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ОглавлениеDie neue Erscheinung
Vier Jahre später
11. November 1964
Kapitel 6
„Mutti, Mutti, es hat ganz doll geschneit! Mutti, komm’ schnell!“, schrie Georgie begeistert, wobei seine Stimme kippte.
Begeistert hüpfte er am Fenster hin und her.
Er war mit der Gewissheit aufgewacht, dass sich draußen etwas verändert haben musste.
Es war Sonntag und es war noch ganz früh am Morgen. Knapp 9 Uhr.
Kessie würde gleich kommen.
Hinter der grobmaschigen Gardine konnte Georgie die weiße Pracht gar nicht richtig genießen, also zog er hastig den roten Vorhang beiseite und kroch unter die Gardine, dann stützte er sich mit beiden Ellenbogen auf die Fensterbank. Er grub das Kinn in seine kleinen Hände, sodass die Finger seine Ohren berühren konnten. Nach links und rechts spähte er den Weg entlang und wirklich, bis jetzt gab es keine Spuren im frischen Schnee und es schneite noch immer.
Vor seinem Fenster wirbelten dicke Flocken auf und ab.
„Mutti, hast du gesehen?“, rief er abermals.
Eilig griff er nach seinem hellblauen Bademantel, der ordentlich über dem Stuhl links neben dem Fenster abgelegt war und hüpfte zur Tür. Dabei fummelte er sich hastig in einen der Ärmel, riss die Tür auf, die bereits aufgeschlossen war, und stürmte voller Übermut hinaus in die große Pausenhalle. Mit wehendem Bademantel schwebte er über den dunkelroten Lack zur Küche und seine Stimme überschlug sich schrill: „Es schneit, es schneit, es schneit … toll!“
Sein morgendliches Frühstück stand bereits auf dem Tisch … kernige Haferflocken, Traubenzucker, eine zerdrückte Banane und warme Milch. Georgie stieß die Küchentür weit auf. Wie in einem Gemälde baute er sich im Türrahmen auf, stand breitbeinig da, die Hände auf die Hüften gestützt.
Sekundenlang wartete er die Reaktion seiner Mutter ab.
Sein Atem ging schnell.
Doch die Reaktion blieb aus. Vorerst. Seine Mutter stand am Herd und war gerade dabei, den Topf mit der Milch von der Kochplatte zu nehmen. Dann ging sie hinüber zum Tisch, um die Milch über die Haferflocken zu gießen.
Wie gemalt verharrte Georgie in der Pose und wartete ab. Alle Bewegungen seiner Mutter fraß er mit offener Vorfreude. Nun stellte sie den Topf zurück auf den Herd und drehte sich endlich nach ihm um, wobei ein breites Lachen ihre sanften Gesichtszüge aufhellte.
Sie beugte sich vor und breitete die Arme aus.
Unüberhörbar war der Startschuss gefallen.
Georgie stürmte los. Kreischend flog er seiner Mutter entgegen. Mit Schwung hob sie ihn hoch und drehte sich mit ihm zum Fenster, gab ihm einen dicken Kuss auf die Stirn und sagte: „Guten Morgen, du süßer Fratz. Jetzt kannst du’s nicht mehr abwarten, ‚rauszukommen … Ja, ist das nicht herrlich da draußen?“
„Und soooo viel Schnee, guck’ doch!“ Georgies Stimme überschlug sich wieder.
So blieben sie eine Weile am Fenster stehen und spähten hinaus. Beide schienen diesen Moment zu genießen, bis er zu schwer wurde und sie ihn absetzte. Mit einem Klaps auf den Po kam der Satz: „Aber erst mal wird sich gestärkt. Und Georgie, ich mein’ gestärkt … Heute isst du deinen Teller auf, Schatz … und dann ziehst du dich ganz warm an.“ Sie lachte herzlich: „Na, dann komm’, du Held.“
Georgie kletterte hinauf auf seinen Stuhl, während sie mit dem Löffel das Müsli verrührte, dann gab sie ihm den Löffel und sagte in einem kräftigeren Tonfall: „Du ziehst deinen Anorak mit der Fellkapuze an und die blauen Stiefel.“ Sie setzte sich gegenüber an den Tisch, „eine lange Unterhose drunter…den dicken Pulli und die schwarzen Fausthandschuhe … ja, und deinen roten Wollschal.“
Wie ein Tiger zur täglichen Fütterung, fiel er über das Müsli her.
