Читать книгу Kettenwerk - Georgian J. Peters - Страница 12
ОглавлениеIm Arbeitszimmer
Georgies Geburtstagsparty
22. Mai 1976
– 22:05 Uhr –
Kapitel 7
Heaven Must Be Missing An Angel von Tavares hämmerte aus den selbstgebauten Lautsprecherboxen und alle, die sich eben noch im Flur aneinander rieben, stürmten das Wohnzimmer kommandogleich. Die Empfangsdiele war schlagartig leer und Kessie konnte problemlos das Arbeitszimmer erreichen.
Er stieß die Tür auf. Lauthals wurde er von seinen Freunden begrüßt. „Überraschung!“
„Hee, das ist ja’n Ding. Ihr seid ja doch schon da … Hab’ Euch gar nicht kommen sehen!“ Genau vier Jahre war es jetzt her, da er sie zuletzt getroffen hatte.
„Du bist’s ja wirklich!“, scherzte Ulli, „also … wenn wir uns noch seltener sehen, dann gehste glatt als Gerücht durch, Mann!“
Flüchtig streifte Kessies Blick die jungen Männer, als wollte er sich zunächst vergewissern, ob er jeden einzelnen sofort wiedererkannte. Natürlich war ihm nicht bewusst, dass Holmi Georgie oft besuchte. Die Isestraße lag auf seinem Weg zur Arbeit. Zweimal täglich fuhr er an Georgies Wohnung vorbei und manchmal stieg er aus. Er arbeitet im Freihafen beim Zoll. In den letzten Jahren legte er unnötig an Gewicht zu. Ihm fehlte der sportliche Ausgleich. Tatsächlich war er jetzt massiger als Tommi, der seine Pfunde dagegen stark reduzieren konnte. Nur Georgie und Ulli kannten den Grund für das strenge Abnehmen: Tommi hatte eine Freundin. Ellen.
Vor drei Jahren kam sie in sein Leben und erreichte, was seine Mutter in all den Jahren nicht erreicht hatte – einen stattlichen, zwar immer noch breiten, aber nicht mehr so massigen jungen Mann aus ihm zu modulieren. Und noch etwas fiel Kessie an Tommi auf. Er trug die dunkelblaue Schirmmütze nicht mehr. Stattdessen bedeckte ein grünschwarzes, schrill beschriftetes Baseballcap seinen roten Haarschopf.
SKOAL Tobacco Co. United States. Eine echte Amimütze. Auch die College-Jacke wertete ihn extrem auf … ebenfalls fett beschriftet: A 23 DETROIT, Illinois HIGH-SCHOOL.
Kessie war beeindruckt.
„Sag’ jetzt nix …“, grinste Ulli, „setz’ dich einfach zu uns!“
Ulli sah gut aus. Er hatte eine sportliche Figur und eine aufrechte Haltung. Jedoch vermisste Kessie ein wichtiges Detail an ihm und er brauchte nicht lange zu rätseln: Ulli trug nicht mehr den hellbeigen Parka. Von Georgie wusste er, dass Ulli und er noch während der Schulzeit in eine Sportschule für asiatisches Kampftraining eingetreten waren. Dort trainierten sie zweimal die Woche.
Auf seine unvergleichliche Art, die ihn gerade in seinem Beruf so auszeichnete, begrüßte Kessie die Jungs mit dem Händedruck eines stumpfen Holzfällers.
„Hey, was soll das werden“, grinste Ulli süffisant, zog die Hand zurück, die er ihm hingehalten hatte, packte ihn an den Armen und zog ihn zu sich heran, dann umarmte er ihn freundschaftlich: „Nun entspann’ dich erstmal und mach ’n Schwätzchen mit uns. Na komm! Wow, und plötzlich hör’ ich nix mehr …“, schüttelte er plötzlich den Kopf. Immer noch derselbe Spaßvogel, stellte Kessie fest.
„Deine Hose hat so schreiende Farben, Mann?“ Er sah mit weitaufgerissenen Augen an ihm hinab, trat einen Schritt zurück und schlug sich dann auf die Schenkel.
Kessie zwang ein trockenes Lächeln in seine Mundwinkel, wobei er einen Blick mit Georgie tauschte, der ihn zu fixieren schien, was ihn für Sekunden verunsicherte.
