Читать книгу Gewalt in den Weltreligionen - Georg Baudler - Страница 13
Der Rausch des Tötens
ОглавлениеWie hat sich diese Entwicklung vollzogen? Wie kam der Mensch dazu, seinen Grabstock als Lanze und seine scharfkantigen Steine als Faustkeile zu benutzen? Woher nahm er dazu den Mut und den Impuls?
Die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Barbara Ehrenreich hat sicher recht, wenn sie in diesem Übergang des Menschen zum Großwildjäger nicht das Ergebnis einer kontinuierlich verlaufenden Evolution sieht, sondern eine „Grenzüberschreitung“, einen revolutionären Akt, eine „Rebellion“ gegen das als göttlich verehrte Raubtier. Dabei ist, sagt sie, „diese Auflehnung sicherlich mit dem Aufstand Luzifers gegen den Himmel vergleichbar; der Unterschied ist, dass diesmal die Rebellen siegten“.34 Tatsächlich gibt es viele Kulturen, in denen der Mythos den Sieg des Menschen über das Raubtier als das erlösende Ereignis erzählt: Perseus besiegt die menschenverschlingende Gorgo, in Sumer tötet Marduk das Chaosungeheuer Tiamat, der heldenhafte indische Gott Indra besiegt den Wolkendrachen Vitra, der den fruchtbringenden Regen zurückhält, und im christlichen Bereich ist es der heilige Georg, der den feuerspeienden und menschenverschlingenden Drachen besiegt. Ob der „Aufstand Luzifers gegen den Himmel“, also der Übergang zur Großwildjagd vor etwa 1,7 Millionen Jahren jedoch wirklich ein „Sieg“ der Menschen, ein aufbauendes und weiterführendes Ereignis war, bleibt eine offene Frage. Der Mensch wurde dadurch – biologisch gesprochen – zum „Beschädigungskämpfer“, der sich so sehr in die von ihm ausgeübte Tötungsgewalt verliebte, dass er immer mörderischere Waffen schuf und ein Arsenal an Zerstörungsgewalt ansammelte, mit dem die Menschheit heutzutage sich selber mehrfach vernichten kann. Potenziell beinhaltet der „Sieg“ des Menschen über das Raubtier die Selbstvernichtung der Gattung Mensch.
Sicher hat der Übergang des Menschen vom Status des Beutetiers zum Raubtierstatus viele Jahrhunderttausende gedauert. Ehrenreich versucht diese langandauernde Revolution in ihren möglichen Phasen nachzuzeichnen. Dabei geht sie von der Notwendigkeit aus, dass der Hominide sich – wie dies heute auch bei Primaten in der Wildbahn zu beobachten ist – immer schon gegen Raubtiere verteidigen musste. Die Abwehr des angreifenden Raubtiers mit Hilfe von Stöcken und Steinen ist sicher ein Verhaltensmuster, das die Hominiden auch schon als Sammler und Aasesser (ebenso wie die heutigen Primaten) praktizierten; anders hätten sie nicht überleben können. Doch durch eine kontinuierliche Verbesserung der Verteidigungsstrategien mit Hilfe der im Gehirnwachstum sich dokumentierenden ansteigenden Intelligenz wird aus dem Sammler und Aasesser kein Raubtier. Woher kommt die für den Menschen spezifische, im Verletzen und Töten sich ausdrückende „sexuell-aggressive Rangdemonstration“?35 Wie hat sich dieses Verhaltensmuster, das die psychische Grundlage für die Lust des Menschen an Kampf und Krieg darstellt, herausgebildet?
Diese Frage ist allein vom Biologischen her nicht zu klären. In jedem Kampf auf Leben und Tod, in jedem Krieg, bei dem das massenhafte Töten von Menschen zur Tagesordnung gehört, ist ein existentiell-religiöses Motiv am Werk. Mag sein, dass für diejenigen, die vom Schreibtisch und vom Verhandlungstisch aus täglich Kämpfe und Kriege planen, der Krieg, wie Clausewitz sagte, nur „Politik mit anderen Mitteln“ bedeutet. Für diejenigen aber, die sich begeistert in ein Schlachtengetümmel stürzen oder auf ein militärisches Kommando hin aus dem schützenden Graben springen und geradewegs in ein Maschinengewehrfeuer hineinlaufen, ist dies nicht eine politische Aktion. Es ist vielmehr das Eintauchen in eine Art Orgie der Gewalt, in welcher der Mensch endlich seinen tief eingewurzelten Beutetierstatus vergisst und sich in dem Gefühl verliert, den göttlichen Seinsstatus erlangt zu haben. „Eine plötzliche Leichtigkeit erfasst den Täter“, schreibt der Soziologe Wolfgang Sofsky, „der Schwung der Gewalt trägt ihn fort […] er verschmilzt mit den Bewegungen der Gewalt, der Körper verfällt in einen motorischen Rhythmus. Das Rattern der automatischen Waffe überträgt sich auf die Hände, die Arme, den Rumpf des Schützen. Im Takt der Feuerstöße fahren die Schreie aus ihm heraus.“36 Selber tötend dem Tod konfrontiert, vergisst er das Gefühl seiner Endlichkeit. „Die Not der Individuation, die Angst zum Tode, ist auf einmal abgestreift. Das Fest des Gewaltrauschs ist ein Sprung in den utopischen Zustand.“37
Was der Soziologe den „utopischen Zustand“ nennt, ist für den Religionswissenschaftler die Erfüllung einer religiösen Sehnsucht. Es ist ein Zustand, in dem der Mensch Gott oder dem Göttlichen „von Angesicht zu Angesicht“ (1 Kor 13,12) begegnet und in dieser Begegnung seiner Endlichkeit und Sterblichkeit enthoben ist. Nur von diesen religiösen Elementen her ist das künstliche Super-Raubtier Mensch hinreichend erklärbar.
Es ist ein schwieriges Unterfangen, Ansatzpunkte für diese Verwandlung in der Jahrmillionen zurückliegenden Evolution des Menschen zu suchen. Archäologische Funde helfen hier kaum weiter, weil sie, obwohl aus der Altsteinzeit stammend, doch Dokumente einer Zeit sind, die viele Jahrhunderttausende später liegt. Einen gewissen Hinweis geben sie nur insofern, als in dieser frühen vorgeschichtlichen Epoche die Zeit gleichsam „stehen blieb“, d.h. Veränderungen auch kleinster Art nur sehr langsam, eben in Jahrtausenden und Jahrhunderttausenden erfolgten. So ist wohl doch die Tatsache bedeutsam, dass die Forschung bezüglich der Vorgeschichte des Menschen von der „gesicherten Tatsache von Ritualtötungen“ ausgeht.38 „Ritualtötung“ ist dabei nur ein anderes Wort für Opfertötung.