„So hastig brauchst du aber jetzt nicht zu schlingen“, lachte sie, „du hast Zeit genug.“
Sie war eine überaus attraktive Frau Mitte 30. Die gewellten, schwarzen Haare trug sie lang und offen. Ihr dunkler Teint brauchte kein Make-Up und die dunklen Augen funkelten aus einer geradezu fesselnden Tiefe, sodass man Hals über Kopf in ihnen zu versinken drohte.
Sie war mit den erforderlichen Attributen gesegnet, die eine Frau erst richtig zu einer gefährlichen Waffe machte.
Noch vor ein paar Jahren war sie am Theater und auf dem besten Wege, eine gute Schauspielerin zu werden, bis sie wieder schwanger wurde und Georgie auf dem Weg war.
Nach der Geburt kam das unsolide Theaterleben nicht mehr infrage. Schlagartig hatte sich die Verantwortung verdoppelt.
Bereut hatte sie die Entscheidung zu keiner Zeit.
Die Fellkapuze zog Georgie ganz tief ins Gesicht, da ihm eisiger Wind entgegenwehte und die Sicht beträchtlich einschränkte, zumal dicke Schneeflocken vor ihm hertrieben.
Sein Atem wollte vor seinen Lippen gefrieren, während die Sonne ihr Lachen hinter einer weißgetünchten Wolkendecke versteckte. Das signalisierte ihm eisesgleich, dass das Schneetreiben wohl noch lange anhalten würde. Mit einiger Mühe stellte er den Schlitten hochkant auf die oberste Stufe des Treppenportals, das insgesamt fünf Stufen zählte. Nur am Wochenende war das große Gittertor geschlossen, dann war das Werksgelände für Autofahrer gesperrt.
Wenn also niemand im Werk arbeitete, dann bestimmte er den Ablauf aller Geschehnisse auf seinem „Spielplatz“!
Das Werksgelände hatte die Größe von mehr als zehn Fußballfeldern und barg selbstverständlich ungeahnte Verstecke. Im hinteren Teil des Geländes standen dunkle Holzbaracken, die aber schon lange leer waren, jedoch vollgestopft mit den gruseligsten Unheimlichkeiten. Hochgewachsene und ausladende Bäume atmeten rundherum die Luft aus mahnenden Abschnitten der Zeitgeschichte.
Jahrzehnte vor dem Zweiten Weltkrieg … sogar noch lange vor dem Ersten Weltkrieg wurden sie wohl gepflanzt, während andere Bäume dem Plan für das Werksgelände wichen, damit riesige Werkshallen und unzählige Baracken wahllos in die Landschaft gebaut werden konnten, einzig und allein aus dem Grund, dass man bei einem möglichen Luftangriff das Werksgelände, die Arbeitslager und die Kasernen nicht ausmachen konnte. Sternenförmig krochen die Steinplattenwege einem zentralen Platz zu, wiederum gekreuzt durch querverlaufende Wege, ebenfalls kreisförmig angelegt und von riesigen, prachtvollen Bäumen umsäumt. Hochgewachsene Rotbuchen, verschiedenartige Nadelbäume, Eschen mit ihrem gefiederten Blattwerk, Birken und staksige Pappelbäume. Diese friedlich anmutende Flora sollte bewusst über schreckliche Geheimnisse hinwegtäuschen. An zentralen Punkten waren strategisch tiefe Löschwasserbassins angelegt, umzäunt von mannshohem Maschendraht und einer grasbewachsenen Böschung. Die Bassins waren in die Jahre gekommen. Sie wurden kaum oder gar nicht gepflegt, da sie nach Kriegsende einfach ausgedient hatten.
Mittlerweile von wuchernden Büschen umringt, verdeckte zudem wildes Geäst das trübe Wasser fast vollständig. Die Wassertiefe betrug exakt drei Meter. Das hatte Georgie im letzten Sommer mit seinem Vater herausgefunden. Sie befestigten einen kleinen Stein an einem langen Strick und tauchten ihn an verschiedenen Stellen ins Wasser, ließen ihn auf den Grund gleiten und markierten das andere Ende, wo es aus dem Wasser reichte. So loteten sie die Wassertiefe in allen Teichen aus. Auch erfuhr er Wissenswertes über die drei verbliebenen Bunker, die unterirdisch miteinander verbunden waren. Man nannte sie Bunker 1, Bunker 2 und Bunker 3, aber sie sahen vielmehr aus wie wurstähnliche Erdwälle, wie längsseits halbierte Bockwürste, die viel zu lange auf dem Grill gebrutzelt hatten. Auch sie waren in den letzten Jahrzehnten über und über von Gestrüpp und Unkraut befallen. Außerdem hatten sich ganze Heerscharen emsiger Maulwürfe in ihnen ausgetobt – mittlerweile waren sie nur noch drei unansehnliche Schandflecke, die man aber nicht so einfach aus der Landschaft entfernen konnte. An der einen Längsseite führte eine schmale Steintreppe hinab. Die Bunker waren Vorräume.
