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Zur Klassifikation von „Intellektueller Entwicklungsstörung/Intelligenzminderung” nach DSM-5 und ICD-10/ ICD-11

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Im DSM-5 wird „intellectual disability (intellectual developmental disorder)“ unter drei zentralen Gesichtspunkten aufbereitet:

1. Im Hinblick auf Defizite in der „intellektuellen Funktionsfähigkeit“ (intellectual functioning)

Das betrifft vor allem logisches, problemlösendes und abstraktes Denken, Planen, Urteilen, akademisches und experimentelles Lernen, Lernen aus Erfahrung oder Beobachtung. Zur Erfassung der „intellektuellen Funktionsfähigkeit“ werden neben einem klinischen Assessment und Intelligenztests gleichfalls soziale Einflussfaktoren (sozio-kultureller Hintergrund, Muttersprache) sowie zusätzliche kommunikative, motorische oder sensorische Beeinträchtigungen mit in Betracht gezogen.

2. Im Hinblick auf Defizite in der „adaptiven Funktionsfähigkeit“ (adaptive functioning)

Hier geht es um die Erfassung von Beeinträchtigungen im:

(1) Konzeptionellen Bereich, bezogen auf sprachliche Fähigkeiten, Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen, Urteilsfähigkeit, Wissen und Gedächtnisleistung;

(2) Sozialen Bereich, bezogen auf Kompetenzen wie Empathie, Erfassung und Beurteilung sozialer Situationen, zwischenmenschliche Kommunikation, Bildung und Pflege von Freundschaften u.a.m.;

(3) (Alltags-)praktischen Bereich, bezogen auf Selbstmanagement bzw. Selbstversorgung (persönliche Pflege), verantwortliches Arbeitsverhalten, Umgang mit Geld, Freizeitgestaltung oder Erfüllung bestimmter Pflichten wie Schularbeiten oder Arbeitsaufgaben.

Das entsprechende Assessment soll wiederum breit angelegt sein, Skalen zur Einschätzung des adaptiven Verhaltens, anamnestische Gespräche und Informationen von Bezugspersonen beinhalten.

3. Im Hinblick auf einen zeitlichen Aspekt, indem sich eine intellectual disability zwar nicht auf einen bestimmten Altersabschnitt beschränkt, ihre Symptome aber während der Entwicklungsphase (i. d. R. bis Ende der Pubertät bzw. zum 18. Lebensjahr) entstanden sein müssen. Anderenfalls handelt es sich um eine „neurokognitive Störung“ (dazu Kapitel II).

Wurde im DSM-IV „ mental retardation“ in erster Linie am Intelligenzquotienten festgemacht, hat sich das DSM-5 davon verabschiedet, indem es die Diagnose einer „intellectual disability“ auf der Grundlage eines umfassenden Assessment in Bezug auf Einschätzung der Intelligenz und der drei Bereiche der „adaptiven Funktionsfähigkeit“ erstellt. Dabei muss die Funktionsfähigkeit mindestens in einem Bereich unter der durchschnittlichen Altersnorm liegen. Um Kriterien für die Diagnose zu erfüllen, müssen zudem die Defizite der „adaptiven Funktionsfähigkeit“ einen direkten Bezug zu Defiziten der „intellektuellen Funktionsfähigkeit“ aufweisen (vgl. APA 2013, 38). Ebenso wird der Schweregrad nicht mehr durch IQ-Messungen, sondern auf der Basis der Einschätzung der Intelligenz in Bezug auf die „adaptive Funktionsfähigkeit“ vorgenommen, weil dieser Bereich für Unterstützungsleistungen besonders bedeutsam ist.

Wie bei Autismus sind ebenso die diagnostischen Kriterien in Bezug auf „intellectual disability” im DSM-5 defizitär beschrieben. Das entspricht gleichfalls den Ausführungen im derzeit noch angewandten Klassifikationssystem ICD-10, welches „Intelligenzminderung“ (synonym für „geistige Behinderung“) als „eine sich in der Entwicklung manifestierende, stehen gebliebene oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, die zum Intelligenzniveau beitragen, wie z. B. Kognition, Sprache, motorische und soziale Fertigkeiten“, definiert (Dilling u.a. 1993, 254). Darüber hinaus werden Anpassungsmöglichkeiten berücksichtigt, die eine konzeptionelle Erweiterung der traditionellen, am Intelligenzquotienten (IQ) orientierten Sicht bedeuten: „Das Anpassungsverhalten ist stets beeinträchtigt, eine solche Anpassungsstörung muss aber bei Personen mit leichter Intelligenzminderung in geschützter Umgebung mit Unterstützungsmöglichkeiten nicht auffallen“ (ebd., 254). Gleichwohl sieht die ICD-10 eine Einteilung der „Intelligenzminderung“ in vier Schweregrade vor:

(1) leichter Grad (IQ 50/55-70/75)

(2) mäßiger/mittelschwerer Grad (IQ 35/40-50/55)

(3) schwerer Grad (IQ 15/20-35/40)

(4) schwerster Grad (< IQ 15/20)

Eine solche Einteilung war bislang für psychiatrische Klassifikations- oder Diagnosesysteme nicht ungewöhnlich. Sie führt uns vor Augen, dass aus klinischer Sicht „geistige Behinderung” bereits unterhalb des IQ-Wertes von 75/70 angesetzt wird. Daran hat sich im internationalen Raum mit dem Austausch des Begriffs „mental retardation” durch „intellectual disability” nichts geändert.

