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B.
Das Wirken der gewaltfreien Gottessymbolik
Wenn auch als homo erectus vor etwa 1,7 Millionen Jahren zu einem mit Lanze, Speer und Faustkeil bewehrten künstlichen Super-Raubtier geworden, hat der Mensch doch seine noch früheren, in der Mutter-Kind-Beziehung begründeten Ursprünge niemals und an keinem Ort der Erde völlig vergessen. Immer und überall ist in der Menschheitsgeschichte eine zwar leise, aber doch kraftvolle Faszination auch anderer Art am Werk als die Gewaltsymbolik sie ausstrahlt. Unablässig wirkt diese Macht im religiösen wie im profanen Raum und in der religiösen Phantasie und zielt hin auf eine Reduzierung der Gewalt und des Schreckens.
Selbst in der gewaltverhafteten, durch exzessive Menschenopfer geprägten Gesellschaft der Azteken ist deutlich die Sehnsucht, ja das konkrete Bemühen greifbar, hinter die nur mit Opfer und Schrecken zu besänftigenden Gottheiten zurückzugehen, um zu einem gewaltfreien Raum des Lebens vorzudringen. So ist der Reformversuch des Herrschers Nezalhualcoyotl (1431–1472) dokumentiert, der alle Gottheiten, die Opfer fordern, als Dämonen bezeichnete. Diesen stellte er den immer auch im Volk (ohne Opfer) verehrten fernen Hochgott Ipalnemoa als den einzig wahren Gott gegenüber als den einen Gott und Schöpfer aller Dinge, der im Gebet sowohl als Vater wie auch als Mutter angerufen wird und keines Opfers bedarf.
Überall in den Völkern und Religionen gibt es die Sehnsucht nach dem kommenden Friedensfürsten, die korrespondiert mit der Erinnerung an eine friedliche Vorzeit, ein goldenes Zeitalter, ein Paradies. Gerade wenn gewalthafte Strukturen das Leben prägen und einschnüren, wachen diese Kräfte, Erinnerungen, Hoffnungen und Sehnsüchte auf. 1973, als die Welt noch in zwei ungeheuere Machtblöcke gespalten war, die mit ihrem angehäuften Vernichtungspotenzial die Menschheit mehrfach vernichten konnten, versammelten sich die Angehörigen aller Religionen und Nationen, vom indianischen Schamanen über den Dalai-Lama bis hin zum römischen Papst in Assisi, um dort auf je ihre Weise um den einen Frieden für alle zu beten: ein sinnfälliges Zeichen des Wirkens der Muttersymbolik. So ist es wohl auch zu erklären, dass sich im Zeitraum von 800–200 v.Chr., als überall auf der Welt härteste patriarchale Gewaltstrukturen die zaghaft in der Zeit der Sesshaftwerdung auftauchenden matriarchalen Traditionen scheinbar endgültig zugeschüttet und zum Vergessen gebracht hatten, aus diesem Patriarchat selbst heraus diese alten Kräfte neu sich regten und in den verschiedensten Kulturen unabhängig voneinander an einem neuen gewaltfreien Denken, Fühlen und Leben arbeiteten.
Die denkerische Suchbewegung des Menschen dieser Zeit geht unabhängig voneinander überall in den betroffenen Hochkulturen in diese Richtung. Bei Konfuzius, Laotse, Buddha sowie bei den griechischen Philosophen und Tragödiendichtern tritt dabei die Gottesfrage in den Hintergrund. Gott ist ja in ihrer Welt und Zeit der blutige Opfer fordernde Gott der Gewalt, den zu verlassen ihr Denken und Handeln bemüht ist. Dennoch ist es geschichtlich gesehen falsch, diese geistigen Aufbrüche der Menschheitsgeschichte als „bloßen Humanismus“ und als „Philosophie“ dem religiösen Denken gegenüberzustellen. Es ist zwar ein anderes, aber ebenfalls genuin religiöses Denken, gespeist von einer anderen Symbolerfahrung als der des Stier- und Raubtiergottes. Wie schon erwähnt, haben alle fünf großen Weltreligionen, deren Gewaltpotenzial zu untersuchen ist, ihren Ursprung in diesen geistigen Aufbrüchen. Das gilt sowohl für die in Indien und China aufbrechenden fernöstlichen Traditionen, die sich im Hinduismus und Buddhismus als Weltreligionen auskristallisieren, als auch für die nahöstliche Tradition, die in die monotheistischen Abrahamreligionen Judentum, Christentum und Islam mündet. Alle diese Religionen sind Kinder jener neuen humanistischethisch geprägten Impulse, wie sie unabhängig voneinander in den Hochkulturen der Erde um die Mitte des ersten Jahrtausends vor Beginn der christlichen Zeitrechnung aufbrechen. Karl Jaspers sieht in dieser Zeit den „tiefsten Einschnitt“ der Menschheitsgeschichte.60 Er nennt sie „Achsenzeit“. In ihr, sagt er, „wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben“61.
Im Folgenden soll die Geschichte dieser geistigen Aufbrüche verfolgt werden. Abgesehen vom Konfuzianismus und Taoismus, die heute keine Weltreligionen mehr darstellen, sowie vom geistigen Aufbruch in der griechischen Antike, ist dies gleichzeitig die Geschichte der Entstehung der heutigen fünf großen Weltreligionen; diese sollen dann im letzten Teil der Studie als Phänomene betrachtet und auf das in ihnen noch enthaltene archaische Gewaltpotenzial hin befragt werden.