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Zur Klassifikation von Autismus nach DSM-5 und ICD-11

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Bisher war es üblich, Autismus nach den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM IV als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ zu beschreiben und in verschiedene klinische Bilder oder Typen zu unterteilen: frühkindlicher Autismus (nach L. Kanner), Asperger-Syndrom, atypischer Autismus, nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung. Mit dieser Einteilung gingen all die Jahre diagnostische Unsicherheiten und Probleme einher. Dies führte dazu, dass einzelne Personen im Laufe ihres Lebens unterschiedliche Autismus-Diagnosen erhielten. In dem Zusammenhang wurde deutlich, dass - wie bereits aus den „Erstbeschreibungen“ hervorgeht (vgl. Theunissen 2021d) - zwischen dem frühkindlichen Autismus und dem Asperger-Syndrom mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede bestehen. Daraufhin wurden abgeleitet vom frühkindlichen Autismus die Begriffe hochfunktionaler Autismus (mit einer Nähe zum Asperger-Syndrom) und niedrigfunktionaler Autismus (als schwere Form assoziiert mit komplexer, vor allem intellektueller Beeinträchtigung) in die Fachdiskussion eingeführt. Aber auch dieser Schritt war unbefriedigend.

So wurde im Rahmen der Revision und Aktualisierung des DSM IV zu DSM-5 der Beschluss gefasst, zukünftig unter der Bezeichnung „Autismus-Spektrum-Störung“ (Autism Spectrum Disorder) auf die bisherige Einteilung zu verzichten und die verschiedenen klinischen Bilder von Autismus unter zwei Kernbereiche einzuebnen:

A.Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg. Diese manifestieren sich in allen folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen (die Beispiele sind erläuternd, nicht vollständig):

1.Defizite in der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit. Diese reichen z. B. von einer abnormen sozialen Kontaktaufnahme und dem Fehlen von normaler wechselseitiger Konversation sowie einem verminderten Austausch von Interessen, Gefühlen oder Affekten bis hin zum Unvermögen, auf soziale Interaktion zu reagieren bzw. diese zu initiieren.

2.Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten, das in sozialen Interaktionen eingesetzt wird. Diese reichen z. B. von einer schlecht aufeinander abgestimmten verbalen und nonverbalen Kommunikation bis zu abnormem Blickkontakt und abnormer Körpersprache oder von Defiziten im Verständnis und Gebrauch von Gestik bis hin zu einem vollständigen Fehlen von Mimik und nonverbaler Kommunikation.

3.Defizite in der Aufnahme, Aufrechterhaltung und dem Verständnis von Beziehungen. Diese reichen z. B. von Schwierigkeiten, das eigene Verhalten an verschiedene soziale Kontexte anzupassen, über Schwierigkeiten, sich in Rollenspielen auszutauschen oder Freundschaften zu schließen, bis hin zum vollständigen Fehlen von Interesse an Gleichaltrigen.

B.Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die sich in mindestens zwei der folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen manifestieren (die Beispiele dienen der Erläuterung und sind nicht vollständig):

1.Stereotype oder repetitive motorische Bewegungsabläufe, stereotyper oder repetitiver Gebrauch von Objekten oder von Sprache (z. B. einfache motorische Stereotypien, Aufreihen von Spielzeug oder das Hin- und Herbewegen von Objekten, Echolalie, idiosynkratrischer Sprachgebrauch).

2.Festhalten an Gleichbleibendem, unflexibles Festhalten an Routinen oder an ritualisierten Mustern verbalen oder nonverbalen Verhaltens (z. B. extremes Unbehagen bei kleinen Veränderungen, Schwierigkeiten bei Übergängen, rigide Denkmuster oder Begrüßungsrituale, Bedürfnis, täglich den gleichen Weg zu gehen oder das gleiche Essen zu sich zu nehmen).

3.Hochgradig begrenzte, fixierte Interessen, die in ihrer Intensität oder ihrem Inhalt abnorm sind (z. B. starke Bindung an oder Beschäftigen mit ungewöhnlichen Objekten, extrem umschriebene oder perseverierende Interessen).

4.Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an Umweltreizen (z. B. scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber Schmerz/Temperatur, ablehnende Reaktion auf spezifische Geräusche, Strukturen oder Oberflächen, exzessives Beriechen oder Berühren von Objekten, visuelle Faszination für Licht oder Bewegungen) (zit. n. Falkai & Wittchen 2018, 64 f.).

