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2. Vom Monismus zum Reduktionismus

Man könnte die Sache folgendermaßen ausdrücken: Unser politisches Denken vollzieht sich im Modus einer Erkenntnisform und eines Diskussionsfeldes, die gerade in ihrer Konstitution die autonome Existenz von so etwas wie „die Politik“ voraussetzen. Die Autoren, die sich im Feld bewegen, das man „politische Philosophie“ nennt, unterscheiden sich in der Art und Weise voneinander, wie sie diese Autonomie konstruieren, wie sie sie fordern, welche Unterscheidungsmerkmale sie für die Politik im Hinblick auf Wirtschaft, Moral, Soziologie, Ethik usw. ausarbeiten … Diese Philosophie tritt immer dann auf, wenn ein Diskurs auf das Gesetz, den Staat oder auf uns selbst als Subjekte Bezug nimmt, indem er sich auf ein abstraktes Politikverständnis stützt. Das erklärt, warum dieser Diskurs seine eigenen Wörter hat, dass er über Begriffe verfügt, die nur in seinem Rahmen und in Bezug auf seine Gegenstände stichhaltig sind, die wir aber niemals für andere Aspekte unseres Daseins verwenden: Volk, Gemeinschaft, Souveränität, Demokratie, Bürger. Mit anderen Worten, es läuft alles so ab, als ob eine Art Zauber in der Welt wirkte und das „Soziale“ verschwände, wenn „die Politik“ erscheint. So, als ob in diesem Augenblick alles anders würde: Wir wären nicht mehr Individuen, die soziale Eigenschaften haben und von Interessen geleitet wären, sondern Bürger oder Vernunftwesen innerhalb eines Volks; die Sprache wäre kein Werkzeug innerhalb des Spiels der Herrschaft mehr, sondern ein Werkzeug der Diskussion; zwischenmenschliche Beziehungen wären keine Kräfteverhältnisse und keine kriegerischen Beziehungen mehr, sondern plötzlich interindividuelle Beziehungen der Diskussion und der Deliberation.

Doch warum sollten unsere Verhältnisse zum Staat und zum Gesetz von anderer Natur sein als unsere Verhältnisse zu anderen Institutionen des sozialen Lebens? Warum sollten die Machtbeziehungen, die sich im Staat und durch den Staat bilden, einer anderen Ökonomie unterliegen als andere Machtbeziehungen? Warum sollte unser Bezug zur Sprache von einem Zwangsverhältnis zu einem Deliberationsverhältnis werden, sobald wir „politische“ Themen behandeln oder rechtliche Überlegungen anstellen, wie Habermas37 manchmal anzudeuten scheint?

Wir alle stehen täglich in vielerlei Beziehungen zueinander. Alle diese Beziehungen sind durch Institutionen und symbolische Rahmenbedingungen vermittelt: Warum sollten sich die Modalitäten meiner Beziehungen zu anderen plötzlich ändern, wenn ich wählen gehe oder auf andere Weise politisch tätig werde? Aus welchen Gründen sollten sich die interindividuellen Beziehungen verwandeln, wenn sie etwas zum Gegenstand oder als Bühne hätten, das man „die Politik“ nennt? Die Zuordnung von Institutionen wie Wahl, Staat, Gesetz und Recht zu einem einzigen Bereich, der „die Politik“ hieße und der der „Politikwissenschaft“ oder der „politischen Philosophie“ unterläge, setzt voraus, dass diese Institutionen aus ein und derselben Logik hervorgehen. Doch inwiefern sollte das der Fall sein? Warum sollte die Wahl nicht dem Bereich des Unternehmens näherstehen als der Demonstration?

Monismus

In der Einleitung zu seinem Buch Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens formuliert der Ökonom Gary Becker eine Reihe von Argumenten, die die Notwendigkeit rechtfertigen, die erzählerischen Konstruktionen in Frage zu stellen, die die Politik aus dem Spiel der gesellschaftlichen Kräfte herauslösen. Es geht hier nicht darum, Beckers Welt- und Menschenbild zu bestätigen, sondern sich auf seine Denkweise zu stützen, um in analoger Weise etwas auszuarbeiten, das ich vorschlage, eine reduktionistische Theorie zu nennen.

Gary Becker hat mit Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens eine Revolution in der Wirtschaftstheorie vollzogen, indem er behauptet hat, dass die disziplinäre Trennung zwischen Ökonomie und Sozialwissenschaft sowie die Aufteilung der diesen Wissenschaften eigentümlichen Gegenstände nicht stichhaltig sind.

