Читать книгу Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen - Georg Theunissen - Страница 30

Zur Frage der primären Behinderung

Оглавление

In den letzten Jahren mehren sich in der klinischen Fachwelt Stimmen, Autismus als eine „Basisstörung“ (Tebartz van Elst 2015) zu betrachten, die für weitere psychische Störungen wegbereitend sein kann. Wenngleich aus der Sicht der Selbstvertretungsbewegung (ASAN) Autismus nicht per se eine Störung darstellt, teilen gleichfalls Betroffene die Auffassung, dass das autistische Sein als Ausdruck von Neurodiversität für psychosoziale Probleme, psychische Krisen oder spezifische Erkrankungen besonders sensibel sein kann und bei komplexen Beeinträchtigungen (Lernschwierigkeiten, mehrfachen Behinderungen, psychischen Störungen) priorisierte Beachtung finden sollte (vgl. Kapp 2020; Craine 2020; Pripas-Kapit 2020).

Begründen lässt sich dies durch die Spezifizität und Einzigartigkeit der Merkmale des Autismus-Spektrums, die in pädagogischen und anderen sozialen Situationen häufig deutliche Normabweichungen auf der Verhaltensebene hervorrufen, welche nicht nur einen verstehenden Umgang, sondern ebenso die Bereitschaft erfordern, Autismus als menschliches „So-Sein“ einer Neurodiversität anzuerkennen und ggf. unkonventionelle Maßnahmen (z. B. in Bezug auf Kontextveränderungen) zuzulassen (vgl. Schmidt 2020; Vero 2020).

Nach unseren Erfahrungen werden Kinder mit der Diagnose „frühkindlicher Autismus“ ebenso wie Heranwachsende, die als „geistig behindert“ und zugleich als „autistisch“ gelten, im Erwachsenenalter zumeist in Einrichtungen der Behindertenhilfe untergebracht, die sich auf die Pflege, Unterstützung und Förderung von Menschen mit Lernschwierigkeiten, mehrfachen Behinderungen und hohem Unterstützungsbedarf spezialisiert haben. Diese Spezialisierung hat eine lange Tradition und reicht zurück in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als erste „Idiotenanstalten“ gegründet wurden (vgl. Theunissen 2021c). Im Zuge dieser Entwicklung kam es zu einer „Psychiatrisierung“ der Behindertenhilfe, die den meisten Menschen mit Lernschwierigkeiten oder komplexen Beeinträchtigungen weitaus mehr geschadet als genutzt hatte.

Heute gilt diese Phase als weithin überwunden. Dazu haben gesellschaftspolitische Entwicklungen, insbesondere Einflüsse von Empowerment-Bewegungen Eltern behinderter Kinder, Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen (People First, Self Advocates Becoming Empowered, ASAN) sowie Erkenntnisse aus der Forschung und Praxis maßgeblich beigetragen. Bemerkenswert ist eine Fülle an therapeutischen und (heil-)pädagogischen Konzepten und Methoden (vgl. Wüllenweber & Theunissen 2020; Theunissen 2021b), die der Behindertenhilfe Empfehlungen und das Rüstzeug für eine „best practice“ bietet.

Da diese Anregungen in erster Linie die Arbeit mit kognitiv beeinträchtigten („geistig behinderten“) Personen reflektieren, besteht allerdings die Gefahr, dass bei Betroffenen, die zugleich als autistisch gelten, der Autismus gegenüber einer diagnostizierten oder angenommenen „Intelligenzminderung“ als nachrangig betrachtet wird.

In der Tat ist dieses Problem in Sonderwohngruppen11 großer Einrichtungen der Behindertenhilfe beobachtet worden (vgl. Theunissen u. a. 2018; 2019).

Was in dem Zusammenhang kritisch gesehen werden muss, ist die festgestellte Unkenntnis über Autismus, der oft nur mit repetitiven, stereotypen und zwanghaften Verhaltensweisen sowie einem selbstverletzenden oder destruktiven Verhalten assoziiert wird. Dieses klischeehafte Unwissen wirkt sich insbesondere auf kaum oder nicht-sprechende Personen ungünstig aus, die zugleich als kognitiv beeinträchtigt („geistig behindert“) und autistisch gelten. Nicht selten stoßen wir an dieser Stelle auf eine restriktive Praxis, die darauf zielt, die betroffene Person an bestehende Verhältnisse anzupassen und das (vermeintlich) autistische Verhalten „in ein nicht-autistisches umzuformen“ (Greenburg & Rosa 2020, 158). Stattdessen ist eine „verstehende Sicht und Arbeitsweise geboten, bei der es das einzigartige Set an intellektuellen, visuellen, sensorischen, kommunikativen und motorischen Fähigkeiten“ (ebd.) sowie einen atypischen Entwicklungsverlauf bei betroffenen Personen zu beachten gilt (vgl. auch Mottron 2017).

