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Wichtige neurowissenschaftliche Annahmen

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(1) Dem Anschein nach gibt es bei autistischen Personen drei miteinander verbundene Phasen der Hirnentwicklung, die sich von der Gehirnentwicklung nicht-autistischer Menschen weithin unterscheiden: Zunächst lassen sich im Kleinkindesalter Besonderheiten wie ein rapides Hirnwachstum, ein vergrößertes Hirnvolumen und eine allgemeine erhöhte neuronale Konnektivität beobachten. Danach haben wir es im Kindesalter bis zur Adoleszenz mit einer Phase der erhöhten, kompensatorisch ausgerichteten Verlangsamung der Hirnentwicklung und Stabilisierung des Hirngewebes zu tun. Anschließend kommt es im Jugend- und Erwachsenenalter zu einer „Normalisierung“ bzw. „Konsolidierung“ der Hirnentwicklung, wobei eine (leichte) veränderte neuronale Architektur sowie atypische Konnektivität bestehen bleiben (vgl. Braun, Achim & Sahakian 2017).

(2) Die neuronale Hyperkonnektivität im frühen Kindesalter betrifft zunächst das gesamte Gehirn und geht mit einer neuronalen Hyperreaktivität, Hyperplastizität und Hyperfunktionalität einher (vgl. Groß 2020; Markram & Markram 2009; Theunissen 2020, 57 ff.; Wagner 2018). Das hat Auswirkungen auf Hirnareale, die für sensorische, motorische- und kognitive Prozesse zuständig sind. So gibt es z. B. Anzeichen für eine erhöhte neuronale Konnektivität im Bereich des sogenannten Salience Netzwerkes, welches der Reizerkennung und Aufrechterhaltung einer zielgerichteten Aufgabenbewältigung dient, sowie einer atypischen Konnektivität im Default Netzwerk, das für sozio-emotionale und empathische Prozesse bedeutsam ist. Aufgrund dieser Besonderheiten kommen autistische Personen im Unterschied zu nicht-autistischen Menschen seltener emotional zur Ruhe; und sie zeigen häufiger „restriktives und repetitives Verhalten“, erhöhte Reizempfindlichkeit und Anpassungsschwierigkeiten (Vulnerabilität) bei Veränderungen (vgl. Uddin et al. 2013, 8). Zudem werden im Rahmen der skizzierten Netzwerkbesonderheiten Schwierigkeiten im Umgang mit Emotionen und Empathie diskutiert.

Einige Forschungsstudien gehen von einer erhöhten Aktivität subkortikaler Hirnregionen aus, zu denen der Thalamus, die Amygdala, die Basalganglien, das Kleinhirn und der Superior Colliculus zählen (vgl. Jure 2019b). Diese neuronale Übererregung hat Auswirkungen auf visuelle Wahrnehmung (Detailwahrnehmung), motorische, kognitive und sozio-emotionale Prozesse (Lecciso & Colombo 2019), indem zum Beispiel der mangelnde Blickkontakt autistischer Menschen kein soziales Desinteresse bedeutet, sondern „eine Übersensitivität in Bezug auf sozio-affektive Stimuli“ signalisiert, die es im alltäglichen Leben zu vermeiden gilt (Hadjikhani et al. 2017, 4).

(3) Die hohe Empfindlichkeit bzw. Überregung des Gehirns (sensorische Vulnerabilität) zeigt sich insbesondere bei der Amygdala (vgl. Vero 2020, 60 ff.). Sie ist als Teil des limbischen Systems für die Verarbeitung von Ängsten und Emotionen zuständig. Für viele autistische Personen scheint ihre Hyperreaktivität schwer kontrollierbar und häufig so überwältigend zu sein, dass sie nicht nur extrem starke Gefühle und vor allem Stress und Ängste erzeugt, sondern auch als schmerzhaft erlebt wird. Studien, die bei autistischen Personen das autonome Nervensystem untersucht haben, diskutieren eine niedrige Herzfrequenzvariabiltiät im Zusammenhang mit autistischem Verhalten und (dauerhaftem) Stress (vgl. Yuhas 2019). Auch aus dieser Sicht kommen Betroffene kaum zur Ruhe bzw. zu einer psychischen Entlastung. Daher werden ein Stressmanagement, körperliche und entspannende Aktivitäten empfohlen (vgl. Kapitel II: Stress), um zu einer hohen Herzfrequenzvariabilität zu gelangen, die psychische Ausgeglichenheit und Anpassungsfähigkeit ermöglichen kann.

