Читать книгу Gewalt in den Weltreligionen - Georg Baudler - Страница 12
ОглавлениеII. Vergöttlichung durch Aneignung des Raubtierstatus
Sich Göttliches einverleiben
Da das Raubtier dem Menschen als Gottessymbol begegnete, war seine Nachahmung ein Akt der Vergöttlichung. Der Mensch gewann dadurch eine grundlegende Änderung seines Seinsstatus. Er war in diesem Verhalten nicht mehr ein hilfloses Beutetier, sondern trat an die Seite der Raubtiergottheiten, die in seiner Perspektive unsterblich waren und die er in seinem Gewaltpotenzial noch überragte.
Die Jagd auf das große, gewaltige Tier war so gesehen ein religiöser Akt. Es war ein kultischer Vollzug, der den Menschen in einen neuen, göttlichen Seinsstatus versetzte. An möglichst wichtiger Stelle in diesen kultischen Akt einbezogen zu sein, war ein existentielles Verlangen des Menschen. Sosehr die Frau und Mutter selbst Gottessymbol war und von daher einen hohen gesellschaftlichen Status besaß – sie gilt bei manchen Naturvölkern noch heute als die natürliche Verbindung des Menschen zur Geisterwelt –, ist sie durch die kultische Großwildjagd andererseits doch auch zurückgesetzt. Denn einmal aufgrund ihrer körperlichen Konstitution, vor allem aber wegen der Andersgeartetheit ihrer Symbolik, die auf Fürsorge und Lebenserhalt gerichtet ist, konnte sie in der kultischen Großwildjagd keine bevorzugte Position einnehmen. Nur indem sie sich an der Zubereitung und am Verzehr des kultisch getöteten Tieres beteiligte, konnte auch sie am göttlichen Seinsstatus Anteil gewinnen. Das Essen des großen gewaltigen Tieres war eine Einverleibung seiner Stärke und Göttlichkeit, die den Essenden auch an den neuen göttlichen Seinsstatus heranführte.
Die sogenannte „Patrophagie“ ist ein dunkles und vielfach verdrängtes Kapitel in der Vorgeschichte des Menschen. Es bezieht sich auf die Beobachtung, dass Menschenschädel schon in der Frühen Altsteinzeit besonders behandelt, in Höhlen deponiert und aufbewahrt wurden. Bei vielen dieser Schädelfunde – u. a. auch bei dem fast eine halbe Million Jahre alten Fund von homo erectus-Schädeln in der Höhle Chou-K‘ou-Tien bei Peking – ist das Hinterhauptloch künstlich erweitert. Aus der Beobachtung an Schimpansen wissen wir, dass auch diese bei erjagten und getöteten Tieren das Hinterhaupt aufbrechen und auf diesem Weg das Gehirn herausnehmen, um es zu verzehren. Viele der deponierten Schädel weisen Hiebspuren auf, die auf eine gewaltsame Tötung hindeuten. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass ein verehrter Vorfahre, ein mächtiger Feind oder ein nachträglich sakralisiertes Menschenopfer auf diese Weise behandelt wurden, um sich dessen Kraft und Stärke, seine „Göttlichkeit“, die ja besonders vom Kopf ausstrahlte, einzuverleiben.
Das Motiv, Gott zu töten und sich seine Macht und Stärke essend anzueignen, ist in der Religionsgeschichte weit verbreitet. Im alten Mexiko wurde die Statue des Gottes Omacatl in Teig nachgebildet, dann durch einen Lanzenstich „getötet“ und als Gottesspeise verzehrt. „Diese in Gebäckform nachgebildeten Götter spielten auch bei anderen Festen eine Rolle […] Man ‘tötete’ (opferte) sie, indem man ihnen mit dem Webemesser der Frauen den Kopf abschnitt.“30 Ähnliche Empfindungsmuster liegen wohl auch zugrunde, wenn zu Ostern Christus als Gotteslamm in feinem Biskuitteig gebacken und verzehrt wird.
Beim Bärenopfer der Ainu wird der göttlich verehrte Bär getötet, gehäutet und man trinkt sein Blut, „um die Kraft, Tapferkeit und alle guten animalisch-göttlich gedachten Eigenschaften des Bären in sich aufzunehmen. […] Das Fleisch wird in kleinen Stücken an die ganze Festgemeinde verteilt, an der auch die Frauen und Kinder Anteil haben. Alle sollen sich etwas von der ‘Bärenkraft’ einverleiben und auf diese Weise mit der Gottheit in enge Verbindung treten.“ Dies berichtet John Batchelor, der das Opferfest der Ainu auf der nordjapanischen Halbinsel Hokkaido noch selbst miterlebt hat.31
Adolf Ellegard Jensen hat das Töten und Einverleiben der Gottheit als das gemeinsame Wesen des Opfers in den frühen Pflanzerkulturen herausgearbeitet. Bekannt ist der Mythos von Hainuwele, der sich bei den Wemale auf der Insel Ceram findet, in Variationen aber in vielen über die ganze Erde verstreuten archaischen Pflanzerkulturen nachweisbar ist.32 Hainuwele ist das vom Himmel zu den Menschen gekommene göttliche Mädchen, das alle durch seine Schönheit und Anmut bezaubert und den Menschen Schmuck und andere göttliche Geschenke bringt. Bei einem nächtlichen Tanz wird es getötet, später wird sein Leichnam ausgegraben und zerstückelt, die Leichenteile werden auf den Feldern vergraben. Aus ihnen wachsen die Früchte und die Nahrung, wie die Menschen sie essen. Essen ist deshalb für sie grundsätzlich nicht bloß der biologische Vorgang notwendiger Nahrungsaufnahme, sondern eine Einverleibung der vom Himmel herab zu ihnen gekommenen Gottheit.
In der vedischen Religion wird die Pflanze Soma, aus deren Schösslingen ein heiliger Rauschtrank gewonnen wird, als Gottheit verehrt. Das Zerschlagen und Keltern dieser Schösslinge wird dabei als Töten der Gottheit interpretiert, und wenn der Mensch beim Opferfest den heiligen Rauschtrank trinkt, nimmt er die Gottheit, ihre Kraft und Lebensfülle in sich auf.33 Es scheint in der Menschheit eine Art gedanklicher Zwang vorzuliegen, das eigene Tun als raubtierhaftes Verhalten darzustellen; nur dadurch scheint der Mensch sich seiner göttlichen Identität vergewissern zu können. Der Krieger, der die meisten Skalps an seinem Gürtel hängen hat, oder der Papua, dessen Knotenschnur am längsten ist, d.h. die größte Zahl getöteter Menschen anzeigt, haben den höchsten Rang. Die Tötungsgewalt, die der Mensch sich aneignet, ist das Kriterium seiner Ranghöhe.