Merkbox

„Man möchte, dass Kinder mit störendem Verhalten sich an die Normalität anpassen, anstatt, wenn das Kind sich nicht verbal ausdrücken kann, zu versuchen, sein Verhalten zu verstehen und seine Botschaft zu erkennen. Wenn man aber dem, der ein störendes Verhalten an den Tag legt, mit Neugier und Interesse begegnet, und wenn man mit ihm spricht, ohne selbst von zahlreichen Diagnosen und Urteilen blockiert zu sein, dann kann der andere erzählen, worum es ihm wirklich geht“ (Johansson 2019, 393).

Genau diese Erkenntnis wird ignoriert, wenn autistische Erwachsene mit diagnostizierter oder nachgesagter Intelligenzminderung und schwerwiegendem herausforderndem Verhalten wie nicht-autistische Erwachsene mit sogenannter geistiger Behinderung nach dem „Schema der emotionalen Orientierung“ (SEO)12 untersucht und behandelt werden. Wie problematisch diese Praxis sein kann, ist dem folgenden Beispiel eines Bewohners einer therapeutischen Wohngruppe (TWG) zu entnehmen:

Ein Beispiel aus der Praxis

Der TWG-Bewohner Herr M. (Diagnose „frühkindlicher Autismus“) ist 25 Jahre alt, spricht nicht und gilt aufgrund seiner stark ausgeprägten Neigung, Dinge zu zerstören oder Kleidung zu zerreißen als massiv verhaltensauffällig. Als in der TWG sein auffälliges Verhalten eskalierte, wurde er in einer „Fachklinik für Menschen mit geistiger Behinderung“ unter anderem mit dem SEO untersucht. Das Ergebnis war, dass sein (sozio-)emotionales Verhalten dem Alter eines sechs Monate alten Säuglings zugeordnet wurde. Den Mitarbeiter*innen seiner Wohngruppe wurde empfohlen, dieses sehr frühe emotionale Entwicklungsniveau konzeptionell zu beachten. Diesem Rat folgend kam das Team zu der Überzeugung, dass es am besten sei, basale Entwicklungsprozesse durch ein Bällchenbad zu fördern und zugleich über eine Bezugsbetreuung eine entwicklungsfreundliche Beziehung aufzubauen. Gänzlich ignoriert wurden die vorhandenen Fähigkeiten und Stärken von Herrn M., sein kognitives und (senso-)motorisches Entwicklungsniveau sowie seine spezifischen autistischen Merkmale. So ist er beispielsweise in der Lage Wörter aufzuschreiben und Wünsche zu äußern. Ferner ist er ein guter Schwimmer. Außerdem zeichnet er sich durch eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe aus und scheint wohl soziale Stimmungen und Situationen rasch zu erfassen. Nach G. Vero (2020, 23 f.) würden wir ihm hier die Fähigkeit des „Sensing“ attestieren. Schon nach wenigen Wochen kündigte sich das Scheitern des reduktionistischen Ansatzes nach dem SEO an, sodass sich an der „gefängnisartigen“ Situation, der Herr M. schon seit geraumer Zeit ausgesetzt ist (vgl. Theunissen u. a. 2018, 453 ff.), bis heute nichts geändert hat.

Unser Beispiel zeigt auf, was Fehlinterpretationen oder Missverständnisse bewirken können, wenn die Entwicklung eines Menschen nur auf eine Dimension reduziert, kein Bezug zur Lebensgeschichte, zu individuellen Erfahrungen, Fähigkeiten und Stärken sowie zur Lebenssituation (z. B. institutionelle, isolierende Bedingungen; Gruppenwohnen) hergestellt und reflektiert wird. Herr M. wurde mit etwa neun Jahren als „autistisch“ diagnostiziert, jedoch schon seit seiner Kindheit immer als „geistig behindert“ und schwer verhaltensauffällig betrachtet (vgl. ebd., 423 ff.). Dadurch war letztlich im Zuge seiner Institutionalisierung der Blick für seine Fähigkeiten und Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten verloren gegangen. Das hätte durch eine Zusammenarbeit mit seinen Eltern vermieden werden können. Stattdessen wurden ihre Ansichten und wertvollen Erfahrungen mit ihrem Sohn übergangen, nicht ernst genommen und entwertet.