Bemerkenswert ist, dass die genannten Symptome nicht mehr wie bisher in den Klassifikationssystemen vor dem dritten Lebensjahr, jedoch in der frühen Entwicklung vorhanden sein müssen. Allerdings können sie sich erst zu einem späteren Zeitpunkt voll ausbilden, wenn sie „in klinisch bedeutsamer Weise“ zu einem Leiden oder zu Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen. Ferner müssen Ausschlussdiagnosen beachtet werden, so dürfen z. B. die genannten Symptome nicht durch Lernschwierigkeiten (Intelligenzminderung), ADHS, Persönlichkeitsstörungen oder psychische Erkrankungen erklärbar sein (dazu später).

Wie die US-amerikanische Psychiatriegesellschaft hat ebenso die Weltgesundheitsorganisation ihr bisheriges Klassifikationssystem ICD-10 überarbeitet und aktualisiert. Die neue Version ICD-11 wurde im Mai 2019 bei der Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly) verabschiedet. Da die Implementierung durch die Mitgliedsstaaten schrittweise erfolgt, beginnt die offizielle Nutzung der ICD-11 ab Januar 2022. In Anlehnung an das DSM-5 hat die ICD-11 gleichfalls die bisherige Unterscheidung von Autismusformen unter dem Begriff der „Autismus-Spektrum-Störung“ aufgehoben, den sie der Oberkategorie der neurologischen Entwicklungsstörungen („neurodevelopmental disorders“) zuordnet (vgl. WHO 2019). Allerdings gibt es zwischen den beiden Klassifikationssystemen einen deutlichen Unterschied. So hat die ICD-11 Kategorisierungskriterien einer möglichen Beeinträchtigung der geistigen sowie der sprachlichen Entwicklung gebildet, da Menschen im Autismus-Spektrum eine weite Spanne von intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten aufweisen (vgl. [6A02 autism spectrum disorder], 04/2019; im Folgenden von uns ins Deutsche übersetzt):

•Autismus-Spektrum-Störung ohne Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit geringer oder ohne Einschränkung der funktionalen Sprache

•Autismus-Spektrum-Störung mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit geringer oder ohne Einschränkung der funktionalen Sprache

•Autismus-Spektrum-Störung ohne Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit Beeinträchtigung der funktionalen Sprache

•Autismus-Spektrum-Störung mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit Beeinträchtigung der funktionalen Sprache

•Autismus-Spektrum-Störung ohne Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit fehlender funktionaler Sprache

•Autismus-Spektrum-Störung mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit fehlender funktionaler Sprache

•Andere spezifische Autismus-Spektrum-Störung

•Autismus-Spektrum-Störung, nicht näher bezeichnet

Charakterisiert wird Autismus (als Autismus-Spektrum-Störung) durch „anhaltende Defizite in der Fähigkeit, wechselseitige soziale Interaktion und soziale Kommunikation zu initiieren und aufrechtzuerhalten, und durch eine Reihe von eingeschränkten, repetitiven und unflexiblen Verhaltensmustern und Interessen. Der Beginn der Störung erfolgt während der Entwicklungsphase, typischerweise in der frühen Kindheit, aber die Symptome können sich erst später vollständig manifestieren, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Kapazitäten übersteigen. Die Defizite sind schwerwiegend genug, um eine Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, erzieherischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen zu verursachen und sind gewöhnlich ein allgegenwärtiges Merkmal des individuellen Funktionierens, das in allen Lebensbereichen zu beobachten ist, auch wenn sie je nach sozialem, erzieherischem oder anderem Kontext variieren können. Menschen, die sich im Autismus-Spektrum befinden, können unterschiedliche Ausprägungen der Intelligenz und der sprachlichen Fähigkeiten aufweisen“ (ebd.; Übersetzung d. A.). Diese Ausführungen decken sich bis auf Wahrnehmungsbesonderheiten weithin mit dem DSM-5.

