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IV. Auswirkungen der archaischen Gewaltvergöttlichung auf gesellschaftliche Strukturen und Verhaltensweisen

Blutrache und Krieg

Die Blutrache ist in der Menschheitsgeschichte wahrscheinlich der Ursprung lange andauernder Fehden und Kriege. Der Mensch lebte in dieser frühen Zeit nicht als Einzelwesen. Er war Teil einer Horde, die vor allem durch ihre weiblichen Mitglieder eine relativ enge Verwandtschaft darstellte. Außerhalb dieser Gruppe gab es für ihn in der von Raubtieren bevölkerten Umgebung keine Überlebenschance. Noch in der Neuzeit ist dieses Existenzgefühl unter den Naturvölkern bei den Mitgliedern mancher Stämme so stark ausgebildet, dass der Ausstoß aus der Gemeinschaft von ihnen als Todesurteil verstanden wird und sie auch ohne äußeren Eingriff nach relativ kurzer Zeit an depressiver Erkrankung sterben. Der durch die Tötung des Sündenbocks und durch die Großwildjagd erworbene göttliche Raubtierstatus eignet deshalb nicht dem Einzelnen, sondern der Gruppe, in der er lebt. Die in der Gruppe wirksamen großen Krieger und Jäger garantieren diesen Status für die Gruppe und haben deshalb auch ein entsprechend hohes Ansehen.

Da der göttliche Raubtierstatus – fiktiv – auch die Unsterblichkeit einschließt, ist jeder Tod, der in die Gruppe einbricht, eine Infragestellung dieses Seinsstatus. Er fordert dazu heraus, dass die Gruppenmitglieder durch ein erneutes möglichst wild-gewaltiges Tötungsverhalten diesen Status aufbauen und für die Gruppe garantieren. „Rache“ hat deshalb, wie die Rechtsgeschichte festgestellt hat, ursprünglich nicht die Bedeutung von „Vergeltung“.50 Dass es bei der Blutrache ursprünglich nicht um Recht und Gerechtigkeit geht, ergibt sich aus mehreren ethnologischen Beobachtungen, die nicht unter dem Aspekt der Vergeltung und des Rechts erklärbar sind.

So wurde bei einigen Stämmen beobachtet, dass der Racheakt ursprünglich ungerichtet ist. Es war nicht notwendig, einen Angehörigen der Sippe des Mörders oder den Mörder selbst zu töten, sondern nur, überhaupt zu töten. „Irgendein unglücklicher Fremder, der dem Rächer zufällig in die Hände läuft, ist dazu geeignet.“51 Es ging nicht um Schuld und Vergeltung, sondern darum, dass der angegriffene „göttliche“ Krieger- und Jägerstatus der Sippe neu aufgerichtet wurde. Bei vielen Stämmen wurde die Blutrache auch nicht nur durch Mord oder Totschlag ausgelöst, sondern auch dann, wenn ein Angehöriger der Sippe durch Krankheit, Unfall oder Alter starb. Für diese Gesellschaften war der Tod, wie immer er eintrat, ein Akt der Gewalt. Die im Kriegerstatus stehende Gruppe lebte in der Ideologie, sie und ihre Mitglieder seien unsterblich; es müssen deshalb magische Kräfte eines Feindes, eines Hexenmeisters oder eines bösen Geistes sein, die den Tod verursachen. So ist jeder Tod ein Angriff auf den als göttlich erachteten Seinsstatus der Gruppe, und diese musste diesen Status durch erneutes Töten wiederherstellen und dokumentieren.52

Vielfach galt ursprünglich auch keineswegs das sogenannte Talionsrecht „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, das um einen gerechten Ausgleich besorgt ist. „Wir sind stark“, sagte der Angehörige einer von Rache bedrohten Sippe im Rahmen einer soziologischen Feldstudie im heutigen Nordalbanien, „töten die einen von uns, töten wir zehn von denen“;53 und im Alten Testament dokumentiert Lamech, der Nachkomme Kains, seinen hohen Rang, indem er sagt: „Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach“ (Gen 4,24). Je höherrangig der Verstorbene war – gleichgültig durch welchen Tod er gestorben war –, desto stärker müssen die betroffene Sippe oder der betroffene Stamm neu ihre Tötungsgewalt demonstrieren: In Homers Ilias tötet Achill bei der Bestattung seines gefallenen Freundes Patroklos mit eigener Hand zwölf gefangene Trojaner und eine Unmenge von Rindern, Schafen und Ziegen; von einigen Aztekenherrschern wird erzählt, dass bei ihrem Tod und bei der Krönung des Nachfolgers eigene Kriege geführt wurden, um Gefangene zu machen, denen dann zu Hunderten das Herz aus der Brust gerissen wurde.54 Hier geht es nicht um ausgleichende Vergeltung, sondern um die möglichst starke Festigung des eigenen als göttlich erachteten Jäger- und Kriegerstatus. Deshalb erfolgt die Blutrache-Tötung auch stets durch direkte, allen sichtbare Gewaltanwendung; die typische Tötungswaffe ist das Messer, der gebogene Dolch, der an die Reißzähne des Raubtiers erinnert. Einen anderen heimlich zu vergiften, ist keine Ausübung von Blutrache.

Völlig unverständlich im Sinne des herkömmlichen Begriffs von „Rache“ erscheinen Berichte von den Trobriandinseln oder auch von westafrikanischen Stämmen, wonach eine mögliche Form der Blutrache darin besteht, dass der Rächer sich selber tötet.55 Hier ist mit Händen greifbar, worum es bei der Blutrache ursprünglich ging: Der in die Sippe eingebrochene Tod muss durch eigenes Töten kompensiert werden; wer dabei getötet wird, spielt eine untergeordnete Rolle. Worauf es ankommt, ist, gewaltsam zu töten. Die Mentalität heutiger Selbstmordattentäter ist eine Regression in diese archaischen Denk- und Verhaltensmuster.

Oft entwickeln sich aus Blutrache-Konflikten größere, über mehrere Generationen hinweg andauernde Blutfehden. Bei dieser Ausweitung des Konflikts wird im Laufe der Zeit meistens nach einem unblutigen Ausgleich – etwa durch Zahlung eines Wergeldes – gesucht. In geschichtlicher Zeit werden Kriege meistens dadurch ausgelöst, dass ein Herrscher seinen Machtanspruch ausweiten will und auf Eroberung auszieht. Dabei stößt er das eroberte Volk zurück in den Beutetierstatus. Die unterworfenen Menschen werden versklavt, bilden so aber eine ständige Quelle möglichen Aufruhrs, der wiederum brutal niedergeschlagen werden muss. Einmal begonnen, entwickelt jeder Krieg bei Siegern wie Besiegten eine eigene, nur noch schwer aufzuhaltende Dynamik der Gewalt. In der blutigen Schlacht, im Sturmangriff, im vernichtenden Bombardement der Städte entwickelt sich ein Tötungs- und Vernichtungsrausch, der den Krieger und Soldaten erst zu seinem Tun befähigt. In diesem Vernichtungsrausch ereignet sich die jahrhunderttausendealte Verwandlung des Menschen aus dem Beutetier- in den göttlichen Raubtierstatus, der Unsterblichkeit suggeriert. In der Schlacht und im Sturmangriff „sterben“ die Soldaten nicht; sie „fallen“. Nach germanischer Mythologie werden sie, Sieger wie Besiegte, direkt vom Schlachtfeld weg von den Walküren nach Wallhall getragen, wo sie am Festmahl der Götter teilnehmen. Nur durch diesen letztlich religiös begründeten Tötungsrausch funktioniert der Krieg.

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