Читать книгу Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen - Georg Theunissen - Страница 27
Intelligenz und Auswirkungen
ОглавлениеDie Annahme der erhöhten wahrnehmungsbezogenen Funktionsfähigkeit (Detailorientierung) gab in den letzten Jahren erneut Anlass, die Intelligenz von Personen mit dem sogenannten „klassischen“ Autismus, denen Lernschwierigkeiten („Intelligenzminderung“) nachgesagt werden, zu untersuchen (vgl. Courchesne et al. 2015; Dawson et al. 2007; Mottron 2011).
Dabei bestätigten sich ältere Befunde, dass autistische Personen mit „Intelligenzminderung“ besondere Fähigkeiten zeigen, sich an Einzelheiten zu orientieren und Details zu verarbeiten, wenn es um Aufgaben geht, die räumlich-konstruktive Leistungen abverlangen. So wurde bereits zum Beginn der 1980er Jahre festgestellt, dass autistische Kinder und Jugendliche mit unterdurchschnittlicher Intelligenz (IQ von 50–70) nicht-autistischen Gleichaltrigen mit Lernschwierigkeiten sowie „normal“ entwickelten Schüler*innen im Entdecken von (geometrischen) Figuren, die in größeren Figuren (Bildern, Mustern) eingebettet waren, überlegen waren (vgl. Sha und Frith 1983). Ferner waren wiederum neben deutlichen Schwächen in allen anderen Untertests des Wechsler-Intelligenztests herausragende Leistungen im Mosaik-Untertest (Nachlegen von Mustervorlagen aus rot und weiß geometrisch bemalten Würfeln) sowie beim Zusammenlegen und Vervollständigen von Bildern (Figurenlegen) und eines an Einzelheiten orientierten Zeichenstils beobachtet worden (vgl. Muth, Hönekopp & Falter 2014; Charman et al. 2011; Mottron & Belleville 1993; Sha & Frith 1993;Theunissen & Schubert 2010, 138 f.).
Eine Meta-Analyse von Muth, Hönekopp und Falter (2014, 17) führt zu der Schlussfolgerung, dass nicht alle autistischen Personen bei visuell-räumlichen Aufgaben herausragende Fähigkeiten zeigen. Dennoch kann bei Personen, denen ein „klassischer“ Autismus und unterdurchschnittliche Intelligenz oder kognitive Beeinträchtigungen nachgesagt werden, eine besondere Stärke im entsprechenden Intelligenzprofil beobachtet werden (dazu auch Brown, Chouinard & Crewther 2017, 2). Diese Stärke betrifft das Wahrnehmen und Verarbeiten kleinster Details eines Gegenstandes, eine geringe Beeinflussung der Detailwahrnehmung durch Kontexte und das Erkennen verdeckter oder hintergründiger Muster oder Figuren sowie von Unterschieden an Objekten, die gleich sein sollen. Unseres Erachtens handelt es sich hierbei um eine Form „autistischer Intelligenz“, die zudem mit beachtlichen Gedächtnisleistungen verbunden sein kann.
Zwei Beispiele
Beim ersten Beispiel geht es um einen autistischen Mann, der mit vielen sozialen Situationen nicht zurechtkam, keine sozialen Kontakte hatte, bei seiner Mutter wohnte, den ganzen Tag vor seinem Computer saß und spielte oder sich Dokumentationen im Fernseher ansah, als „minderintelligent betrachtet“ wurde, „eine Art Sonderschule für hyperaktive Kinder besucht (hatte, d. A.), obwohl er genau das Gegenteil von hyperaktiv war und ist, und (…) weder lesen noch schreiben“ konnte (Seng zit. in: Kohl, Seng & Gatti 2017, 355). Im Rahmen eines Workshops „Autistische Fähigkeiten“ zeigte sich aber schnell, „dass er ein phänomenales Gedächtnis vor allen Dingen auch für Bilder hatte. Er kam mir manchmal vor wie eine Datenbank, in der vor allen Dingen die Dokus, die er gesehen hatte, abgespeichert waren. Er ist auch ein sehr rigider logischer Denker. (…) So lernte er auch – weitgehend selbstständig – lesen und schreiben, als ihm klar wurde, dass das Sinn machen kann.“
Das zweite Beispiel stammt von Eltern eines nicht-sprechenden, autistischen Sohnes, dem eine „geistige Behinderung“ nachgesagt wurde. Pädagogisch unbeachtet blieb hingegen sein „fotografisches“ Gedächtnis. So habe er sie z. B. zwei Jahre, nachdem sie einen vom Heimatort etwa 750 Kilometer entfernten Ferienpark besucht hatten, mit ihrem Auto nach Verlassen der Autobahn durch mehrere Ortschaften unmittelbar zum Ferienhaus mit seiner Körpersprache und Mimik gelotst (dazu auch Huo et al. 2000, 33).
Aus Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren geht hervor, dass Betroffene bei diesen Aktivitäten im Unterschied zu nicht-autistischen Personen weniger frontale Hirnbereiche nutzen als vielmehr erweiterte lokale Prozesse in visuellen Bereichen zeigen (Muth et al. 2014, 16). Das entspricht dem „Bottom-up-Denken“, einer datengeleiteten Informationsverarbeitung, die dem kontextgeleiteten „Top-down-Denken“ nicht-autistischer Menschen keinesfalls unterlegen ist.