Grundsätzlich kann angesichts der Gemeinsamkeiten zwischen dem Autismusbild von L. Kanner und H. Asperger die Einebnung der bisherigen Typen von Autismus (frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, atypischer Autismus) begrüßt werden. Gleichwohl sind einige Aspekte kritisch zu sehen:

Dies gilt z. B. für die Vernachlässigung der sprachlichen Besonderheiten im DSM-5. Möglicherweise hat dieser Kritikpunkt die Vertreter*innen vom ICD-11 dazu veranlasst, den sprachlichen Aspekt explizit herauszustellen. Dass zudem im ICD-11 der Intelligenzaspekt hervorgehoben wird, mutet hingegen befremdlich an. Dies ist nämlich bei psychischen Störungen (Psychosen, Schizophrenie, affektiven Störungen, Angststörungen etc.) und Persönlichkeitsstörungen unüblich und wirft die Frage nach dem Nutzen und Schaden auf. Was geschieht, wenn sich eine Person der Intelligenzerfassung verweigert oder wenn keine adäquate, verlässliche Beurteilung möglich ist? Wieweit werden durch eine diagnostische Zuschreibung oder Annahme einer Intelligenzminderung bei einer betroffenen Person Vorurteile, negative Prognosen und Prozesse sozialer Diskriminierung befördert? Bislang ist das ICD-11 noch nicht im Gebrauch, insofern bleibt abzuwarten, wie damit umgegangen wird.

Für die Bedingungen in Deutschland ist der Rückgriff auf das ICD-11 zur Diagnostizierung von Autismus zweifellos verlockend, weil dadurch im Unterschied zum DSM-5 Zuweisungen für Leistungsträger eindeutiger erfolgen können: Liegt Autismus und Intelligenzminderung vor, ist bei Kindern und Jugendlichen der Leistungsträger der Sozialhilfe zuständig; Autismus ohne Intelligenzminderung fällt hingegen bei Kindern- und Jugendlichen in den Zuständigkeitsbereich der Kinder- und Jugendhilfe. Diese Zweiteilung ist jedoch fachwissenschaftlich überholt und sollte ebenso im Sinne der Inklusion überwunden werden.


Pädagogischer Hinweis

Unter Inklusion verstehen wir die unmittelbare Zugehörigkeit oder Nicht-Aussonderung aller behinderten Menschen. Mit dieser Definition orientieren wir uns an der UN-Behindertenrechtskonvention, die den Zugang zum Verständnis von Inklusion durch fünf zentrale Aspekte genauer kennzeichnet:

1)Personale Wertschätzung und Respekt vor der behinderten Person und ihrem So-Sein

2)Zugänglichkeit (Barrierefreiheit, sodass z. B. behinderte Menschen Ressourcen nutzen oder Orte aufsuchen können, die nicht-behinderten Personen ungehindert zugänglich sind)

3)Einbindung in wechselseitigen, gegenseitig abhängigen Beziehungen im persönlichen Nahbereich und in gesellschaftlichen Kontexten

4)Selbstbestimmung (persönliche Wahl- und Entscheidungsfreiheit)

5)Partizipation (Teilhabe im Sinne von Mitsprache, Mitbestimmung und Mitgestaltung)

Weitere Kritikpunkte, die beide Klassifikationssysteme betreffen, beziehen sich auf die mangelnde Berücksichtigung motorischer Besonderheiten, auf die unzureichende Beachtung von Besonderheiten bei Mädchen/Frauen3, auf die Vernachlässigung einer Entwicklungsperspektive (Erwachsenenalter) sowie auf die einseitige, negative Auslegung sogenannter „restriktiver Interessen und repetitiver, stereotyper Verhaltensweisen“. Hierbei kann es sich nämlich auch um eine Quelle von Freude und Glück (Flow), um ein „informationssuchendes“ oder um ein subjektiv bedeutsames, kompensatorisches Verhalten zur psychischen Beruhigung handeln. Manche Autist*innen betrachten ein solches Verhalten als „überlebensnotwendig“ (vgl. Schmidt 2020, 53 ff., 60; Vero 2020, 87 f., 92). Umso wichtiger ist eine verstehende Sicht dieses Verhaltensbereichs, um die Funktion von repetitivem Verhalten oder eingeschränkten Interessen zu erfassen.


Pädagogischer Hinweis

„Autismus zu verstehen, ist die Voraussetzung dafür, um als Außenstehender die dringenden Bedürfnisse autistischer Menschen anzuerkennen“ (Schmidt 2020, 150).