Den eigentlichen Bauch erreichte man über unterirdische Gänge.
Nach dem Krieg wurden zwei der Bunker gewerblich genutzt und die unterirdischen Gänge einfach zugemauert. In den zentralen Bunker zog eine Schokoladenfabrik ein, wo Georgie ab und an einen großen Klumpen Zartbitterschokolade abstaubte.
Gerade wollte er sich die dicken Fausthandschuhe überziehen, als er Kessie kommen sah. Robotergleich stapfte sein Freund heran und wahrhaftig hinterließ er die ersten Spuren im Schnee. Die rote Pudelmütze trug er tief über die Stirn gezogen und er hatte seine leuchtend roten Wollhandschuhe an. Beschwerlich zog er seinen Schlitten, doch als er Georgie erblickte, winkte er eifrig. Vorsichtig stieg Georgie die vereisten, aber schneebedeckten Stufen hinunter. Ohne eine Gegenwehr glitt sein Schlitten hinterher. Kein Wunder. Die Kufen waren frisch gewachst. „Das ist ein toller Schnee, was?“, rief er und schluckte, weil ihm eisiger Wind den Atem nahm.
„Ja toll!“, entgegnete Kessie glucksend. „Wollen wir zum Rodelberg?“
„Na klar“, Georgie stapfte zwei Schritte vor, um ein weiteres Mal zu testen, ob der Steinplattenweg unter der weißen Schicht vereist war. Dabei tauchte er bis über die Stiefel in trockenen Pulverschnee.
An den Bäumen gegenüber häuften sich meterhohe Verwehungen.
Als er die weißen Hügel entdeckte, zeigten seine Fausthandschuhe instinktiv dorthin. Erneut stolperte seine Stimme über den eisigen Wind und bevor er seinen Satz sagen konnte, musste er wieder mehrmals schlucken: „Guck’ mal, das ist toll, was?“, brachte er dann doch heraus, „und alles in einer Nacht!“
„Ja! Gestern war noch nichts da.“
„Das stimmt“, bedächtig stapfte Georgie zu einem der Bäume und testete dort den Schnee. Er fühlte sich fein und trocken an. Wie gekochter Reis. Dann blinzelte er die Straße entlang, vorbei an den Baumreihen. Nicht imstande, weit zu sehen, kämpfte sich sein Blick durch die gänsefedergroßen Schneeflocken, die über die Verwehungen wirbelten und nur noch mehr Schnee anhäuften. Wie eine riesige, weißgraue Käseglocke stülpte sich der Himmel über das Werksgelände … Wenn es noch weiter so schneien wird, überlegte Georgie, dann wird der Schnee ganz bestimmt lange liegen bleiben. Helle Freude packte ihn und sofort versuchte er, einen Schneeball zu formen, doch das gelang ihm nicht.
„Guck’ doch …“, quiekte er, „nicht mal ’nen Schneeball kann ich machen. So trocken ist der Schnee!“
„Ja, klar“, brachte Kessie heraus, wobei nebliger Dampf seinen Kopf umschloss, „das hab’ ich auch schon probiert!“
Die beiden stiefelten los und ohne gesonderte Aufforderung folgten ihre Schlitten. Der Weg führte entlang an einer flachen Halle zur Linken und rechts vorbei an den Tennisplätzen, die eigens für die Werksangehörigen angelegt waren. Im Sommer wurden sie immer genutzt. Sogar richtige Turniere wurden abgehalten. Letzten Sommer durfte Georgie als Balljunge mitmachen, als auch sein Vater und dessen Arbeitskollegen an einem Turnier teilnahmen.
Das machte mächtig viel Spaß.
Sanft führte die Straße bergauf, um sich nach zweihundert Metern leicht nach links zu beugen.
