Читать книгу Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen - Georg Theunissen - Страница 32
ОглавлениеSo kann z. B. eine Tätigkeit, bei der ein Ordnungssinn (z. B. Aneinanderreihung bestimmter Dinge) oder eine Vorliebe für Routine und Rituale eine Rolle spielen, auch bei kognitiv beeinträchtigten Personen ohne Autismus-Diagnose hervortreten. In dem Fall sollte ein entwicklungsverzögertes Spielverhalten reflektiert werden, das im frühen Kindesalter vorübergehend beobachtbar ist. Ebenso kann die Tätigkeit isolierenden Lebensbedingungen (Hospitalisierung) geschuldet und dementsprechend funktional (subjektiv) bedeutsam sein.
Eine differenzierte Betrachtung ist gleichfalls beim sogenannten stereotypen oder repetitiven Verhalten geboten. Es macht nämlich einen Unterschied, ob sich jemand aufgrund eines anregungsarmen Lebensmilieus (z. B. Anstaltssituation, Leben in einer großen Heimgruppe, Pflegestation) selbst stimuliert (z. B. durch Schaukeln mit dem Oberkörper) oder ob ein solches Verhalten zum Spannungsabbau und zur Beruhigung eingesetzt wird. Bei einer hospitalisierten, nicht-autistischen Person mit Lernschwierigkeiten „wird dieses Verhalten nicht selten durch eine unzureichende, stimulierende Umgebung verursacht (…). Bei autistischen Personen kann hingegen das stereotype Verhalten ein Weg sein, einer Reizüberflutung zu entkommen oder einen optimalen Erregungszustand herzustellen. In beiden Fällen wird die Art des Umgangs mit dem stereotypen Verhalten unterschiedlich sein, indem entweder verstärkt Stimulationen angeboten werden oder eine Reizüberflutung reduziert wird“ (De Vaan et al. 2013, 493).
Eine über das „Systematisieren“ hinausgehende Priorisierung des Autismus ergibt sich aus weiteren spezifischen Aspekten, die nicht nur das selbstbezügliche, selbstbestimmte Lernverhalten und Denken, sondern das Kommunikations- und Sozialverhalten betreffen.
Etwa ein Drittel unserer Bezugsgruppe zeigt eingeschränkte Kommunikationsformen, die allzu leicht eine kognitive Beeinträchtigung (Intelligenzminderung) vortäuschen. Daher sollten autistische Besonderheiten in der sozialen Kommunikation unbedingt beachtet werden. Zudem haben wir es oft mit „konkreten Denkern“ zu tun, die die Sprache wörtlich nehmen oder Schwierigkeiten haben, „intuitiv Gemeintes“, Ironie, Redewendungen sowie rhetorische Rückfragen zu verstehen. Daher bedarf es einer eindeutigen Form der Kommunikation.
Im Unterschied zu nicht-autistischen Menschen mit Lernschwierigkeiten gehen Autist*innen mit komplexen Beeinträchtigungen seltener auf andere Personen zu, vielmehr meiden sie den sozialen Kontakt und ziehen sich eher zurück. Ist dieses Verhalten nicht auf eine Hospitalisierung zurückzuführen, sollte es als Ausdruck einer Selbstbezogenheit akzeptiert werden. Gemeinschaftliche Wohnformen können in dem Fall der Priorisierung des Autismus im Wege stehen.
Abschließend sei erwähnt, dass es freilich Situationen geben kann, in denen bestimmte Begleiterscheinungen wie z. B. Epilepsie einen derart schweren Verlauf nehmen, dass sie eine Primärbehandlung erfordern oder als Primärerkrankung relevant werden (vgl. Kapitel II Epilepsie). Das Thema der Primärbehinderung wird gleichfalls bei ADHS häufig diskutiert (vgl. Tebartz van Elst 2016). Auch in dem Falle wäre die Schwere der Beeinträchtigung bzw. einzelner Merkmale eines Syndroms letztlich das Entscheidungskriterium dafür, welche Erscheinungsformen in der Praxis priorisiert beachtet werden sollten. Wir haben es in solchen Situationen aber meistens mit Ausnahmen denn mit der Regel zu tun.
1International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems/Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (hrsg. von der Weltgesundheitsorganisation [WHO]).
2Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders/Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen (hrsg. von der American Psychiatric Association [APA]).
