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Zum Behinderungsverständnis nach ICF
ОглавлениеWährend die ICD auf ein international einheitliches Vorgehen zur Klassifizierung und Diagnoseerstellung von psychischen Störungen zielt, geht es der ICF um deren Auswirkungen in Bezug auf Lebensqualität und Möglichkeiten der Lebensgestaltung und gesellschaftlichen Teilhabe. „Die ICF basiert damit auf einem bio-psycho-sozialen Modell, das heißt, dass biologisch-medizinische Aspekte ebenso und gleichberechtigt betrachtet werden wie psycho-soziale Faktoren, die für den jeweiligen Menschen von Bedeutung sind” (Seidel 2020, 31). Beide Systeme sollen sich ergänzen und gemeinsam benutzt werden: „Informationen über Diagnosen (ICD-10) in Verbindung mit Informationen über die Funktionsfähigkeit (ICF) liefern ein breiteres und angemesseneres Bild über die Gesundheit von Menschen oder Populationen, welches zu Zwecken der Entscheidungsfindung herangezogen werden kann“ (WHO 2005, 10).
Das Konzept der ICF beleuchtet nicht nur die Schädigung der Person, sondern zeigt eine mehrperspektivische Sicht auf, indem es vier zentrale Komponenten unterscheidet und deren Wechselwirkungen reflektiert.
Die vier Komponenten der ICF
(1) Körperfunktionen (physiologisch, psychisch) und -strukturen (z. B. Gliedmaßen, Organe)
Aus der Aufbereitung dieses Bereichs gehen physisch-biologische Beeinträchtigungen einer Person hervor (z. B. in Bezug auf körperliche oder mentale Funktionen);
(2) Aktivitäten
Eine Aktivität ist das, was eine Person tut (gehen, eine Aufgabe durchführen, mit anderen interagieren...); dieser Bereich liefert ein breites Profil der Funktionsfähigkeit einer Person z. B. im Hinblick auf soziale Kommunikationen oder Alltagsbewältigung; daraus ergibt sich zugleich die Frage, welche Formen der Unterstützung (Assistenz) notwendig sind, um das Aktivitätsniveau einer Person zu verbessern;
(3) Partizipation
Hier geht es um die Frage, inwieweit die aktiven Teilhabemöglichkeiten einer Person an verschiedenen Lebensbereichen durch die Auswirkung des Zusammenspiels von biologischer Schädigung, Aktivitätseinschränkungen und Kontextfaktoren (unterteilt in Umwelt- und personenbezogene Faktoren) beeinträchtigt werden;
(4) Kontextfaktoren
beziehen sich auf die soziale und materielle Umwelt (z. B. Barrieren in Bezug auf Teilhabemöglichkeiten), auf verschiedene Systeme (Wirtschaft, soziale Dienste), unterschiedliche Lebensbereiche sowie auf personenbezogene Faktoren (z. B. persönliche Daten; Eigenschaften, die nicht gesundheitliche Aspekte betreffen).
Bemerkenswert ist, dass die ICF keine Personen klassifiziert, sondern Situationen beschreibt. Demnach gehört es der Vergangenheit an, Behinderung und spezifische Störungen zu individualisieren. Stattdessen wird von einem reziproken, dynamischen Zusammenwirken bio-psycho-sozialer Faktoren ausgegangen. Dabei wird Behinderung (disability) als „Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit“ (DIMDI 2005, 4) gesehen, um Lebenssituationen zu bewältigen und am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. In diesem Zusammenhang geht es immer um die Einschätzung der Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Person und Umwelt. Dadurch wird zugleich anerkannt, dass Lebenswelten die Funktionsfähigkeit einer Person sowie ihre Partizipationsmöglichkeiten unterstützen oder beeinträchtigen können. Mit der Komponente der Partizipation (hierzulande übersetzt als „Teilhabe“; WHO 2005, 4) kommt ein von der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen kodifiziertes Leitprinzip zum Tragen, welches für ein gleichberechtigtes Leben behinderter Menschen in der Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Vor diesem Hintergrund kann die ICF als „ein Werkzeug der Inklusion“ (Seidel 2020, 35) betrachtet werden.
Dennoch gibt es auch kritische Stimmen, die die überdimensionierte medizinische Komponente der „Körperfunktionen und -strukturen“, die Einordnung personenbezogener Faktoren unter Kontextfaktoren, die unzureichende Berücksichtigung sozial bedingter Lernschwierigkeiten (intellektueller Entwicklungsstörung) sowie die Vernachlässigung kontextbezogener Maßnahmen (z. B. Verbesserung von Lebens- und Arbeitsbedingungen, Auflösung von Heimen, Aufbau sozialer Netze) gegenüber der Priorisierung individuumzentrierter (funktionsorientierter) heilpädagogischer oder therapeutischer Interventionen bemängeln (vgl. Theunissen 2021b). Genau an dieser Stelle sollten die Chancen der ICF nicht verspielt werden, auch wenn die rechtlich kodifizierte ICF-Orientierung der Bedarfserhebungsinstrumente für die Gesamt- und Teilhabeplanung nach dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) gut gemeint sein sollte.
Den Aspekt der personenzentrierten Bedarfserhebung mit Blick auf Teilhabekriterien greift A. Seidel (2020) auf, wenn er jenseits der Vorzüge für behinderte Menschen Vorteile der ICF für Menschen aus dem Autismus-Spektrum beschreibt. Allerdings gibt es Anwendungsprobleme der ICF, die vor allem die Kategorienvielfalt der medizinischen Komponente und die Passung für Autismus betrifft. Diesem Problem haben sich Bölte und Team (2019) gestellt, indem sie sogenannte ICF-Core Sets erschlossen und validiert haben, die sich auf Kategorien beziehen, die für Autismus relevant sind. In dem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass das autismusspezifische ICF-Core Set im Unterschied zum ICF-Original nicht nur für die Anwendung verkleinert, sondern zugleich in den Kategorien „Aktivitäten” und „Partizipation” sowie im Bereich der „Kontextfaktoren” wesentlich erweitert wurde. „Vielleicht sahen die teilnehmenden Expert*innen in der Entwicklung der ICF Core Sets für ASS (Autismus-Spektrum-Störung, d. A.) die Möglichkeit, eine ganzheitlichere Perspektive durch die Integration persönlicher, sozialer und kontextbezogener Aspekte eines Individuums zu erreichen” (ebd., 463). Auf jeden Fall ist damit der Kritik an der ICF Rechnung getragen worden, und es bleibt abzuwarten, ob sich das Autismus Spektrum Core Set mit seinem deutlichen personen- und lebensweltbezogenen Fokus als standardisiertes Assessment für Autismus bewährt.