(4) Spätestens mit Beginn des Schulalters scheint sich bei autistischen Kindern die neuronale Konnektivität zwischen entfernt liegenden Hirnarealen zu verringern. Auf lokaler Hirnebene sowie in einigen Teilregionen struktureller und funktioneller neuronaler Systeme (z. B. medialer Thalamus) bleibt hingegen die Hyperkonnektivität weithin erhalten. Ebenso besteht weiterhin ein Ungleichgewicht zwischen erregenden und hemmenden neuronalen Prozessen (v. a. mit der reduzierten GABAergen Inhibition), was mit einem „übererregten Gehirn“, einer erhöhten Empfänglichkeit für epileptische Anfälle und einer atypischen visuellen Kontextmodulation assoziiert wird (vgl. Jure 2019b; Rubenstein & Merzenich 2003; Snijders & Kemmer 2013; Robertson, Ratai & Kanwisher 2015).

(5) Eine geringe neuronale Vernetzung, partielle Hyperkonnektivität und mangelnde Synchronisation neuronaler Aktivität10 kann dazu führen, dass betroffene Personen weniger Allgemeinwissen zeigen und stattdessen mit einem hohen Spezialwissen, Sonderbegabungen oder sogenannten Savant-Fähigkeiten imponieren. Im Falle solcher außergewöhnlichen Leistungen wird das Gehirn nicht selten von der rechten Hirnhälfte dominiert (vgl. Theunissen & Schubert 2010, 54). Außerdem korrespondiert die Hypokonnektivität bei den entfernt liegenden Hirnarealen mit einer größeren „Freiheit“ der lokalen Hirnbereiche. Auch dies wird als Erklärung für spezielle Stärken oder Savant-Fähigkeiten in Betracht gezogen (vgl. Tebartz van Elst 2016, 126).

(6) Hinzu kommt, dass die lokalen Hirnareale durch Top-down-Prozesse höherer (präfrontaler) Hirnbereiche weniger beeinflusst werden (vgl. Theunissen 2020, 75 f.). Top-down Prozesse beziehen sich auf Verläufe von „oben nach unten“, auf eine Einflussnahme von höheren Hirnarealen auf lokale. Das heißt, dass in dem Fall Erfahrungen und (Vor-)Wissen dabei helfen, Wahrgenommenes einordnen zu können. Umgekehrt gibt es Bottom-up-Prozesse von „unten nach oben“. Diese scheinen die Wahrnehmung, das Denken und Handeln vieler autistischer Menschen zu bestimmen. In dem Fall nehmen Wahrnehmungsprozesse auf niedriger (lokaler) Ebene Einfluss auf die höheren Hirnareale. Dies betrifft z. B. ein frühes und exaktes Wahrnehmen von Eigenschaften eines Objekts, ein Erkennen, Erfassen und Speichern von visuellen Mustern, Strukturen, Tönen o. Ä.