Das zeigen die Untersuchungsbefunde mit dem Mosaik-Test (block design) und „eingebetteten Figuren-Test“ (embedded figures test), die nicht nur bessere oder vergleichbare Leistungen autistischer Personen mit Lernschwierigkeiten gegenüber nicht-autistischen Kontrollgruppen, sondern zugleich interessante Erkenntnisse im Hinblick auf IQ-Werte dokumentieren. Denn allem Anschein nach bewegen sich die bei vielen der betroffenen autistischen Personen ermittelten IQ-Werte, die sich aus den beiden genannten Untertests ergeben, in etwa auf dem gleichen Level wie IQ-Werte, die aus sprachfreien Intelligenztests (z. B. nach Raven-Matrizen) hervorgehen (vgl. Soulières et al. 2011, 3). Diese Verfahren gelten genauso wie sprachgebundene (Wechsler-Intelligenztests) als zuverlässig und brauchbar zur Erfassung der allgemeinen Intelligenz. Anstelle kognitiver Fähigkeiten im sprachlichen oder numerischen Bereich messen sie andere zentrale Leistungen wie z. B. die Fähigkeit, strukturiert, klar und logisch zu denken oder Schlussfolgerungen zu ziehen, Abstraktionsleistungen sowie die sogenannte flüssige Intelligenz (bezogen auf Fähigkeiten wie z. B. Problemlösung, Mustererkennung) in Verbindung mit exekutiven Funktionen (Handlungsplanung, motorische Umsetzung, Kontrolle, Aufmerksamkeitssteuerung, Arbeitsgedächtnis). Beim Raven-Matrizen-Test geht es darum, unvollständige Muster zu verstehen und zu ergänzen, wobei die entsprechenden Aufgaben nach dem Schwierigkeitsgrad aufsteigend (progressiv) angeordnet sind.
Die genannten Test-Befunde stützen einerseits die Annahme einer besonderen Stärke in der Detailwahrnehmung, Detailverarbeitung und visuellen Diskriminierung bei Autist*innen mit unterdurchschnittlicher Intelligenz, die sich aus allen anderen Untertests der Wechsler-Verfahren ergibt. Andererseits lassen sie den Schluss zu, dass die Intelligenz das ist, was ein Test misst (vgl. Liungman 1973, 13; Yam 2000, 6) und dass vor allem bei nicht-sprechenden Menschen aus dem Autismus-Spektrum sprachgebundene Verfahren gänzlich ungeeignet sind, einen globalen IQ-Wert zu bestimmen.
Daher wird heute empfohlen, die Intelligenz bei autistischen Personen (insbesondere bei Verdacht auf unterdurchschnittlicher Intelligenz) mit sprachfreien Tests zu messen (vgl. Soulières et al. 2011; Mottron 2011). Allerdings scheinen diese Verfahren die allgemeine Intelligenz von betroffenen Personen mit der Diagnose „frühkindlicher Autismus“ eher zu überschätzen (vgl. Bölte, Dziobek & Poustka 2009; Fangmeier & Rauh 2015). Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass ihre Intelligenz bisher deutlich unterschätzt wurde und dass der Anteil an autistischen Personen mit unterdurchschnittlicher Intelligenz wesentlich geringer sein dürfte als bisher angenommen wurde (vgl. Courchesne et al. 2015; auch Baron-Cohen et al. 2009).
Merkbox
„Die detailorientierte Wahrnehmung weist besondere Stärken auf, so dass beispielsweise kleinste Gegenstände auf einem Hintergrund erkannt werden können. In der Muster- und Fehlererkennung zeigen Autisten ein großes Talent. (…) Sie können sich unter gegebenen Bedingungen besonders gut auf kleine Details fokussieren und verharren dort konzentriert. Man nennt dies auch Hyperfokus. Hingegen fällt es ihnen schwerer, sich auf das Gesamtbild zu konzentrieren und dieses als solches wahrzunehmen. (…)
Generell werden Reize nach der visuellen Reizaufnahme bzgl. ihrer Merkmale analysiert und zusammengefügt. Bei autistischen Menschen wurden Unterschiede in der Aufmerksamkeit für Reize festgestellt. So orientierten sich Autisten an anderen Hinweisreizen als die meisten Menschen. Autisten zeigten hier jedoch keine verminderte Aufmerksamkeit. Wurde ein visueller Reiz einmal von einem Autisten fokussiert, ließen diese sich schwerer in ihrer Aufmerksamkeit wieder davon losreißen. Teilweise entstand sogar eine Art ‚Tunnelblick‘, wobei sich Autisten auf Teilausschnitte eines Gesamtbilds fokussierten. Autisten lassen sich weniger vom Kontext, als von Einzelreizen beeinflussen. Auch lassen sich somit teilweise die häufig auftretenden Probleme mit der Gesichtserkennung autistischer Menschen erklären. Denn diese fungieren eher detailorientiert und weniger auf das Gesamtbild ausgerichtet. Gesichter werden sozusagen in ihre ‚Bruchstücke‘ zerlegt. Es wird zudem vermutet, dass sich Emotionen von autistischen Menschen deshalb schwieriger von Gesichtern ablesen lassen könnten“ (Groß 2020).