Mit einem ungelenken Griff zur Weinbrandflasche erhob sich Holmi: „Setz’ dich erst mal! Ich schenk’ ein.“
Auch er ließ auf vertraute Merkmale schließen … seine deppenhaften Bewegungen.
Kessie steuerte den Schreibtisch an, hinter dem Georgie saß. Blicklos reichte er ihm eines der Sektgläser.
Nachdem Holmi die Gläser bis zum Rand gefüllt hatte, stießen sie auf die alten Zeiten an.
Im Halbkreis standen sie um den Schreibtisch herum.
„Auf uns … und … auf den Grund unseres Zusammentreffens“, sagte Georgie mit Eiseskälte in seiner Stimme.
Sein Blick prüfte die Jungs der Reihe nach.
Nacheinander setzten sie sich, während erwartungsvolle Blicke sich tauschten. Georgie hielt den Kopf gesenkt und schwieg.
Nur das Trommeln seiner Fingerspitzen bewegte die Luft zwischen ihnen. Die sekundenlange Stille zerrte.
Kessie stellte sein Glas ab, während er Ulli ansah. Linkisch zwinkerte ihm Ulli zu.
Seine rechte Augenbraue deutete auf die Weinbrandflasche und signalisierte ihm, noch einmal nachzuschenken. Erneut stießen sie an.
Bis auf Georgie, der sein Glas stehen ließ.
Sein Blickte ruhte auf der ausgebreiteten Tageszeitung vor ihm auf dem Schreibtisch. Es war die Ausgabe vom Dienstag vergangener Woche. Unten links auf der vierten Seite stand ein winziger Artikel, jedoch mit fettgedruckter Überschrift.
Plötzlich begann er laut vorzulesen:
TOTER IM HAK-WERK
- Im HAK-Werk an der Essener Straße kommt es
erneut zu unerklärlichen, tödlichen Unfällen.
Gestern Vormittag wurde Paul S., 62, verheiratet,
drei Kinder, tot in einer Werkshalle der Volkswagen
AG aufgefunden. Das rechte Bein und die rechte
Hand waren abgetrennt. Paul S. verblutete. Er wurde
hinter einer hydraulischen Hebebühne gefunden.
War es tatsächlich ein Unfall?
Die Polizei schließt ein Verbrechen nicht aus. Die
Ermittlungen dauern an. Letztlich ist es das vierte
Verbrechen in den vergangenen vier Wochen.
Unerklärlich ist, dass bei allen Opfern die
abgetrennten Körperteile spurlos verschwanden.
Die Polizei bittet um Mithilfe, die zur Aufklärung
führen. Es werden Zeugen gesucht!
Während draußen gefeiert wurde, schwiegen sich die Jungs im Arbeitszimmer betreten an, bis Tommi das Schweigen brach:
„Und wenn es sich doch nur um blöde Unfälle handelt? Das besagt doch nichts.“
„Ja, das sind doch nur Vermutungen“, ergänzte Holmi den Einwand, „ich seh’ da auch keine Verbindung.“
„Verbindung zu was?“ Ulli nahm die Zeitung und las den Artikel noch einmal laut vor, hielt dann aber inne und überlegte. Nachdenklich senkte er den Kopf, bis sein Gesicht plötzlich eine zuckende Grimasse aufsetzte und zwar zum Rhythmus der Musik draußen: „Georgie … du glaubst doch wohl nicht!“, er zog den rechten Mundwinkel bis zum Ohr hinauf und schnalzte dabei laut mit der Zunge, „nein, das kann nich’ sein!“
„Was denn“, lenkte Tommi ungeduldig ein, „verdammt“, und Holmi stieß Ulli energisch gegen das Schienbein. „Nun sag’ schon, was denkst du!“
„Oh, nein … ich glaube zu ahnen, was Georgie denkt … und auch du, Kess’“, abrupt richtete sich Ulli auf, stützte sich provokant auf dem Knie ab, „Ihr habt Euch doch immer mit diesem Mist beschäftigt oder etwa nicht?“, abwechselnd schaute er zu Georgie und dann wieder zu Kessie, der den Blick nicht von Georgie abwandte. „Wisst Ihr, was ich denke?“, sah Ulli die anderen an, „die beiden hier sind der festen Überzeugung, dass da im Werk ein guter Bekannter von uns rumläuft, mit ein paar netten Viechern, die ganz nötig ein paar frische Körperteile brauchen!“
„Spinnst du jetzt?“, Tommi setzte sich ebenfalls auf.