(7) Auf dieser Grundlage (Bottom-up-Ebene) werden zugleich komplexere Aufgaben bewältigt, die üblicherweise den „höheren Funktionen“ des Gehirns zugeschrieben werden. Damit kann der mangelnde Einfluss des „Top-down-Kontrollsystems“ (Frith 2013, 150) kompensiert werden. Vor diesem Hintergrund gilt die noch viel zitierte Theorie der „schwachen zentralen Kohärenz“ als überholt. Vielmehr haben wir es mit einer erweiterten Wahrnehmungsfähigkeit (Mottron 2015a) zu tun, die sich durch erhöhte Detailerkennung und -erfassung, Hyperselektivität, visuelles und konkretes Denken sowie eine „Intuition für funktionale Zusammenhänge“ (Seng 2019, 241) oder „Systematisierung“ (systemizing) auszeichnet (vgl. Baron-Cohen et al. 2009). Sie lässt den Schluss zu, „dass autistische Menschen nicht einfach unzusammenhängende Details erkennen, sondern dass sie Systeme lieben“ (Frith 2013, 150).

(8) Alles in allem stoßen wir bei autistischen Personen auf eine von Natur aus atypische, qualitativ anders fokussierte Entwicklung, deren Besonderheiten nicht per se nachteilig sein müssen (vgl. Mottron 2017). Das gilt z. B. für die Dominanz des wahrnehmungsbezogenen Denkens, das zu außergewöhnlichen Fähigkeiten und kreativen Leistungen führen kann. Allerdings ist bei nicht-autistischen Personen das wahrnehmungsbezogene Denken mit dem sprachgebundenen untrennbar verbunden. Bei vielen Autist*innen haben wir es vermutlich mit einer eher lockeren, voneinander losgelösten Verbindung zwischen beiden Denktypen zu tun. Diese Besonderheit scheint den intuitiven Zugang zu sozialen Kontexten erheblich zu erschweren, vor allem ein mangelndes Gespür für „gemeinte“ Dinge zu befördern, bei denen nicht-autistische Menschen ein „gemeinsames“ intuitives Vorverständnis unterstellen. Ferner wird angenommen, dass eine verzögerte oder ausbleibende Sprachentwicklung bei Autismus nicht etwa „die Folge einer primären Dysfunktion des Sprachzentrums und dessen assoziierten Mechanismen im Gehirn (ist, d. A.), sondern das Ergebnis einer frühzeitigen Konkurrenz zwischen der visuellen Wahrnehmung und der Sprache und zwischen niederschwelligen auditiven sprachlichen Reizen (wie etwa der Tonhöhe) und den sprachlichen Dimensionen höherer Ordnung“ (Mottron 2015a, 121); und bei einer verspäteten Sprachentwicklung würden sprachliche Informationen „zunächst im Rahmen des visuellen Wahrnehmungsmodus und innerhalb der visuellen Wahrnehmungsverarbeitungsnetzwerke bearbeitet“ (ebd.).

(9) Bis heute scheint es üblich zu sein, die skizzierten Befunde und Annahmen im Lichte einer Defizit- oder Defekttheorie, als Hinweis auf hirnorganische Schädigungen und neurologische Funktionsstörungen zu betrachten. Dagegen wenden sich Betroffene, die sich für die Akzeptanz und Wertschätzung einer Neurodiversität engagieren (vgl. Kapp 2020). Anstatt Autismus zu pathologisieren, sollte er als Ausdruck einer „normalen Variation“ menschlichen Seins anerkannt werden. Dafür steht der Begriff der Neurodiversität, der zugleich eine identitätsstiftende Funktion zugeschrieben wird. Allerdings sollte das an der Neurodiversität orientierte Selbstbild autistischer Menschen mit einer selbstkritischen Haltung und kritischen Rezeption neurowissenschaftlicher Erkenntnisse einhergehen. Denn das Selbst eines Menschen ist mehr als „bloß ein Ergebnis von Hirnmechanismen“ (Ortega 2010, 3). Daher sei es wichtig – so die Kritiker*innen – die Anerkennung von Vielfalt soziokulturell zu reflektieren und mit der Frage zu verknüpfen, wie sich Machtverhältnisse, Diskriminierungen und Benachteiligungen durchsetzen und verfestigen, die Inklusion verhindern oder erschweren. Selbstvertretungsorganisationen wie das Autistic Self Advocacy Network (ASAN) haben sich dieser Aufgabe verschrieben.

Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen

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