Dieses Beispiel ist kein Einzelfall. Es soll verdeutlichen, dass es ein Kunstfehler in der Diagnostik, Förderung und Unterstützung von autistischen Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen ist, wenn nicht mit gleicher Akribie wie bei der Erfassung klinischer Symptome und Defizite nach Stärken, Fähigkeiten, Interessen und Potenzialen Ausschau gehalten wird. Da nach heutigem Wissensstand allen Personen aus dem Autismus-Spektrum besondere Stärken zugeschrieben werden können (vgl. Baron-Cohen 2009, 1380; Courchesne et al. 2015; Markram & Markram 2010), ist die Durchführung eines Stärken-Assessment sinnvoll. Dieses sollte mindestens halbjährlich möglichst mit der Person gemeinsam durchgeführt werden (vgl. Wüllenweber 2020c). Das stellt sich jedoch in der Arbeit mit Personen, die als schwer autistisch, kognitiv beeinträchtigt und kommunikationseingeschränkt gelten, mitunter sehr schwierig dar. In dem Fall bedarf es vorgeschalteter und mehrmals jährlich durchgeführter Erkundungsphasen; z. B. durch Schaffung stimulierender Situationen für Aktivitäten, durch Spiegeln von Verhalten, parallele und gemeinsame Aktivitäten − letztlich durch Ausprobieren, Experimentieren und Beobachten, um Anhaltspunkte für vorhandene, versandete oder potenzielle Stärken zu finden.

Ein Stärken-Assessment bezieht sich auf verschiedene Bereiche, die miteinander verzahnt sein können. Die folgende Abbildung greift für unsere Bezugsgruppe relevante Aspekte auf.

Bereiche und Beispiele für ein Stärken-Assessment

(1)Sozialverhalten (z. B. Hilfsbereitschaft, Mitgefühl zeigen, anderen vertrauen, von sich aus Beziehungen aufnehmen, kooperieren, mitgestalten, mitsprechen und mitbestimmen wollen)

(2)Kommunikative Mitteilungsformen (z. B. Wünsche, Bedürfnisse äußern, eigenen Willen bekunden, andere um Hilfe bitten, sich durch Mimik und Gestik verständigen)

(3)Selbstbestimmung (z. B. eigene Auswahl- und Entscheidungen treffen)

(4)Wahrnehmung (z. B. winzige Details wahrnehmen; Dinge durch Beklopfen, Befühlen, Beschnuppern etc. erkunden; Vorliebe für Buchstaben oder Muster [siehe Kapitel II Hyperlexie])

(5)Psychisches/emotionales Verhalten (z. B. Ausgeglichenheit, genießen, entspannen können, humorvoll sein, durch gute Laune Andere erfreuen)

(6)Motorisches Verhalten (z. B. eigenes Befinden körperlich ausdrücken, Kraft haben, Handgeschick zeigen, körperliche Ausdauer)

(7)Identität/Selbst-Bild (z. B. eigene Stärken oder Fähigkeiten (an-)erkennen, eigene Meinungen bzw. sich selbst vertreten, Selbstvertrauen, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Fähigkeiten und eigene Kräfte realistisch einschätzen, sich selbst annehmen können, über eigene Erfolge, Stärken oder Problemlösungen berichten können)

(8)Selbstständigkeit und eigenständig-verantwortliches Handeln (z. B. bei der Körperpflege oder bei lebenspraktischen Tätigkeiten, im Umgang mit Elektrogeräten, im öffentlichen Raum, Ergreifen von Initiative)

(9)Arbeitsverhalten (z. B. Fleiß, Ausdauer, Konzentration, Sorgfalt)

(10)Spezielle Interessen und Hobbys (z. B. vom einfachen Sammeln von Steinen bis zu Musik hören, Malen, ein Musikinstrument spielen, Puzzeln, mit der Bahn fahren, wandern)

(11)Spezielle (Savant-)Fähigkeiten, Leistungen und Talente (z. B. enzyklopädisches Wissen über bestimmte Dinge, außergewöhnliche Gedächtnisleistungen, kreative Wortschöpfungen, soziale Stimmungen durch das „Sensing“ erfassen)

(12)Spezielle Tugenden und ethische Haltungen (z. B. Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Gerechtigkeitsempfinden, Zuverlässigkeit, Gradlinigkeit, Loyalität, Höflichkeit, Fairness, Vertrauenswürdigkeit, Perfektionismus, Ordnungsliebe, Wertschätzung und Einhaltung von Regeln)

Ohne Zweifel ist ein Stärken-Assessment für alle behinderten Menschen – unabhängig der Art oder Schwere einer Beeinträchtigung – sinnvoll. Zudem hat es zunächst einmal nichts mit der Priorisierung des Autismus zu tun. Gleichwohl lässt die Erschließung von Stärken bei autistischen Personen mit komplexen Beeinträchtigungen den speziellen Charakter erkennen, der für Autismus typisch ist. Das betrifft insbesondere den Bereich der Tugenden, Interessen und der Wahrnehmung, den Baron-Cohen und Team (2009) aufgegriffen hat, um „Implikationen für die pädagogische Praxis“ (ebd., 1379) deutlich zu machen.