Die langgezogene Halle auf der linken Seite gehörte der BETHICON GmbH, eine Darmfabrik. Schmale, stark verschmutzte Fenster verhinderten die Sicht nach drinnen, dafür trat aber ständig ein beißender Gestank aus Luftschächten, Ritzen und offenen Fenstern. Ein Geruch wie Tausend faule Eier in heißer Vanillesoße.
Bisher hatte Georgie immer einen großen Bogen um diese Halle gemacht. BETHICON stellte Darmsaiten her und medizinisches Zubehör wie zum Beispiel Nahtmaterial. Die Därme kamen aus Australien.
Doch nicht nur Krankenhäuser wurden von hier beliefert.
Ursprünglich hatte BETHICON das Monopol auf die Herstellung von Darmsaiten für Tennisschläger, doch nach und nach stiegen die Tennisschläger-Hersteller auf die Nutzung von Kunstfasersaiten um. Deshalb begrenzte BETHICON sein Auftragsgebiet auf Krankenhäuser. Von diesen Dingen hatten Georgie und Kessie natürlich keine Ahnung. Es hätte sie auch wenig interessiert.
Aber warum es dort nach verfaulten Eiern stank, das zumindest wollten sie schon irgendwann herausfinden. Und dann stand eines Tages eine Seitentür offen, was ihre Neugier aufs Äußerste strapazierte. Natürlich konnten sie dieser Einladung nicht widerstehen.
Sie mussten unbedingt einen mutigen Blick ins Innere der Halle werfen. Was sie dann aber zu Gesicht bekamen, war bei weitem das Schauerlichste, was sie jemals gesehen hatten.
Auf langen, hohen Stahlgerüsten hingen tausende, hauchdünne Schnüre. Männer in hohen, schwarzen Gummistiefeln mit langen, senfgelben Gummischürzen liefen umher. Alle trugen merkwürdige Kopfbedeckungen. Ähnlich wie Nonnen … Der hintere Teil reichte weit den Rücken hinunter. Rechteckige, gelbe Fliesen bedeckten die Wände und unaufhaltsam lief Wasser an ihnen herab. Überall dampfte es und vom Boden stieg echter Nebel auf. Widerlicher, süßlicher Gestank machte es Georgie und Kessie unmöglich, durch die Nasen zu atmen, doch sie blieben standfest und beobachteten weiter.
Dort, wo die Männer hin- und herhasteten, lagen längliche Holzbohlen, die sehr glitschig zu sein schienen, weil sie glänzten.
Über den dunklen Steinboden floss ebenfalls Wasser in irgendwelche Siele ab und aus riesigen Duschen wurden die Schnüre ständig mit warmem Wasser besprüht.
„Eine Raumstation“, flüsterte Georgie.
„Ja, aber warum stinken die so doll?“, fragte Kessie.
Natürlich wusste Georgie auf diese Frage keine Antwort, doch eines wusste er: Sie hatten ein neues Geheimnis.
Das war so klar wie der frische Schnee.
Das war letzten Sommer.
„He, ich hab’ jetzt ein richtig tolles Seil“, meinte Kessie stolz, „guck’ hier“, und streckte ihm das knallrote Nylonseil entgegen.
Georgie blieb stehen, um es fachmännisch zu untersuchen. Die Farbe gefiel ihm.
„Hat meine Mutter ‚rangemacht … von der Arbeit mitgebracht.“
„Das reißt bestimmt nicht mehr“, entschied Georgie naserümpfend.
„Nee, das ist sicher, jetzt!“
Georgie fügte hinzu: „Mein Strick hält wohl auch noch ‚ne Weile.“ Beiläufig blickte er die Straße hinauf, um in derselben Sekunde vor Schreck zu erstarren.
Durch die wildtreibenden Schneeflocken kam ihnen etwas entgegen.
Eine Gestalt. Das konnte er deutlich erkennen. Sie war schon bedrohlich dicht herangekommen. Schlaff klappte ihm der Mund auf und wie festgefroren verharrte er. Nur seine Augen konnte er noch befehligen.
Auch Kessie schaute auf. Wie eine heiße Kartoffel ließ er das knallrote Seil fallen.
Auf einem Fahrrad schwebte die Gestalt heran. Völlig geräuschlos. Rechts und links liefen zwei Hunde nebenher. Die Gestalt war massig und breitschultrig und sie trug eine dunkle Uniform. Irgendwie berührte sie mit dem Fahrrad nicht den Boden, auch nicht den Schnee.
Ja, sie schweben, dachte Georgie.