„Wieso, denk’ doch nach, Mann … Jedes Mal fehlen Körperteile …“, gestikulierte Ulli mit beiden Händen, „also jetzt seh’ ich das ganz klar“, dabei schoss ein schräger Blick zu Georgie, um Raum für eine Gegenreaktion zu schaffen, doch als diese nicht kam, fuhr er fort, „also ehrlich, Mann … das ist doch ’n bisschen flach! Oder krieg’ ich grad irgendwas nich’ mit?“
Tommi wandte sich auffordernd an Georgie: „Nun sag’ schon … Glaubst du das im Ernst?“
Nachdenklich sah dieser zu Tommi. Er ließ zerrende Sekunden verstreichen, bis er mit ruhiger Stimme sagte: „Ja, ich glaube … Nein, ich weiß, dass für diese Vorfälle nur einer infrage kommt. In den letzten Wochen war Kessie mehrmals im Werk. Zuerst hat er die Hunde bellen hören … und vor zwei Tagen dann …“, mit einer knappen Handbewegung forderte er Kessie zur weiteren Berichterstattung auf.
Wider Erwarten schlug die Stimmung jetzt um.
Auf einmal wirkte der Raum viel kälter und dunkler. Nur die Schreibtischlampe und eine Stehlampe in der Ecke waren eingeschaltet. Die Stehlampe leuchtete zu Boden, deshalb war der obere Teil des Zimmers in tiefes Schwarz getaucht.
Während Kessie erzählte, sah er automatisch zu Tommi, da er sich erinnerte, dass Tommi panische Angst vor diesen Hunden hatte. Eine Mischung aus Rottweiler, Mastino und Bluthund, braunschwarz gefleckt, mit ungeheuerlichen Reißzähnen.
Tommi sank auf seinem Stuhl zusammen, knetete wie mechanisch seine Hände zwischen den Knien.
Eben diese Hunde trieben ihr Unwesen im Werk und nur für die Jungs waren sie sichtbar. Kessies Blick huschte zu Georgie, um sich mit einem flüchtigen Nicken die Erlaubnis zum Weiterreden zu erteilen: „Tage darauf saß ich auf unserem Beobachtungsturm und habe mich auf die Lauer gelegt.
Na ja, und lange brauchte ich nicht warten.“
Den Beobachtungsposten erreichten sie vom Dach einer riesigen Halle im Zentrum des Werksgeländes. Das Dach diente ihnen als Stützpunkt. Es bestand aus großflächigen Asbestzementwellplatten und dem seitlich gelegenen Schornstein … ihr Beobachtungsposten – er hatte auf halber Höhe eine Art Plattform, überdacht mit Wellblech, das einmal herumreichte. Ein verrostetes Geländer stützte das Wellblech. Außerdem diente es als Sichtschutz.
Kurz nach 23 Uhr – er wollte sich gerade eine Zigarette anzünden – tauchten zunächst die grässlichen Viecher auf. Aus einem engen Durchgang zwischen zwei riesigen Lagerhallen traten sie, am Boden schnüffelnd, auf den schwach beleuchteten Platz heraus. Vor Schreck ließ er das Streichholz fallen und duckte sich. Die Hunde folgten irgendeiner Fährte. Wild hetzten sie hin und her.
Und einige Augenblicke später erschien das uniformierte Grauen in Person … Ebling!
Kessie war, als hätte er gerade mit zwei Fingern gleichzeitig in eine Steckdose gefasst.
Während Tommi gebannt zuhörte, schob er instinktiv seine Schirmmütze nach rechts, indem er mit Zeigefinger und Daumen den Schirm fasste, als wollte er eine Spinne zerquetschen. Das erinnerte an vergangene Zeiten und schleuderte die Jungs in einen verhängnisvollen Erinnerungsstrudel.