Sie führen uns vor Augen, dass basale, einfache oder anspruchslose Verhaltensweisen spezielle Stärken darstellen, die aus der Perspektive der Betroffenen ebenso wertvoll und bedeutsam sind wie außergewöhnliche Fähigkeiten von Personen mit dem sogenannten Asperger-Syndrom oder von „hochfunktionalen Autist*innen“.

Beispiele für solche „einfachen Stärken“ als subjektiv bedeutsame Verhaltensweisen (vgl. ebd., 1379) sind auf sensorischem Gebiet das immer wiederkehrende Betippen von Oberflächen oder wiederholende Sandrieseln zwischen den Fingern oder das tägliche Beharren auf denselben Speisen; auf motorischem Gebiet das Hin- und Herschaukeln, das physische „Stimming“ oder ein langanhaltendes Schaukeln; auf kognitivem Gebiet das Sammeln oder Auflisten von einfachen Dingen, das Erstellen von Tabellen, das (ausdauernde) Beobachten des Waschvorgangs der Wäsche, des Backvorgangs eines Kuchens oder des Drehens eines Windrades; auf sprachlichem Gebiet das Erzeugen von Echolalie; auf kognitiv-multisensorischem Gebiet das immer wiederkehrende Bedürfnis, einen bestimmten Videofilm anzuschauen; auf sozial-kognitivem Gebiet das Einhalten bestimmter Regeln, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Ordnungsliebe.

Begründet werden viele dieser Stärken mit der Theorie des „Systematisierens“ (systemizing), die auf das Verlangen (Bedürfnis) aller autistischer Menschen verweist, „Systeme zu analysieren oder zu konstruieren“ (ebd., 1377). Aus Sicht der Autor*innen liegen einem System Regeln zugrunde, die eine Person „beim ‚Systematisieren‘ herauszufinden versucht, um zukünftig voraussagen zu können, wie ein System funktionieren wird“ (ebd.). Dieses Verhalten tritt bei autistischen Personen als ein „Hyper-Systematisieren“ auf, ist „Teil ihres kognitiven Stils“ und erklärt u. a. die „nicht-soziale Prioritätensetzung“ (Lawson 2011, 122 ff.) und Selbstbezogenheit. Hierbei werden gegenüber dem Interesse an Personen, Interaktionen oder sozialen Situationen sachbezogene, enge Interessen, die Beschäftigung mit Objekten, repetitives Verhalten sowie das Einhalten von Regeln und das Bedürfnis nach Ordnung und Gleichförmigkeit bevorzugt. „Für ein Systematisieren ist es am besten, alles konstant zu halten“ (Baron-Cohen et al. 2009, 1378). Dies erleichtert, einzelne Veränderungen oder Wiederholungen vorzunehmen, Systeme (Welt) zu verstehen und Ereignisse vorauszusagen.

Bemerkenswert ist der Hinweis, dass sich mit dieser Theorie Stärken, Talente und Potenziale begründen lassen, die sich unmittelbar aus der Detailwahrnehmung ergeben und die bisherigen, in der Autismusliteratur viel zitierten Annahmen der „schwachen zentralen Kohärenz“ oder „mangelnden exekutiven Funktion“13 nicht vorbehaltlos bestätigen. So erfordert z. B. „ein wahres Verstehen eines Systems“ (ebd., 1379) ein Wahrnehmen und Zusammenführen von Details. Insofern darf autistischen Personen keine Unfähigkeit unterstellt werden, Einzelheiten in ein Ganzes zu integrieren; und selbst bei mangelnder (kognitiver) Flexibilität sind sie zumeist im Rahmen intensiver Interessenpflege nicht unfähig, planvoll zu handeln, was die Theorie der exekutiven Dysfunktion nahelegt. In ähnlicher Bahn bewegen sich auch die Anmerkungen von Riedel, Tebartz van Elst und Clausen (2020, 29), wenn auf Untersuchungen verwiesen wird, nach denen die „,schwache zentrale Kohärenz‘ kein kategoriales Defizit ist, sondern vielmehr ein präferierter kognitiver Stil“.

