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(8) Emotionale Besonderheiten

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Diese sieben Merkmale wurden von uns in den letzten Jahren als Autismus-Spektrum-Konzept tiefgreifend unter Berücksichtigung von Innen- und Außensichten weiter ausgearbeitet (vgl. Theunissen 2020). Darüber hinaus wurde noch ein achter Aspekt hervorgehoben, der emotionale Besonderheiten betrifft (vgl. Theunissen & Sagrauske 2019, 61 ff.). Dieses Merkmal tritt bereits in den Erstbeschreibungen über Autismus recht deutlich zutage, ferner wird es aber auch von einigen autistischen Personen beschrieben. Aus der Vielfalt der emotionalen Besonderheiten möchten wir zunächst eine autistischen Kindern und Jugendlichen oftmals nachgesagte „Gemütsarmut“ oder „Gefühlskälte“ aufgreifen, die nach H. Asperger (1944, 121) mit raffinierten „Bosheitsakten“ verknüpft sein kann (bewusstes Wehtun anderer). Ein solches Verhalten kann eine Form von Bestrafung in Anbetracht eines Regelverstoßes sein. Nicht selten ist es aber eine Reaktion auf Ablehnung, Hänseleien oder Denunzierung, die von nicht-autistischen Kindern oder anderen Personen ausgehen. Darunter haben Menschen aus dem Autismus-Spektrum erheblich zu leiden.

Dass autistische Personen wie andere Menschen Emotionen zeigen können, sollte unstrittig sein. So zieht Michaela Hartl (2010, 142) aus ihrer Forschungsarbeit den Schluss:

„Auf ein eingeschränktes, wenig differenziertes Repertoire an Emotionen im Erleben von Menschen mit Autismus kann nicht geschlossen werden. Die Analyse der Texte hat gezeigt, dass Menschen mit Autismus nicht weniger unterschiedliche Emotionen kennen und erleben können wie andere Menschen auch. Sie empfinden nicht nur Freude und Traurigkeit, Ärger und Angst oder Zuneigung, sondern viel mehr sehr differenzierte Emotionsqualitäten und unterscheiden in ihren Berichten auch Nuancen ähnlicher Gefühle wie Vertrauen und Liebe oder Freude, Glück und Begeisterung.“

Jedoch fällt es vielen schwer, eigene Gefühle einzuordnen, zu zeigen, zu kommunizieren oder zu kontrollieren. Das betrifft z. B. P. Schmidt, der über seine „Blindheit für eigene Gefühle“ (Schmidt 2020, 36) berichtet. Ebenso bestehen Schwierigkeiten, insbesondere komplexe Gefühle (Trauer, Scham o. Ä.) anderer Personen zu erspüren. Einfache Emotionen wie Freude, Ärger oder Wut werden hingegen leichter erfasst. Für P. Schmidt, der die Gefühle nicht-autistischer Personen kaum nachvollziehen kann, ist es daher „ganz wichtig, dass andere Menschen ihre Emotionen verbal mitteilen“, wenn sie sicherstellen wollen, dass er bzw. ein betroffener autistischer Mensch ihren emotionalen Zustand verstanden hat (ebd., 44).

Ein auffälliges Moment sind unwillentliche Gefühlsausbrüche mit mangelnder Impulskontrolle, die als „Meltdown“ bezeichnet werden. Demgegenüber gibt es auch den „Shutdown“, indem sich eine autistische Person in eine Zimmerecke begibt, sich eine Decke über den Kopf zieht, emotional abschaltet, erstarrt und eine Weile (bis hin zu mehreren Stunden) nicht ansprechbar ist (vgl. ebd., 57 ff.; Vero 2020, 84 ff.).


Pädagogischer Hinweis

Bei einem Meltdown, der im Unterschied zu einem Wutanfall unbeabsichtigt geschieht, oft aus Reizüberflutung resultiert und mit Verzweiflung einhergeht, am besten Ruhe bewahren, sich und andere in Sicherheit begeben, abwarten und dann behutsam einen validen Kontakt zur Person herstellen sowie ein klärendes Gespräch (Nachbereitung) anbieten. Ähnlich sollte bei einem extremen sozialen Rückzug (Shutdown) verfahren werden. Ferner sollten Möglichkeiten einer Stressprävention erkundet und in ein Unterstützungsprogramm eingearbeitet werden. Im Hinblick auf emotionales Lernen bietet sich für autistische Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen das Software-Programm „Transporters“ (www.thetransporters.com) an. Dieses enthält kleine Geschichten von personifizierten Fahrzeugen, die durch zugängliche Bilder und in einfacher Sprache emotionales und soziales Lernen ermöglichen (weitere Anregungen siehe Hartl 2010; Conargo 2019).

