Читать книгу Gewalt in den Weltreligionen - Georg Baudler - Страница 16
Initiation als Verwandlung zum Raubtier
ОглавлениеDabei muss zunächst ein Blick auf die in allen archaischen Religionen – mehr oder weniger stark – ausgeprägte Initiation der männlichen Jugendlichen geworfen werden. Mircea Eliade beschreibt als Grundmuster aller archaischen Initiationsprozesse dieser Art die Verwandlung des Jugendlichen in ein Raubtier. In Australien wie in Afrika und in anderen Erdteilen werden die göttlichen Wesen, die in den Initiationszeremonien wirksam sind, meistens als wilde Tiere dargestellt. In Afrika sind vor allem Löwen und Leoparden die Initiationstiere, in Südamerika Jaguare, in Ozeanien Krokodile und Meeresungeheuer. Besonders in den afrikanischen Initiationszeremonien kommt auch für Eliade deutlich zum Ausdruck, dass die Initiation auf die archaische Kultur der Jäger zurückgreift.45 Eliade sieht dies besonders in der weltweit verbreiteten Initiationszeremonie der Beschneidung. Er sieht in ihr ein symbolisches Kastriert- und Getötetwerden. Die Initiationsmeister, welche die Operation ausführen, sind mit Löwen- und Leopardenfellen bekleidet und mit Tierkrallen ausgerüstet. Die Messer, mit denen sie auf die jungen Menschen losgehen, sind krallenförmig gebogen. Die Initiationsmeister werden manchmal „Löwen“ genannt; sie verkörpern Gottheiten in Gestalt von Raubtieren. Die Beschneidung wird durch das Verb „töten“ ausgedrückt. Nach der Beschneidung werden die Jugendlichen selbst mit Leoparden- oder Löwenfellen bekleidet und in die Gruppe der Jäger und Krieger aufgenommen. Sie haben sich dem göttlichen Wesen der in der Initiation wirkenden Raubtiergottheiten angeglichen.46
Das Ziel der Initiation ist der Wandel vom Beutetierstatus in den Raubtier-, Krieger- und Jägerstatus. Vor der Initiation ist der Jugendliche noch in der Sphäre und Fürsorge der Mutter beheimatet. Muttersymbol und Raubtiersymbol sind hier deutlich voneinander abgegrenzt. Der Initiationsvorgang beginnt damit, dass der Jugendliche aus dem mütterlichen Bereich herausgenommen wird. Häufig geschieht dies sehr hart und gewalttätig. Die Jugendlichen werden vom Dorf weg in den Urwald hineingeführt und in einer Initiationshütte eingeschlossen. Oft bleiben sie dort mehrere Wochen lang. Der Eingang zur Initiationshütte ist manchmal wie der geöffnete Rachen eines Raubtiers gestaltet; d. h., die Jugendlichen werden symbolisch vom Raubtier verschlungen. In der Hütte selbst werden sie harten Proben und Maßnahmen unterzogen. Sie müssen fasten, Schläge und Schmerzen verschiedener Art erdulden. Ein Beispiel ist die Beschneidung. Bei anderen Stämmen werden dem Jugendlichen Zähne ausgeschlagen. Der Einfluss der Mutter soll möglichst radikal getilgt werden. Bei manchen Stämmen bekommen die Jugendlichen neue Namen und wissen nach ihrer Initiation offiziell nicht mehr, aus welcher Familie sie ursprünglich stammen und wer ihre Mutter ist. Hermann Schulz spricht in seinem Buch Stammesreligionen bei den Initiationsriten von symbolischen Identitäts-Transformationen: „In diesen formen die Väter die Söhne ritualsymbolisch zu Männern um und töten die kindliche, eng mit den Müttern verwobene Identität.“47
Auch der Schamanismus ist unter diesem Aspekt zu sehen. Die Initiation zum Schamanen dauert noch wesentlich länger als die gewöhnliche Initiation und beinhaltet ein Übermaß an Stress und Zerreißproben. Tagelang, oft durch Drogeneinnahme bewirkt, liegt der künftige Schamane wie tot am Boden und erfährt dabei seine Einweihung. Er wird von dämonischen, fratzenhaften Ungeheuern zerrissen, zerstückelt, gekocht. Er erleidet seine völlige Auflösung. Im zweiten Teil der Initiation wird er zu einer neuen Identität zusammengefügt. Auf seiner magisch-visionären Initiationsreise hat er alle Übel, Qualen und Krankheiten der Menschen an sich selbst erlitten und kann, von dieser Reise zurückgekehrt, nun mit diesen umgehen und sie auch bei anderen Stammesmitgliedern bekämpfen. Krankheiten und Übel sind in diesem Verständnis als gefährliche Tier-Geister gesehen, und der Schamane ist der Bändiger dieser Geister-Tierwelt, der sie durch seine Rituale in Schach hält oder vertreibt.
