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Die Nachahmung des Raubtiergottes

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Höhere Säugetiere lernen durch Nachahmung. In besonders starker Weise gilt dies für den Menschen, weil dieser biologisch eine Frühgeburt darstellt und weil er nur mit schwachen Instinkten ausgestattet ist. Für ihn entsteht dadurch im Leben eine Orientierungslosigkeit, die er durch die Mimesis der Lebewesen, die ihm nahe stehen und ihm als stark und überlebensfähig erscheinen, auszugleichen sucht. Das Neugeborene ahmt das Verhalten seiner Mutter und der übrigen erwachsenen Mitglieder seiner Horde in seinem Tun und Verhalten nach. Je stärker die Beziehung ist, die den Lernenden mit seinem Vorbild, seinem Modell, verbindet, desto stärker ist der Impuls zur Mimesis. Die Mutter – in höher entwickelten Kulturen auch der Vater – wird in allem, was sie tun, vom Kind mit starkem innerem Antrieb spielerisch imitiert. Unbewusst sind sie das Gottessymbol, dem nachzueifern höchste Vollendung des Lebens bedeutet. Mit großer Mühe schlüpft das zweijährige Mädchen in die Schuhe der Mutter und sucht mit ihnen zu laufen, obwohl es dabei stolpert und ständig hinfällt; es will aber sein und gehen wie die Mutter, es will sich „ihren Schuh anziehen“. Alles, was die Mutter tut – z. B. den Boden oder das Fenster putzen, die Geschirrspülmaschine ein- und ausräumen –, ebenfalls zu tun oder dabei mitzuhelfen, ist für das kleine Kind ein sehr starker Antrieb.

Die Nachahmung des Muttersymbols ist tief in die menschliche Kultur eingedrungen. „Kultur“ kommt von lateinisch colere, mit der Grundbedeutung „pflegen“; es heißt auch, „etwas bewohnen und bewohnbar machen“, den Acker „bebauen“ und das Feld „bestellen“. Im Hintergrund dieses „Pflegens“ steht die Fürsorge der Frau und Mutter um das Leben ihres Kindes. Nahrung zu sammeln, aufzubewahren und sie auszuteilen, Nahrungsquellen und Wasserstellen im Kopf zu behalten und zu ihnen hinzuführen, mit Hilfe der Mondphasen die Zeit einzuteilen und planend in die Zukunft vorauszuschauen, um auch später noch genügend Nahrung zu haben, geschützte Wohn- und Lagerplätze zu suchen, bei Kälte die Anvertrauten mit Kleidung zu versorgen, das kranke Kind zu pflegen und ihm Heilmittel zu geben – all dies sind vom Ursprung her mütterliche Tätigkeiten, die im Laufe der Jahrmillionen und Jahrhunderttausende auf je spezifische Weise in den verschiedenen Kulturen der Menschheit ausdifferenziert und entfaltet wurden.

Doch nicht nur das aus der Mutter-Kind-Beziehung erwachsene Gottessymbol wurde vom Menschen nachgeahmt, sondern auch das aus den Lebensumständen der südostafrikanischen Savanne ihm zuwachsende Gottessymbol des Raubtiers. Dieses Lebewesen verfügte über die von ihm so begehrte Fleischnahrung und schien ihm unsterblich; es zu imitieren, musste für ihn ein starker Anreiz sein. Auf welche Weise und in welchen Phasen in Jahrtausenden oder vielleicht Jahrhunderttausenden diese Nachahmung des Raubtiers erfolgte, wissen wir nicht. Fest steht jedoch, dass sich spätestens der Menschentyp des homo erectus vor etwa 1,7 Millionen Jahren nicht mehr als Sammler und Aasesser, sondern als Sammler und Großwildjäger in der Savanne bewegte. Er wartete nicht mehr, bis das Raubtier seine Beute schlug und Fleischreste für ihn übrig ließ, sondern er übernahm die Tätigkeit des Raubtiers selbst. Irgendwann hatte er begonnen, seinen Grabstock als Stoßlanze zu verwenden und die scharfkantigen Steinschaber zu Faustkeilen zu formen. Er entwickelte Jagdstrategien, mit deren Hilfe er die Tiere in Fallgruben lockte; oder – wie aus Funden in Mittelfrankreich und Nordspanien zu ersehen – er jagte ganze Herden von Wildpferden über einen Steilhang, an dem sie sich zu Tode stürzten, und trieb Rinderherden in Sumpfgebiete, wo sie hilflos stecken blieben und er sie mit seinen Jagdwerkzeugen mühsam und auf grausame Weise töten konnte.

