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Die Jagd nach dem Sündenbock
ОглавлениеDie Forschungen des Franko-Amerikaners René Girard zum Phänomen des Opfers und seine Interpretation entsprechender Mythen39 legen die Vermutung nahe, dass in der Opfertötung der Ursprung für den Übergang des Sammlers und Aasessers zum Großwildjäger zu suchen ist. Hinter der Opfertötung steht nämlich, wie Girard an vielen Mythen aus der ganzen Welt aufzeigt, der Sündenbock-Mechanismus, der bei allen Völkern der Erde tief eingewurzelt ist und nach Girard das Grundmuster unserer Kultur und Zivilisation darstellt: Immer wenn eine menschliche Gemeinschaft in eine schwere, aussichtslos erscheinende Situation und Krise gerät, wird einem Einzelnen oder einer Minderheit innerhalb der Gemeinschaft die Schuld für die Krise aufgebürdet und er wird aus der Gemeinschaft ausgestoßen, zumeist getötet. Als im Mittelalter die großen Pestwellen ausbrachen, beschuldigte man die Juden, die Brunnen vergiftet zu haben, und ging in fürchterlichen Pogromen gegen sie vor. Wenn eine Regierung in die Krise gerät, müssen „Köpfe rollen“, d.h., ein oder mehrere Minister verlieren ihre Posten, in archaischen Verhältnissen wohl auch ihr Leben. Die Kraft und Gewalt, mit der sich die Menschen zusammentun, um den Sündenbock zu definieren und zu vernichten, verbindet die Mitglieder der Gemeinschaft neu und lässt sie anschließend die Krise bewältigen.
Die Schwierigkeit menschlicher Krisen – auch dies ist eine sicher zutreffende Beobachtung Girards – liegt darin, dass das menschliche Begehren nicht eindeutig von einem bestimmten Objekt ausgelöst und gesteuert wird. Wäre dies so, könnte man sich durch die entsprechende Verteilung der vorhandenen Objekte verständigen. Die Objekte haben für den Menschen ihren Wert aber nicht allein in sich, sondern sie werden wertvoll oder weniger wertvoll je nachdem, ob auch der andere sie begehrt oder nicht. Menschen ahmen einander im Begehren nach. Im nächtlichen Spuk von Shakespeares Sommernachtstraum ist Hermia, Lysanders Geliebte, auch für Demetrius begehrenswert, während er von Helena, die umgekehrt ihn liebt, nichts wissen will. Als jedoch Lysander Interesse an Helena zeigt, wird diese auch für Demetrius begehrenswert und Hermia bleibt unbeachtet. Erst das Morgengrauen verscheucht den komödiantischen Spuk, in dem Shakespeare jedoch eine tiefe menschliche Wahrheit gestaltet: Wenn Kinder in ein Spielzimmer kommen, wollen alle mit genau dem Spielzeug spielen, nach dem zuerst eines der Kinder ausgreift. Zwar haben alle Elemente der Wirklichkeit, materielle Dinge ebenso wie Pflanzen, Tiere und Menschen, eine „Ausstrahlung“, eine „übersteigende Dimension“, die sie existentiell begehrenswert macht. Doch diese „Ausstrahlung“ ist fluktuierend, vielfältig und oft nur latent wirksam. Erst wenn ich sehe, wie der Andere ein bestimmtes Objekt begehrt, wird meine Aufmerksamkeit für dieses Objekt geweckt, und ich werde von seiner „Ausstrahlung“ erfasst. Girard nennt dies das nachahmende oder „mimetische Begehren“.