Ferner ist es einerseits begrüßenswert, dass das DSM-5 Hyper- oder Hypowahrnehmungen beachtet, andererseits ist es schwer nachvollziehbar, dass dieser Bereich den „eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmustern, Interessen oder Aktivitäten” untergeordnet wird. Wahrnehmungsbesonderheiten stellen nämlich ein zentrales Merkmal von Autismus dar, das zu „eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmustern, Interessen oder Aktivitäten” führen kann, aber nicht umgekehrt.

Zu einer einseitigen Betrachtung verleiten darüber hinaus die sogenannten „Defizite in der sozial-emotionalen Wechselseitigkeit”. Damian Milton (2018), ein Gelehrter und Dozent aus dem Autismus-Spektrum, sieht hier ein „doppeltes Empathie-Problem“. Was damit gemeint ist, signalisiert unter anderem die folgende Beobachtung:

„Wenn sie (die autistische Tochter eines Bekannten von H. Markram) unter die Dusche sollte, wuchs es sich zum Drama aus. Wie eine Katze wehrte sie sich, Kratzen, Beißen, Wasserschlacht, und der Vater, wütend, schimpfte mit ihr: Kannst du nicht mal eine Dusche nehmen! Nur eine Dusche! Jeder duscht. Stell dich nicht so an! Es ist nur Wasser! Allein, sie stellte sich nicht an. Die Tropfen fielen nicht wie Tropfen, sie fielen wie heiße Nadeln, folterten sie, und da sie wie viele Autisten nicht sprach, redete sie mit Händen und Füßen, sie versuchte nur ihre Haut zu retten, mit verzweifelter Gewalt. War das denn so schwer zu verstehen? (…) Wir sagen, Autisten fehlt Empathie. Nein. Uns fehlt sie. Für die Autisten“ (Markram zit. n. Wagner 2018, 135, f.).

Tatsächlich fällt es nicht-autistischen Personen sehr oft schwer, sich in das Denken und Handeln von Autist*innen hineinzuversetzen und die Bedeutung ihres Verhaltens nachzuvollziehen. Dies betont auch die Autistin Gabriele Schmitt-Lemberger (2020, 49), Mutter eines nicht-sprechenden Autisten mit ADHS. Leid entsteht oftmals erst dadurch, dass autistische Personen nicht verstanden werden und dass gegenüber ihrem Verhalten und ihren Sichtweisen Unverständnis zum Ausdruck gebracht wird.

Das zeigt sich nicht nur bei der Empathie, sondern ebenso bei sozialen Interaktionen. Interessant sind hierzu Forschungsstudien, die ähnlich wie bei dem „doppelten Empathie-Problem“ den Schluss eines „doppelten Interaktionsproblems“ nahelegen (vgl. Sasson et al. 2016; Fontenot 2020). Demzufolge sollten wir es vermeiden, nur autistischen Personen Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion zu attestieren. So zeigen z. B. viele autistische Personen im Zusammensein mit anderen autistischen Menschen ein hohes Maß an sozialer Interaktion und Kommunikation (dazu auch Seng 2019).

Merkbox

Nicht wenige autistische Menschen berichten, dass sie nicht unter ihrem Autismus leiden, sondern unter psychischen Begleiterscheinungen (z. B. depressiven Störungen) und vor allem unter den Reaktionen ihres Umfeldes (unter Mobbing, Hänseleien, Diskriminierung, Anfeindungen, mangelndem Zutrauen, Ignoranz individueller Fähigkeiten oder Stärken). Ein Leidensdruck entsteht nicht selten aus Missverständnissen und resultiert seltener aus dem Autismus.

Betroffene wenden sich daher gegen die noch weit verbreitete Pathologisierung autistischen Verhaltens: „Die Art, wie wir anders sind als andere Menschen zu pathologisieren, empfinden wir als Diskriminierung“, und „wir wehren uns dagegen, dass Autismus nur über Defizite definiert wird“ (Aspies e. V. 2008).

Ebenso wird die Defizitorientierung der Klassifikationssysteme scharf kritisiert; und es wird nicht akzeptiert, dass nur persönliche Defizite als Ursache für Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen betrachtet werden. Diese einseitige Sicht untergräbt die Wechselwirkungen zwischen persönlichen und Umweltfaktoren und missachtet externe Einflüsse auf autistisches Verhalten.

Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen

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