3Nach neueren Forschungsstudien scheinen bei Autistinnen repetitives Verhalten und Spezialinteressen weniger und das Bedürfnis nach sozialen Kontakten stärker ausgeprägt zu sein als bei Autisten. Zudem können Mädchen/Frauen dem Anschein nach den Autismus besser tarnen als Jungen/Männer (vgl. Szalavitz 2021).
4ABA heißt übersetzt „Applied Behavior Analysis“ (Angewandte Verhaltensanalyse) und steht einerseits für einen Oberbegriff, unter dem verhaltensorientierte Ansätze gefasst werden, bei denen zur Interventionsplanung auslösende Bedingungen für ein unerwünschtes Verhalten sowie Konsequenzen erfasst werden. Andererseits hat sich unter dem Kürzel ABA im Arbeitsbereich Autismus eine restriktive (früher bestrafende) Vorgehensweise als intensive Verhaltenstherapie „verselbstständigt“, die sich durch Fremdbestimmung auszeichnet, ethisch umstritten ist und von Autist*innen scharf kritisiert wird. Der Autist Peter Schmidt (2020, 246) bezeichnet diese zweite Form als „ABA Forte“ und als „eine abzulehnende Therapie, weil sie streng um jeden Preis ohne jede Berücksichtigung individueller Voraussetzungen auch Verhalten dressiert, das für ein Wohlbefinden und ein möglichst selbstständiges Leben nicht unbedingt notwendig ist, wie zum Beispiel das Halten des Blickkontaktes.“
5Gemeint sind damit im Gehirn abgespeicherte Programme, um zum Beispiel die von Lehrkräften abverlangten Aufgaben zu erfüllen.
6Siehe Anhang
7Mit dem Alter des Vaters steigt die Zahl an Neumutationen. „Nach heutiger Kenntnis tragen Neumutationen zu mindestens zehn Prozent aller Fälle von Autismus bei“ (Kandel 2021, 46).
8Dem Anschein nach entwickeln vor allem männliche Föten, die einem erhöhten Testosteronspiegel im Fruchtwasser ausgesetzt sind, später als Kleinkinder verstärkt autistische Merkmale. Autistische Mädchen/Frauen scheinen eher von Genmutationen oder genetischen Belastungen betroffen zu sein (vgl. Szalavitz 2021, 27).
9Vulnerabilität steht für Verwundbarkeit, hohe Reizempfindlichkeit und hohe Reizempfänglichkeit.
10Die Ausführungen beziehen sich auf Hirnbereiche, in denen die Nervenzellen schwach und teilweise außergewöhnlich stark vernetzt sind und die neuronalen Prozesse nicht miteinander abgestimmt oder „gleichzeitig“ ablaufen.
11Hierbei handelt es sich um Wohngruppen, die eigens für sogenannte geistig oder mehrfach behinderte Erwachsene mit schwerwiegendem herausforderndem Verhalten geschaffen wurden.
12Hierbei werden Verhaltens- und Erlebensweisen von Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten („geistiger Behinderung“) mit frühen sozio-emotionalen Entwicklungsphasen verglichen und in Beziehung gesetzt (vgl. Sappok & Zepperitz 2016). Die Gefahr besteht, dass dadurch nicht nur die sozio-emotionale Lebensgeschichte eines Erwachsenen zu wenig Beachtung findet, sondern dass seine gesamte Entwicklung mit ihren Potenzialen (bei autistischen Menschen im kognitiven oder Wahrnehmungsbereich) allzu leicht aus dem Blick gerät. Zudem ist der SEO für autistische Personen ungeeignet, da es schwierig ist, die Besonderheiten der sozialen Interaktion und Emotionalität zu berücksichtigen.
13Nach der Hypothese der „schwachen zentralen Kohärenz“ werden Autist*innen (erhebliche) Schwierigkeiten nachgesagt, aus Details das Gesamtbild (große Ganze) zu erfassen und zu speichern; nach der Hypothese der „mangelnden exekutiven Funktion“ besteht die Beeinträchtigung vor allem darin, sich Handlungsziele zu setzen, eine zielgerichtete Planung vorzunehmen, zielgerichtet mit einer Tätigkeit zu beginnen, eigene Impulse und Handlungen zu kontrollieren, die Aufmerksamkeit zu steuern, das Arbeitsgedächtnis zu nutzen und vor allem kognitiv flexibel zu handeln (z. B. bei unerwarteten Problemen, Hindernissen o. Ä.).