Читать книгу Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen - Georg Theunissen - Страница 29
Prävalenz von Autismus bei Menschen mit Lernschwierigkeiten („Intelligenzminderung“)
ОглавлениеInteressant ist gleichfalls die Frage nach der Prävalenz von Autismus bei Menschen mit Lernschwierigkeiten. Derzeit wird ähnlich wie beim Autismus davon ausgegangen, dass hierzulande die Prävalenz in Bezug auf „intellektuelle Entwicklungsstörung“ (geistige Behinderung) bei etwa 1 % liegt (vgl. Theunissen 2021b, 40).
Nach einer von Sappok u. a. (2013, 7) tabellarisch zusammengestellten Übersicht und Auswertung mehrerer Prävalenzstudien aus dem angloamerikanischen Sprachraum besteht „in Abhängigkeit vom verwendeten Untersuchungsinstrument, den Diagnosekriterien und untersuchten Studienpopulationen“ (ebd.) bei 8 % bis 39 % der Menschen mit Lernschwierigkeiten zusätzlich ein Autismus. Dabei scheint die Prävalenz mit dem Schweregrad der kognitiven Beeinträchtigung zu steigen.
Underwood, McCarthy und Tsakanikos (2010) nennen auf der Grundlage verschiedener Forschungsarbeiten einen Wert zwischen 8 % und 20 %; und Bhaumik et al. (2008) ermittelten im Rahmen einer groß angelegten, repräsentativen Untersuchung bei Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten (N=2711) 8,8 %. Auf etwa 8 % kommen gleichfalls King und Bearman (2009, 1233).
Eigene repräsentative Untersuchungen (Kulig & Theunissen 2012, 129; Theunissen 2003, 431) in Deutschland ergaben, dass nach Auskunft von Lehrer*innen in Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung sowie von Mitarbeiter*innen in Wohneinrichtungen der Lebenshilfe 8 % bis 12 % der Personen mit Lernschwierigkeiten zugleich als „autistisch“ eingeschätzt werden können.
Gleichwohl ist es auch bei Frage nach der Prävalenz von Autismus bei Menschen, denen eine „geistig Behinderung“ nachgesagt wird, schwierig, zu verlässlichen Daten zu gelangen. Das zeigt gleichfalls eine aktuelle großangelegte Untersuchung in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe in Baden-Württemberg (vgl. Theunissen u. a. 2018; Theunissen & Kulig 2019). Nach Befragung von leitenden Mitarbeiter*innen hatten 25 % der 433 erfassten Erwachsenen mit (schwerwiegendem) herausforderndem Verhalten aus den Sondergruppen und 16 % der 185 erfassten Erwachsenen mit herausforderndem Verhalten aus dem Regelwohnen eine Autismus-Diagnose (v. a. „frühkindlicher Autismus“); und 12 % der Personen aus den Sondergruppen sowie 18 % aus dem Regelwohnen wurden zusätzlich zu einer kognitiven Beeinträchtigung und zu Verhaltensauffälligkeiten „autistische Züge“ (z. B. nur repetitives oder stereotypes Verhalten; stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Routine) attestiert. An dieser Stelle schimmern Vorstellungen und Zuschreibungen durch, „die nicht zu dem passen, was ‚Autismus‘ im Kern ausmacht“ (Schmidt 2020, 231), wohl aber eine Normabweichung signalisieren, die von befragten Personen als eine pädagogisch-therapeutische Herausforderung betrachtet wird.
Das gilt ebenso für eingeschränkte Kommunikationsfähigkeiten, die vermutlich 25 % bis 30 % aller Personen mit „Doppeldiagnose“ („Intelligenzminderung“ und „Autismus-Spektrum-Störung“) betreffen (vgl. Jack & Pelphrey 2017, 2).
Letztlich kommt es für die Praxis aber nicht darauf an, ob wir es im Rahmen komplexer Beeinträchtigungen mit dieser „Doppeldiagnose“ oder umgekehrt mit Autismus und Lernschwierigkeiten zu tun haben. Entscheidend ist, jede betroffene Person in ihrem So-Sein, ihren Beeinträchtigungen und Stärken zu erschließen, um ihr durch geeignete Unterstützungsmaßnahmen eine optimale Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu ermöglichen. Wieweit es dabei den Autismus zu priorisieren gilt, soll im Folgenden diskutiert werden.