Alles in allem zeigt das obige Autismus-Spektrum-Konzept auf, Autismus nicht nur einseitig auf Defizite und Fehlverhalten auszurichten, sondern ebenso positive Seiten, Stärken, besondere Begabungen und Fähigkeiten zu beachten. Darauf legt das ASAN großen Wert. Dieser „Doppelaspekt“ ist jedoch nicht neu. So lesen wir bereits bei H. Asperger (1944, 135), dass der „autistische Charakter“ Vorzüge und Mängel aufweist und „daß Positives und Negatives zwei Seiten sind, die man nicht ohne weiteres voneinander trennen kann“. Daher werden von ihm neben dem unüblichen Lernverhalten autistische Fähigkeiten und Intelligenz betont; und ebenso verweist L. Kanner (1943) auf Stärken der von ihm untersuchten Kinder mit „frühkindlichem Autismus“ (vgl. Theunissen 2021a, 34 ff.).

Somit darf das Fazit gezogen werden, dass mit Blick auf die beiden „Klassiker“ und die Betroffenen-Perspektive die psychiatrischen Klassifikationssysteme sowie die herkömmliche klinische Sicht auf Autismus unzureichend sind. Die Gefahr besteht, dass sie autistischen Menschen eher schaden als nutzen.

Um dies zu vermeiden, orientieren wir uns an dem skizzierten Autismus-Konzept. Bezüglich unserer Einteilung ist anzumerken, dass die acht genannten Merkmale, vor allem jene, bei denen die Selbstbezogenheit deutlich zutage tritt, zwar typisch für Autismus sind, jedoch bei jeder autistischen Person in unterschiedlich ausgeprägter Form in Erscheinung treten können. Ferner stehen die Merkmale in einer engen Verbindung, indem sie sich häufig gegenseitig bedingen und überlappen können.

Zu diskutieren wäre, wann nach dem skizzierten Modell eine Person als autistisch bezeichnet werden kann.

Treten nur wenige autistische Merkmale ausgeprägt in Erscheinung, hätten wir es mit Sicherheit nicht mit einem „Vollbild“ zu tun. Bei nur leichten Ausprägungen mehrerer Merkmale und insbesondere beim Fehlen einer deutlichen Selbstbezogenheit, verschwimmen die Grenzen zur Normalität, sodass in dem Fall autistisches Verhalten eher als ein „normales Verhalten“ betrachtet werden sollte.

Diese Sicht entspricht weithin der Auffassung aus dem Lager der modernen Autismusforschung, autistische Eigenschaften als dimensional (wie z. B. das Merkmal „Körpergröße“) anzusehen: „Aus der dimensionalen Struktur von Autismus ergibt sich, dass es keine natürliche Grenze zwischen autistischen Zügen als Normvariante und ASS (Autismus Spektrum Störung) als Diagnose gibt – diese Grenze muss immer mit einem gewissen Maß an Willkür festgelegt werden“ (Riedel, Tebartz van Elst & Clausen 2020, 30).

Treten weithin alle der acht genannten Merkmale mehr oder weniger stark (egozentrisch) ausgeprägt in Erscheinung, sprechen wir von Autismus. Da das von uns favorisierte Konzept nur qualitativ erschlossen wurde, hat es keine statistisch-empirische, wohl aber eine heuristische (entdeckende) Bedeutung. Abschließend möchten wir anmerken, dass jede Merkmalsausprägung nicht allein durch eine Person zustande kommt, sondern sich aus der Interaktion zwischen der autistischen Person und deren Umwelt ergibt. Daher geht es uns um eine verstehende Sicht, bei der jedes autistische Verhalten im Zusammenhang mit einer Situation funktional betrachtet wird.

Merkbox

Autistische Verhaltensweisen sind funktional bedeutsam und sinnvoll. Sie resultieren aus einem autistischen Merkmal. Je nach Situation kann das autistische Verhalten für die nicht-autistische Bezugswelt unproblematisch sein oder zu einem herausfordernden Verhalten führen. Stellen wir uns folgende Situation vor: Martin, ein autistischer Junge, kann keine Reißverschlussgeräusche aushalten. Dies ist eine Wahrnehmungsbesonderheit in Form akustischer Hypersensitivität. Daraufhin meidet Martin Kleidung mit Reißverschlüssen. Dies ist sein zweckmäßiges autistisches Verhalten. Seine Mutter besteht jedoch darauf, Anoraks, Mäntel oder Pullover mit Reißverschluss anzuziehen. Daraufhin kommt es immer wieder zu erheblichen Auseinandersetzungen mit seiner Mutter, indem Martin mit Schreien, Treten, Trampeln und Wegrennen reagiert. Dies ist das herausfordernde Verhalten, für Martin ein Problemlösungsversuch. Unsere Analyse und Betrachtung des Beispiels nennen wir funktionale Problemsicht. Sie macht deutlich, dass autistische und herausfordernde Verhaltensweisen für eine Person eine Funktion haben, subjektiv bedeutsam sind. Wenn wir den Sinn oder Zweck eines Verhaltens erkennen, können wir die Person besser verstehen und unterstützen. Dafür steht das Konzept der Positiven Verhaltensunterstützung (vgl. Theunissen 2021a).

Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen

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