Verzweifelt versuchte er, sich zu rühren. Er wollte schreien, doch er brachte keinen Laut hervor. Er wollte wegrennen, doch auch das ging nicht. Die Erstarrung löste sich nicht. Der Mann und die grässlichen Tiere waren schon auf fünf Meter herangekommen. Fast blieb Georgie das Herz stehen und nur nebenbei registrierte er, dass er gar nicht atmete.
Die Jungs starrten in ein halbseitig verbranntes Gesicht, dem das rechte Auge fehlte. Aus der schwarzklaffenden Höhle quoll dickes Blut. Der rechte Wangenknochen und ebenso das halbe Kinn waren zerfressen. Blanke Sehnen und Muskelstränge baumelten träge herab, wehten zeitlupengleich im eisigen Wind. Aus dem blutverschmierten Schlund entwich nebliger Atem, der in seinem Inneren schwärzer nicht sein konnte. Das linke Auge starrte wie tot geradeaus.
Dem Mann fehlten das rechte untere Bein und die rechte Hand. Es sah jedenfalls so aus, weil er nur mit dem linken Fuß die Pedale trat, außerdem steuerte er nur mit der linken Hand. Der rechte Ärmel hing schlaff am Körper herab.
Verzweifelt versuchten Kessie und Georgie, sich aus der Erstarrung zu befreien, doch es war, als würde sie eine fremde Kraft festhalten.
Die Hunde waren übel zugerichtet, ihr Fell war strähnig, verfilzt und mit lehmigem Dreck zersetzt. Neblige Dämpfe umhüllten sie, als würden sie stark schwitzen.
Nicht einmal die Schneeflocken schienen auf ihrem Fell zu haften, ebenso wenig auf der Uniform des Mannes. Stattdessen funkelten ihre gebleckten Reißzähne wie Diamanten und der schleimige Schaum in den Lefzen wehte in dicken Fäden heraus, was deutlich zu erkennen war. Die Augen waren weit aufgerissen und drohten, jeden Augenblick in ihren Höhlen zu explodieren. Doch die schlimmste Entdeckung waren die abgebrochenen Holzstifte, die ihnen mitten zwischen den Augen aus den Schädeln ragten – etwa zwei bis drei Zentimeter lang, deutlich zu erkennen. Im ersten Moment dachte Georgie an verklebtes Fell oder so, das wie kleine Pfeilspitzen aussah, die ihnen irgendwie in den Schädeln steckten. Aber bei beiden zugleich?
… dann wären sie ja … tot, schoss es ihm durch den Kopf.
Die Gestalt auf dem Fahrrad und die Hunde waren jetzt auf gleicher Höhe mit den Jungs. Lautlos schwebten sie an ihnen vorbei.
Sonst geschah nichts.
Für blutige Sekunden peitschten den Jungs grauenvolle Todesbilder durch die Köpfe. Reglos standen sie im Schnee.
Es schneite jetzt stärker und stärker.
„Die haben keine Spuren gemacht!“, hörte sich Kessie plötzlich schreien. Erschrocken fuhr er zusammen, da er schon die ganze Zeit aus voller Kehle zu schreien versuchte, doch nicht einmal den leisesten Hauch herausbrachte. Er konnte sich wieder bewegen. „Georgie, guck’ doch … keine Spuren!“ Noch völlig benommen versuchte er, den Kopf zu drehen: „Georgie … hast du das gesehen?“
Alles hatte er gesehen, auch die nicht vorhandenen Spuren im Schnee.
Seine Erstarrung löste sich bereits ein paar Sekunden früher.
Nach wie vor waren nur ihre eigenen Fußspuren und die Schlittenspuren zu sehen. Doch das war noch lange nicht das Unheimlichste. Eines war noch viel unheimlicher, nämlich, dass der Mann und die grässlichen Viecher spurlos verschwunden waren, obwohl es hinter ihnen keine Möglichkeit gab, nach links oder rechts abzubiegen.
Georgie schaute zurück und überlegte.
Er zeigte keine Nerven.
Längst hatte er die unheimliche Begegnung verdaut. Nur im allerersten Moment schien er geschockt. Das hier war keineswegs eine Vision. Dafür war das alles viel zu real.
Es war auch keiner seiner Träume, sonst hätte das Kessie ja nicht ebenfalls gesehen. Georgie hatte sich schnell wieder im Griff. Er versuchte, alles, was seine Augen eingefangen hatten, zu verinnerlichen: der Mann, das Fahrrad, die grässlichen Hunde, wie sie in Zeitlupe über den Schnee schwebten. Ich hätte sie bespucken können. Und diese Stifte in ihren Köpfen.