Im deutschsprachigen Raum gibt es hingegen eine Irritation, die die Verständigung und einen Vergleich mit anderen Ländern zum Teil erheblich erschwert. Denn hierzulande wurde mit Einführung von Hilfsschulen, die später als Lernbehindertenschulen umbenannt wurden, eine Gruppe der sogenannten lernbehinderten Schüler*innen konstruiert, von denen „etwa 30 Prozent (…) aus internationaler Sicht als intellektuell behindert bezeichnet werden könnten” (Geiling & Theunissen 2009, 340 [kursiv im Original]). Das bedeutet, dass in Deutschland „geistige Behinderung” aus IQ-bezogener Sicht enger (nämlich erst unterhalb von IQ 60/55) als üblicherweise gefasst wird und dass für IQ-Werte im Rahmen der „leichten Intelligenzminderung” die Bezeichnung „Lernbehinderung” benutzt wird.

Dieser Begriff wirkt auf den ersten Blick weniger diskriminierend als „geistige Behinderung”, dennoch hat er zu einer erheblichen Stigmatisierung und negativen Konnotation geführt, da „etwa 80 bis 90 Prozent aller lernbehinderten Kinder und Jugendlichen in sozial benachteiligten Milieus leben” (ebd., 340). Hinzu kommt, dass „Lernbehinderung” letztlich nur im schulischen Bereich geläufig ist und nicht wie „geistige Behinderung” im System der Eingliederungshilfe (SGB IX, XII; BTHG) verankert wurde. Dies hat in den letzten Jahren dazu geführt, Absolvent*innen von Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen (sogenannten Lernbehindertenschulen) von „lernbehindert” zu „geistig behindert” umzudefinieren oder mit „Summationsdiagnosen” (Wüllenweber 2012, 95) zu versehen (Lernbehinderung plus schwere Störungen im Sozialverhalten oder seelische Behinderungen). Dadurch sollen mit einer sogenannten „wesentlichen Behinderung” die gesetzlichen Bestimmungen zur Aufnahme in eine Werkstatt für behinderte Menschen erfüllt werden. An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass es bei den genannten Leitbegriffen nicht um objektive Tatbestände, sondern stets um Zuschreibungen handelt.

Darüber sollten wir uns grundsätzlich bewusst sein, auch wenn die Weltgesundheitsorganisation mit der ICD-11 den Begriff der „Intelligenzminderung” sowie die statische Einteilung in verschiedene Schweregrade aufgegeben hat und nunmehr den Begriff der „disorders of intellectual development“ benutzt. Diese „Störungen der intellektuellen Entwicklung” werden wie beim DSM-5 den „neurodevelopmental disorders“ (neurologischen Entwicklungsstörungen) zugeordnet und folgendermaßen definiert:

„Störungen der intellektuellen Entwicklung (disorders of intellectual development) sind eine Gruppe von ätiologisch unterschiedlichen Gesundheitszuständen (conditions), die während der Entwicklungsperiode (developmental period) entstehen und gekennzeichnet sind durch ein signifikant unterdurchschnittliches intellektuelles Funktionsniveau (intellectual functioning) und adaptives Verhalten (adaptive behavior), das etwa zwei oder mehr Standardabweichungen unter dem Durchschnitt ist (weniger als ca. die 2,3 Perzentile), erfasst über angemessene, normierte, individuell angewandte, standardisierte Testverfahren (appropriately normed, individually administered standardized tests). Wo angemessen normierte, individuell angewandte standardisierte Testverfahren nicht verfügbar sind, benötigt die Diagnose einer intellektuellen Entwicklungsstörung eine größere Verlässlichkeit (reliance) des klinischen Urteils, das auf eine angemessene Erhebung vergleichbarer Verhaltensmarker (behavioral indicators) basiert“ (Übersetzung nach Sappok, Georgescu & Weber 2019, 19).

Im Prinzip ähnelt die ICD-11 dem Klassifikationssystem DSM-5, indem die intellektuelle Leistungsfähigkeit und das adaptive Verhalten mit Hilfe standardisierter Verfahren zur Bestimmung einer „intellektuellen Entwicklungsstörung” aufbereitet werden sollen. Da es sich um psychiatrische Systeme handelt, durch die Leistungsansprüche im Gesundheits- und Sozialwesen sichergestellt werden sollen, fokussieren die Ausführungen eine Störungsperspektive und Defizitorientierung. Dabei vernachlässigen sie „die Vielfalt von menschlichen Lebensmöglichkeiten” (Sappok 2018a, 20) sowie den Aspekt der Teilhabeeinschränkung. Daher wurde von der Weltgesundheitsorganisation als Ergänzung zum Klassifikationssystem ICD das Konzept der ICF (International Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) entwickelt, welches einem modernen Verständnis von Behinderung Rechnung trägt.

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