Natürlich wäre es falsch, archaische Religiosität nur unter diesem Gewalt-und Raubtieraspekt zu sehen. Immer ist in ihr – einmal weniger, einmal stärker – auch das Muttersymbol wirksam. Es verbindet sich auf verschiedenartige und oft sehr diffizile Weise mit der Gewaltsymbolik. Das Wirken des Schamanen, auch wenn es teilweise mit Hilfe gewaltverhafteter Rituale – etwa in Form einer Dämonenaustreibung – geschieht, steht im Ganzen doch unter dem Aspekt der Fürsorge. Schon der Zusammenschluss der Hominiden zu einer Gruppe zur Abwehr der Raubtierbedrohung ist eine Verstärkung der Muttersymbolik, auch wenn sich in dieser Gruppe die Sündenbock-Jagd als Initialzündung zur Verwandlung des Hominiden in den Raubtier-Status entwickelte. Auch wird zusammen mit der Initiation das mythische und lebenspraktische Wissen des Stammes von Generation zu Generation weitergegeben und damit die Gemeinschaft gestärkt und erhalten.
Dennoch zeigen die angeführten teilweise recht drastischen Methoden der Initiation sowie deren Grundstruktur, dass die Verwandlung des noch in die Muttersphäre eingebundenen männlichen Jugendlichen in einen Jäger- und Stammeskrieger, also die Verwandlung vom Beutetier-Status in den Raubtier-Status, eine harte und mühselige Arbeit ist, die zielstrebig angegangen werden muss. Religiös-kulturelle Vorstellungen und Techniken müssen Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster schaffen, die von der natürlichen Evolution her nicht im Hominiden angelegt sind und die der ebenfalls wirksamen Muttersymbolik entgegenlaufen. Nachdem diese Arbeit überall auf der Erde – bei manchen Stämmen ausgeprägter, bei anderen eher unterschwellig – seit Jahrhunderttausenden ausgeübt wurde und nachdem sich die entsprechenden Verhaltensmuster in allen Lebensbereichen und auf eine unübersehbar vielfältige Art und Weise herausgebildet haben, kann tatsächlich der Eindruck erwachsen, Gewalttätigkeit und zerstörerische Aggressivität gehörten „naturgegeben“ zum Menschsein. Jetzt ist klar, dass eine Frau „erobert“, eine erwünschte Situation scharf „ins Visier genommen“ und „strategisch“ angegangen werden muss, wobei wie im Krieg auf Gefühle kaum Rücksicht genommen werden kann. Auch dort, wo die Lebensbezüge heute nicht im Entferntesten etwas mit Religion zu tun haben, etwa in der Wirtschaft, denken, fühlen und handeln wir in ihnen doch nach Mustern, die vom Ursprung her religiös-kulturell geprägt sind. Bis in seine intimsten Träume hinein ist der Mensch ein geschichtliches Wesen.