Das mimetische Begehren entsteht dort, wo Menschen in einer Gruppe versammelt sind. Darwin äußerte die Vermutung, dass die Bedrohung durch Raubtiere Ursache dafür war, dass die Hominiden sich zu geselligen Tieren entwickelten.40 Denn für diese relativ leicht erbeutbaren Lebewesen kann letztlich nur der Zusammenschluss in einer Gruppe Schutz vor Raubtieren bieten, sofern diese eine in sich geschlossene Horde als großen Gesamtkörper sehen und nicht angreifen. Ehrenreich vermutet, dass die vor allem bei Kleinkindern feststellbare Trennungsangst hier ihren entwicklungsgeschichtlichen Ursprung hat. Das teilweise hysterische Schreien der Kinder, wenn sie sich alleingelassen fühlen, könnte seinen Ursprung darin haben, dass ein Moment des Alleingelassenwerdens für den Hominiden die unmittelbare Gefahr beinhaltete, von einem Raubtier gefressen zu werden.41
Der Zusammenschluss zur Horde beinhaltete jedoch auch die Gefahr des mimetischen Begehrens, das den einen zum Rivalen des anderen macht. Eine Situation dieser Art entsteht beim Angriff der Raubtiere. Eine von Raubtieren – Panthern, Löwen oder Leoparden – umzingelte Gruppe schließt sich eng zusammen, wobei die jüngeren Männchen den Rand der Gruppe bilden und mit Stöcken und Steinen die Raubtiere abzuwehren versuchen. Doch die Situation ist eine ungeheuere Anspannung der Nerven für die umzingelten Hominiden. Wenn bei zu langer Belagerung die Horde nach dem Motto „Rette sich wer kann!“ auseinanderstiebt, werden ein oder mehrere besonders schwache Mitglieder der Gruppe zur Beute der Raubtiere. Sie bilden das Opfer, das den anderen Flucht und Rettung ermöglicht.
Wahrscheinlich ist dies der Ursprung des Sündenbockmechanismus. Der frühe Mensch hat ja oft genug gesehen, dass das Opfer des einen oder einiger das Überleben und die Rettung der anderen ermöglichte. Früh schon kann sich bei den immer intelligenter werdenden Lebewesen das Verhalten entwickelt haben, eine solche „Rettung durch Opfer“ nicht dem Zufall zu überlassen, sondern sie selbst zu organisieren. Das Raubtier als Nahrungsspender und schicksalhafter Todbringer war ja Gottessymbol für den Menschen. Ihm ein Opfer darzubringen, das den anderen das Überleben ermöglicht, ist ein nahe liegender Gedanke. Bei der Auswahl des Opfers freilich entsteht eine mimetische Krise äußersten Ausmaßes. Denn jede und jeder spürt nicht nur bei sich selbst, sondern auch beim anderen den Wunsch zu überleben, so dass sich dieser Wunsch gleichsam ins Unendliche steigert. Der Wunsch ist bei jeder und jedem so stark und elementar, dass jeder Versuch, nach rationalen Kriterien – etwa Alter und Fitness – eine Auswahl zu treffen, scheitern muss. Die „Bestimmung“ des Opfers konnte deshalb nur so geschehen, dass völlig zufällig ein Mitglied der Gruppe – vielleicht nur durch eine Äußerlichkeit wie die Haarfarbe – die Aufmerksamkeit der anderen erregte und sich daraufhin alle auf ihn als den Sündenbock stürzten. In der Irrationalität dieses Vorgangs liegt wohl der Ursprung für die Brutalität und Grausamkeit, mit der Sündenböcke verfolgt und zu Tode gebracht werden; es geschieht dies als Mimesis des Raubtierverhaltens. Gleichzeitig jedoch liegt hier auch der Grund für die Tatsache, dass Sündenböcke, nachdem man sie gewaltsam getötet hat, nachträglich oft zu religiösen Ehren gelangen. Girard spricht von der Sakralisierung des Sündenbocks. Sie werden ja, wenn auch ungewollt, zu „Märtyrern“, die den anderen das Leben retten. Gleichzeitig sind sie stellvertretend für jeden oder jede aus der Gruppe gestorben; sie haben stellvertretend deren drohenden Tod auf sich genommen.