An dieser Stelle merken wir, wie wichtig es ist, den Autismus beim Vorliegen komplexer Beeinträchtigungen zu priorisieren, um individuellen Bedürfnissen, Stärken und Fähigkeiten Rechnung tragen zu können. Die Theorie des „Systematisierens“ trägt wesentlich zum Verstehen von Verhalten bei, macht z. B. auch deutlich, warum Betroffene Schwierigkeiten haben, mehrere Reize gleichzeitig zu verarbeiten oder Dinge zeitgleich auszuführen (Multitasking), mit einer Tätigkeit von vorne beginnen, wenn sie bei ihrem Tun unterbrochen wurden, sich oft nur langsam von einer Aufgabe oder einer Detailfokussierung lösen können, längere Zeit benötigen, ihre Aufmerksamkeit zu wechseln, sich im Rahmen einer Tätigkeit nicht durch Kontexte irritieren lassen oder aber Widerstand leisten, wenn sie bei der Ausführung eines Auftrags durch andere gestört werden.

Solche Verhaltensweisen sind bei autistischen Personen mit komplexen Beeinträchtigungen in der Regel stärker ausgeprägt als bei nicht-autistischen Menschen mit Lernschwierigkeiten. Funktional betrachtet dienen sie im Sinne des „Systematisierens“ der Aneignung von Welt. Zudem geht es beim Sammeln, Ordnen und Strukturieren z.T. auch um Tätigkeiten aus reinem Vergnügen heraus. Problematisch sind unvorhersehbare, plötzliche Störungen des Gewohnten einzuschätzen, die Abweichungen von der Routine, von der üblichen Ordnung oder von liebgewonnenen Gewissheiten erfordern (vgl. Favre et al. 2015). Das erzeugt Stress, Panik und Ängste und führt zu einem „Überlebenskampf“ (vgl. Schmidt 2020b), der in Form von Meltdown, Wut, Fremdaggression, selbstverletzendem Verhalten oder auch durch Flucht, Rückzug oder Shutdown zutage treten kann.

„Für mich ist es (…) ein Stressor, wenn das Original schief auf dem Kopierer lag und ich dann keine ‚gerade‘ Kopie vor mir liegen hatte. Es sind diese kleinen Dinge, die nicht-autistische Menschen einfach ignorieren können, weil sie ja eigentlich auch wirklich unwichtig sind. Aber bei autistischen Menschen ist dies eben anders“ (Vero 2020, 216). Über ähnliche Situationen, die als ausgesprochen anstrengend, stresshaft erlebt werden, berichtet die Autistin Judith Visser (2019, 68): „Ich musste auf so vieles gleichzeitig achten. Aufpassen, dass ich nichts umstieß, zuhören, was die anderen sagten, nicht die Augen zumachen. Nein, auch nicht bloß für eine Sekunde“; und wenige Zeilen später heißt es: „Die jugoslawischen Klänge überschlugen sich, und in meiner Lunge war kein Sauerstoff mehr, nur der Geruch von Pfannkuchen, unzähligen Pfannkuchen. Alle Gerüche, Farben und Geräusche prallten in meinem Kopf aufeinander, mit solcher Wucht, dass ich dachte, mein Schädel würde zersplittern.“ Begegnen mehrere solche „Kleinigkeiten“ einer autistischen Person an einem Tag, kann dies schließlich bei dem letzten Ereignis zum Meltdown führen, „wobei diese Kleinigkeit an sich nicht die eigentliche Ursache ist“ (Schmidt 2020, 192). Vielmehr ist es die Fülle an Stressoren, die „eine Konzentration mit Anforderungen (erzeugen; d. A.), die nicht zur Natur des Autisten passen“ (ebd., 56). Das kann Overload, eine nicht mehr kompensierbare Reizüberflutung bedeuten und einen unbeabsichtigten Meltdown provozieren – als Ausdruck emotionaler Verzweiflung provozieren, „weil tiefgreifende Bedürfnisse akut bedroht sind“ (ebd., 57).


Pädagogischer Tipp

•Sich mit dem Bedürfnis des „Systematisierens“ sowie den Funktionen der entsprechenden Verhaltensweisen vertraut machen;

•sich auf das entsprechende Verhalten gelassen einstellen;

•Stimming als Entlastungsstrategie unterstützen;

•Situationen möglichst vorhersagbar und konstant halten (von einer erwarteten Situation profitieren vor allem hoch empfindliche Personen);

•Strukturierungshilfen (visualisierte Tages- oder Handlungsabläufe) gemeinsam erarbeiten.

Wird der Autismus priorisiert, sollten wir uns zunächst einmal typische Unterschiede zwischen Autismus und kognitiver Beeinträchtigung (sog. geistiger Behinderung) vor Augen halten.

Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen

Подняться наверх