besser andere – aussagekräftigere – Begriffe suchen sollte, um von dem zu sprechen, was existiert, anstatt sich damit zu begnügen, die Dinge unter dem Aspekt ihrer Nicht-Entsprechung mit einer Form zu charakterisieren, die – nicht existiert?!