Die traditionelle Unterscheidung zwischen „ökonomischen“ Gegenständen, die einem rationalen Zugang unterliegen, und anderen Gegenständen oder Bereichen des Lebens (Affekten, Leidenschaften, Liebe, Drogen), die rationalen Überlegungen nicht zugänglich und durch Entscheidungen gekennzeichnet seien, die sich anderen Analyseverfahren verdanken, ist nicht aufrechtzuerhalten: Wenn der Mensch rational ist, dann ist er es immer. Er hört nicht spontan damit auf, wenn er sich auf andere Gegenstände als auf Geld oder Arbeit bezieht. Wenn der Mensch also im Bereich von Arbeit und Geld einer an Rationalität und Maximierung ausgerichteten Analyse unterzogen werden kann, dann auch in allen anderen Bereichen seines Lebens. Es gibt einen Verhaltensmonismus, der uns dazu nötigt, die Trennung zwischen ökonomisch und nicht-ökonomisch abzulehnen.

Eine kohärente Sozialwissenschaft muss monistisch sein. Gary Becker schreibt:

Der Kern meines Arguments ist, daß menschliches Verhalten nicht schizophren ist: einmal auf Maximierung ausgerichtet, einmal nicht; manchmal durch stabile Präferenzen motiviert, manchmal durch unbeständige; manchmal zu einer optimalen Akkumulation von Informationen führend, manchmal nicht. Alles menschliche Verhalten kann vielmehr so betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen, bezogen auf ein stabiles Präferenzsystem, maximieren und sich in verschiedenen Märkten eine optimale Ausstattung an Information und anderen Faktoren schaffen.38

Becker führt weiter aus:

In der Tat bin ich zu der Auffassung gekommen, daß der ökonomische Ansatz so umfassend ist, daß er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist, sei es nun Verhalten, das monetär meßbar ist oder unterstellte ‚Schatten‘-Preise hat, seien es wiederkehrende oder seltene Entscheidungen, seien es wichtige oder nebensächliche Entscheidungen, handele es sich um emotionale oder nüchterne Ziele, reiche oder arme Menschen, Männer oder Frauen, Erwachsene oder Kinder, kluge oder dumme Menschen, Patienten oder Therapeuten, Geschäftsleute oder Politiker, Lehrer oder Schüler.39

Der Mensch ist kein in Abteile eingeteiltes Wesen, das in seinem ökonomischen Handeln einem ökonomischen Denken folgen und in den anderen Bereichen seiner Existenz vielmehr sozialen, moralischen, politischen, psychologischen, ethischen usw. Werten gehorchen würde. Er ist ein einheitliches, kohärentes Wesen. Ein Ökonom hat daher allen Grund, ihn als ein kleines Unternehmen zu behandeln, das in jedem Augenblick versucht, seinen Nutzen unter der Bedingung der Ressourcenknappheit zu maximieren, und das Modell des Homo oeconomicus als Interpretationsraster auf alle menschlichen Tätigkeitsfelder anzuwenden: Familie, Drogen, Gefühle, Verbrechen und Strafe.

Einheit

Es ist nicht notwendig, Gary Beckers anthropologische und methodologische Postulate zu teilen, um die Gültigkeit der Intuition anzuerkennen, die er entwickelt: Eine Gesellschaftstheorie kann nur monistisch sein. In Bezug auf unser Thema heißt das: Jede Methode, die die Kategorien der Politik autonom macht, steht vor einem epistemologischen Problem: Sie akzeptiert, dass menschliche Handlungen und zwischenmenschliche Beziehungen ihr Wesen und ihre Form verändern, sobald sie die Politik betreffen. Eine solche Ausnahmestellung und die Annahme, dass sich zwischenmenschliche Beziehungen, wenn es um so etwas wie den Staat, das „Leben in Gesellschaft“ oder das „Gemeinwesen“ geht, schlagartig ändern, sind nun aber durch nichts gerechtfertigt. Es ist viel überzeugender, davon auszugehen, dass politische Institutionen Teil der Dispositive des Lebens und in die sozialen Beziehungen eingetaucht sind und dass man sie also mittels einer gewöhnlichen Beobachtungssprache benennen und denken sollte. Die handelnden Entitäten im sogenannten politischen Raum sind dieselben wie die Entitäten, die in dem Raum handeln, der öffentlich oder sozial und privat genannt wird. Die „politische“ Theorie ist ein Teilbereich einer Theorie der Macht und sozialer Interaktionen.

Das politische Bewusstsein

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