Welch furchtbares Gemetzel diese Großwildjagd bedeutete, kann man sich veranschaulichen, wenn man den Bericht des christlichen Missionars Schebesta in seinem Buch über die Bambuti-Pygmäen liest29: Die Pygmäen sind wegen ihrer Friedlichkeit und Toleranz bekannt, verkörpern aber eine sehr alte Kulturstufe. Trotz ihrer Friedlichkeit bricht in größeren aber regelmäßigen Zeitabständen eine Art orgiastischer Blutgier aus. Die Männer sondern sich mehrere Tage lang von den Frauen und Kindern ab, leben sexuell enthaltsam und steigern sich durch das Schlagen der Trommel, durch aggressive Tänze und durch Zufügung von Verletzungen in eine aggressive Trance hinein. Dann ziehen sie in den Busch und suchen nach einer Elefantenherde. Von zwei Seiten schleichen sie sich an eines der riesigen Tiere heran und stoßen mit beiden Händen mit Widerhaken versehene Harpunen in den Leib des Tieres. Am Ende der Harpunen sind Seile befestigt. Wenn der Elefant nun, blindwütig vor Schmerz, zu rasen beginnt, wird das Ende dieser Seile immer wieder locker um Bäume geschlungen, so dass sich die Widerhaken der Harpunen immer tiefer in das Fleisch des Tieres eingraben und ihm schließlich die Därme herausreißen. Wenn dann das riesige Tier schwer atmend am Boden liegt, wird ihm mit Steinbeilen der Rüssel abgehackt, so dass es elend verblutet. Der Mensch ist zum Super-Raubtier geworden, das sogar ausgewachsene Elefanten schlägt.

Was steht hinter diesem Verhalten? Gewiss hat auch der als Sammler und Aasesser lebende Australopithecus – wie von Jane Goodall auch bei wildlebenden Schimpansen beobachtet wurde – bei seinen Wanderzügen schon auf kleinere Tiere wie Buschschweine und Nagetiere Jagd gemacht; Fleisch war für ihn ein wichtiges und heißbegehrtes Nahrungsmittel. Doch diese Art, Fleischnahrung zu erwerben, unterschied sich grundlegend von der Großwildjagd. Sie gehörte ihrer Art nach unter die Kategorie „Sammeln“. So, wie man essbare Wurzeln, Beeren und Früchte gesammelt hat, so hat man auch kleinere Tiere als Fleischnahrung gesammelt. Wie bei wildlebenden Schimpansen zu beobachten, ist der Akt des Tötens dabei nur nebensächlich. Bisweilen wird ein gefangenes Tier lebend aufgezehrt; wenn es zu sehr zappelt und sich bewegt, wird es so lange an einen Stein geschlagen, bis die Fleischmasse ruhig ist und verzehrt werden kann.

Die Großwildjagd unterscheidet sich grundlegend von dieser Sammeltätigkeit. Sie zielt in erster Linie auf den Akt des Tötens. Die vielen Pferdeleiber, die sich über den Felsabhang zu Tode stürzten, und die Rinderherde, die im Sumpf stecken blieb, konnten niemals völlig aufgezehrt werden. An der Großwildjagd faszinierte die Fähigkeit des kleinen von der Natur nicht mit Waffen versorgten, dafür aber wendigen und einfallsreichen Menschen, wie ein Riesen-Raubtier zuzuschlagen. Die Großwildjagd ist eine Nachahmung des Raubtiers, wobei der Mensch dieses an Tötungsgewalt noch übertraf.

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