Und als er sie aus dem Augenwinkel verlor, versuchte er mit aller Kraft, die Lähmung zu bekämpfen. Sekunden später gelang es ihm.
„Ja, ich hab’s auch gesehen“, antwortete er gefasst. Bei diesen Worten und Georgies monotonem Tonfall erschrak Kessie: „Hast du denn keine Angst gehabt?“
„Quatsch, nur am Anfang … hast du nicht gesehen? Die haben uns doch gar nicht bemerkt!“
„Na ja, das stimmt“, antwortete Kessie verwirrt, doch gleich darauf hob er hell die Stimme, „aber Angst hab’ ich große gehabt! Und … und … und hast du die Hölzer in ihren Köpfen gesehen?“
„Ja, hab’ ich. Aber ich hatte keine Angst … die wollten nichts von uns.“
„So was hab’ ich nur mal im Fernsehen gesehen“, gestand Kessie fast ehrfürchtig, „so ein Horrorfilm … den durfte ich aber nicht zu Ende sehen, das wollte meine Mama nicht.“
„Das war aber kein Film“, stieß Georgie aus.
„Stimmt … ja.“
Georgie sah in die andere Richtung, aus der der Uniformierte und die Hunde gekommen waren: „Weißt du, was ich jetzt wissen will?“, und mit dem Zeigefinger wies er in die Richtung, „wo kamen die bloß her?“ Am Wochenende ist hier doch alles verschlossen, überlegte Georgie bei sich, es gibt nur drei Eingänge. Drei verriegelte, schwere Eisentore … na ja, und der geheime Durchgang, aber den kennen nur wir. Wie kann jemand hier ’rein, wenn er nicht einen Schlüssel hätte?
Eine Mauer ummantelte das Werk in einer Höhe von drei Metern, auf der Glasscherben einzementiert waren. Gebogene Stahltrosse, die an ihren Enden einen deutlichen Knick nach innen machten, ragten alle drei Meter vom Sims empor. Sie waren mit Stacheldraht bespannt.
„Die müssen schon hier drinnen gewesen sein!“, kombinierte Georgie, „oder der hat einen Schlüssel.“
„Nee, das glaub’ ich nicht“, entgegnete Kessie, „der braucht keine Schlüssel.“
„Was meinst du damit?“
„So wie der aussah?“, und während er das sagte, bückte er sich nach dem knallroten Seil. Dann zog er den Schlitten ganz dicht zu sich heran, als hätte er die Befürchtung, der Schlitten könnte ihm auf demselben unerklärlichen Weg abhandenkommen.
„Kessie“, Georgie musterte seinen Freund mit einem ernsten Blick, einem Blick, für einen Achtjährigen sehr untypisch, „du sagst niemand’, was wir grad gesehen haben … Hast du verstanden?“
„Ja, aber … ja, ja, schon gut … Tu’ ich …“
„Schwör’, dass du nix sagst!“
„Was soll denn das?“
„Los, schwör’!“, und mit den dicken Fausthandschuh schlug er ihm hart vor die Brust.
„Ja, ja, ich schwör’“, ergab sich Kessie reflexartig und hob ehrfürchtig die rechte Hand.
„Das ist jetzt unser größtes Geheimnis!“, entschied Georgie, während er sich nach allen Seiten umdrehte, als ob er sich nochmals vergewissern wollte, dass kein unnötiger Zeuge auftauchte.
Seither hing ihm eine entsetzliche Vorahnung im Nacken.
Wortlos setzten sie sich in Bewegung.
Ihr Weg führte sie jetzt endlich zum nahe gelegenen, werkseigenen Rodelberg … einem riesig ausladenden Sandhügel, der bereits im Sommer hochgezogen wurde, um einen Trennungswall zwischen zwei Werkshallen zu schaffen.
Es hörte nicht auf zu schneien.
Er öffnet die finsteren Gründe und bringt
heraus das Dunkel an das Licht.
Er nimmt weg den Mut der Obersten des Volkes
im Lande und macht sie irre auf einem Umwege,
da sein Weg ist, dass sie in der Finsternis
tappen ohne Licht; und macht sie irre wie die
Trunkenen.
Altes Testament, Hiob
Kapitel 12,Vers 22,24+25