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Vorwort

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Nach einer Meta-Analyse von G. Russell und Team (2019) waren im Jahr 2016 in den bedeutsamsten Fachzeitschriften über Autismus des angloamerikanischen Sprachraums Menschen aus dem Autismus-Spektrum mit einer unterdurchschnittlichen Intelligenz signifikant unterrepräsentiert. Ausgewertet wurden 301 Publikationen. Die mangelnde Berücksichtigung dieses Personenkreises betraf weithin alle Bereiche der Autismusforschung − neurowissenschaftliche Studien ebenso wie Untersuchungen über wirksame Interventionen und soziale Dienstleistungssysteme.

Bei diesem Befund handelt es sich um einen Trend, der auch anderen Studien zu entnehmen ist (vgl. Brown, Chouinard und Crewther 2017). Die Gefahr besteht, dass im Zuge einer solchen Entwicklung etwa die Hälfte aller Menschen aus dem Autismus-Spektrum marginalisiert wird. Denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird 31 % bis 42 % aller autistischen Personen eine unterdurchschnittliche Intelligenz im Sinne einer sogenannten „geistigen Behinderung“ (Intelligenzquotient unter 70) nachgesagt, und etwa 8 % bis 39 % aller Personen, die als „geistig behindert“ bezeichnet werden, gelten zugleich als „autistisch“.

Die Marginalisierung autistischer Menschen mit unterdurchschnittlicher Intelligenz wird dadurch befördert, dass sich immer mehr autistische Erwachsene zu Wort melden, die über ihre „Innensichtweisen“ berichten. Damit geben sie als „Expert*innen in eigener Sache“ der Autismusforschung, Behindertenhilfe, Bildungs- und Sozialpolitik wichtige Erkenntnisse und Anregungen.

Der Wert der Stimme der Betroffenen wird allmählich erkannt, weshalb im Rahmen von Forschungsstudien immer häufiger darauf zurückgegriffen wird. Allem Anschein nach ist es für die Autismusforschung einfacher und attraktiver, mit sprachbegabten und (hoch-)intelligenten Autist*innen zusammenzuarbeiten, als mit autistischen Personen, die sich kaum oder nicht sprachlich äußern können, intellektuelle Beeinträchtigungen zeigen und schwerer zugänglich sind (vgl. Jack & Pelphrey 2017).

Ohne Zweifel kann die Bedeutsamkeit der selbsterschlossenen Erkenntnisse und Selbstvertretung (Empowerment) von Autist*innen für alle Menschen aus dem Autismus-Spektrum hoch eingeschätzt werden (vgl. Kapp 2020).

Gleichwohl sollten wir uns davor hüten, Selbstauskünfte und insbesondere Befunde und Theorien, die aus Untersuchungen mit autistischen Personen ohne Intelligenzbeeinträchtigung hervorgegangen sind, unreflektiert zu rezipieren und auf den gesamten Personenkreis der Autist*innen zu verallgemeinern. Denn „nicht alle autistischen Personen stimmen in ihren neurologischen Profilen, in der genetischen Veranlagung, im ursächlichen Entwicklungsverlauf sowie in den kognitiven und wahrnehmungsbezogenen Unterschieden überein und zeigen die gleichen Reaktionen auf Interventionen“ (Russell et al. 2019, 7).

Freilich gibt es einige Forscher*innen, die das breite Autismus-Spektrum beachten und auf eine differenzierte Betrachtung von Forschungsbefunden Wert legen. Dennoch hat die Fokussierung auf sogenannte hochfunktionale oder Asperger-Autist*innen in den letzten Jahren in der Fachliteratur eine Lücke erzeugt, die sich nicht nur auf Menschen aus dem Autismus-Spektrum mit unterdurchschnittlicher Intelligenz bezieht, sondern darüber hinaus Betroffene mit zusätzlichen herausfordernden Verhaltensweisen, psychischen Begleitstörungen und hohem Unterstützungsbedarf betrifft. Gemeint sind damit autistische Personen mit Lernschwierigkeiten und komplexen Beeinträchtigungen.

Genau um diesen Personenkreis geht es in der vorliegenden Schrift. Sie soll quasi die Orientierung an der Selbstvertretung autistischer Menschen im Interesse derjenigen, die nicht als „empowered persons“ imponieren können, so justieren und aufbereiten, dass alle Personen aus dem Autismus-Spektrum davon profitieren können. Anders gesagt: Um zu vermeiden, dass Autist*innen mit komplexen Beeinträchtigungen vernachlässigt, benachteiligt und zugleich in ihren Entwicklungsmöglichkeiten und Stärken verkannt sowie als „schwerstbehindert“ in Sondereinrichtungen abgeschoben werden, ist es wichtig, auch ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Dies zu leisten verspricht eine verstehende Sicht von Autismus, ohne dabei das Spektrum an komplexen Beeinträchtigungen auszublenden.

In diesem Sinne geht es im ersten Kapitel des Buches um die Aufbereitung der „Schlüsselbegriffe“: Im Anschluss an einen kurzen Blick auf das aktuelle Autismus-Konzept aus klinischer Perspektive wird zunächst das von der weltweit einflussreichsten Selbstvertretungsbewegung „Autistic Self Advocacy Network“ (ASAN) favorisierte Verständnis von Autismus aufgegriffen. Dieses gilt als richtungsweisend für eine „gute Praxis“. Nachfolgend wird unter Berücksichtigung der Sicht behinderter Menschen der Arbeitsbegriff der komplexen Beeinträchtigungen begründet. Dieser bezieht sich auf Personen mit hohem Unterstützungsbedarf, denen hierzulande eine sogenannte geistige Behinderung nachgesagt wird, die sich selbst als Menschen mit Lernschwierigkeiten bezeichnen und nicht selten mehrfache Behinderungen aufweisen. Das Zusammenwirken von Autismus und komplexen Beeinträchtigungen unter Beachtung von Fragen zu den Ursachen und zu spezifischen Syndromen runden die Einführung in die Schrift ab.

Anschließend werden in einem zweiten Kapitel zentrale Besonderheiten und Begleitstörungen unserer Bezugsgruppe herausgestellt und diskutiert. Das betrifft neben Wahrnehmungsbesonderheiten und ADHS das bislang vernachlässigte Thema der Hyperlexie gleichermaßen wie Fragen zu Sinnesbehinderungen, zu Auswirkungen bestimmter psychischer Störungsbilder (z. B. Depressionen, Angst-, Ess-, Zwangsstörungen), zu Persönlichkeitsstörungen und zum Umgang mit traumatischen Erfahrungen, Stress, Krisen und herausforderndem Verhalten. Abgerundet wird dieser Teil der Schrift mit Fragen zum Altern und zu schweren neurokognitiven Störungen (Demenzen) als die häufigsten psychischen Erkrankungen im Alter.

Das dritte Kapitel befasst sich mit Unterstützungssystemen und pädagogischen Hilfen, die im Hinblick auf autistische Personen mit komplexen Beeinträchtigungen als tragfähig betrachtet werden können. Hierzu werden Fragen zur Wirksamkeit diskutiert und Konzepte, Methoden oder Interventionen in einer Übersicht zusammengestellt, die eine reflektierte Einschätzung und Auswahl von Angeboten für eine „gute Praxis“ erleichtern soll.

Insgesamt ist die Schrift als ein Lehrbuch für die Heilerziehungspflege und Heilpädagogik konzipiert worden. Dafür wurde eine didaktische Gestaltung vorgenommen, die durch kleine, zwischengeschaltete Textblöcke zu pädagogischen Hinweisen oder Tipps sowie Beispiele aus der Praxis das gesamte Buch auflockert und leicht zugänglich macht. Zugleich waren wir um eine verständliche Sprache bemüht, die oft bei Fachbüchern vermisst wird. Bei unserer Buchkonzeption standen wir vor der Wahl, entweder der Lesbarkeit halber Fachliteratur möglichst sparsam anzugeben oder wie bei wissenschaftlichen Abhandlungen Aussagen, Ansichten, Befunde oder Erkenntnisse mit Quellenangaben zu belegen und anzureichern. Da ein Lehrbuch nicht nur zum Mitdenken, Reflektieren und Nacharbeiten, sondern auch zu einer vertieften Auseinandersetzung mit bestimmten Themen oder Fragen motivieren soll, entschieden wir uns für einen Mittelweg. Dort, wo wir es für wichtig hielten (vor allem bei neueren Erkenntnissen und Themen, die bislang kaum beachtet werden), wurde relevante Bezugsliteratur quasi als Nachschlageangebot für neugierige, wissensbedürftige und engagierte Leser*innen aufgeführt.

Alles in allem hoffe ich somit ein attraktives Lehrbuch vorgelegt zu haben, das für die Unterstützung (Assistenz) von autistischen Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen eine wichtige Orientierungsgrundlage und Hilfe sein soll.

Bedanken möchte ich mich wiederum bei Gee Vero, diesmal für Ihr beeindruckendes Bild „The me in the I of the Self“, bei Isabell Drescher für die Mitarbeit und Unterstützung des Buchprojekts sowie bei Frau Winkler vom Lambertus-Verlag für die ausgezeichnete Zusammenarbeit.

Georg Theunissen (Freiburg i. Br.)

April 2021

Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen

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