Ebling war also zurückgekommen und zweifellos gingen die Unfälle auf sein Konto. Doch was ließ ihn alle vier Jahre zurückkehren?
Tief versunken saß Georgie in dem alten, zerschlissenen Bürosessel und beobachtete seine Freunde, während Kessie weiterredete. Seine Freunde. Ja, wahrhaftig, das waren sie. Die Fünf, zu denen Kessie zwar nicht wirklich gehörte, da er nicht aus der Siedlung war. Matjes fehlte.
Doch allen war jetzt anzusehen, dass sie sich zunehmend an die schrecklichen Erlebnisse erinnerten.
Tommi und Holmi klebten an Kessies Lippen, schienen von Panik berührt, ihre Münder weit geöffnet, fassungslos die Augen geweitet. Ganz im Gegenteil zu Ulli, der konzentriert zuhörte. Er wirkte entspannt, so als würde ihm gerade der Schaltplan eines Kofferradios erklärt.
In der Dämmerung konnte Kessie das Gesicht nicht genau erkennen, da Ebling die dunkle, flache Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen hatte. Und auf ihrer Stirnseite blitzte irgend so ein breites Abzeichen – eine Dienstgradbezeichnung … von einem Sturmmann oder einem SS-Mann. „Es war das Totenkopf-Zeichen, Leute!“
Regungslos stand Ebling da. Das kleine Schnellfeuergewehr, seine Schmeisser MP 40, hielt er seitlich im Anschlag. Nur seine Augen folgten der Fährte seiner Viecher.
Auf keinem Fall sind sie auf meiner Fährte, redete sich Kessie ein, denn er war von einer ganz anderen Seite über mehrere Dächer gleich auf ihren Beobachtungsturm gelangt. Plötzlich riss Ebling die Schmeisser in die Höhe und feuerte kurze, aber krachende Salven in den stumpfgrauen Nachthimmel. Es war so unermesslich laut, dass Kessie tatsächlich glaubte, er wäre getroffen. Instinktiv ging er in Deckung, presste die Hände vor die Augen, riss den Mund weit auf und schrie, bis die Stimmenbänder vibrierten, doch er hörte keinen einzigen Laut.
Schützend schlug er die Hände über den Kopf, vergrub ihn tief zwischen den Knien, während sein Atem stoßweise und in Kältewellen entwich. Schrecklichste Bilder brachen über ihn herein. Vor seinem geistigen Auge tanzten wirre Gebilde und hinter seinen Augen begann das Blut zu kochen. In panischer Aufruhr riss er die Augen auf, denn plötzlich kroch noch etwas in ihm hoch, was aber eher von niederer Qualität war. Purer Hass machte sich in ihm breit. Nein, nein, nein, das war nicht Angst, das war nur der erste Schreck!
Als er schließlich den Kopf hob und zu der Stelle sah, wo Ebling gestanden hatte, war dieser verschwunden. Auch die Hunde waren nicht mehr zu sehen.
Bleischwer hingen Kessies Worte im Raum, selbst als er sich längst wieder gesetzt, sein Glas genommen und den Inhalt in einem Zug geleert hatte.
Georgie richtete sich auf.
Mit dem Sessel zog er sich dicht zum Schreibtisch.
Erneut schickte er seinen Blick in die dunkle Ecke des Raumes, als ob er dort jemanden stehen sehen würde. Sekundenlang verweilte dort sein Blick, bis er unvermittelt fragte: „Was denkst du?“
Die Frage war an Ulli gerichtet.
Betreten sah Ulli ihn an. Er räusperte sich, sagte dann aber: „Na ja, das mag jetzt verdammt blöde klingen, aber ich denke, wir können den Scheißkerl nie erledigen … Ich meine … Wenn wir noch mal so stümperhaft vorgehen!“
„Ja, er hat recht“, lenkte Holmi ein, „wir wissen ja wohl jetzt alle wieder was damals dabei ‚rausgekommen ist, oder?“, und er fügte hinzu, wobei er den Blick senkte und auf die Zeitung sah, „Scheiße war das, verdammt!“
„Und was stellst du dir vor?“, Georgie sah zu Ulli auf, „Wir können auf keine Hilfe von außen hoffen. Das ist doch wohl klar! Da wird es niemand geben, der uns glaubt.“
„Ich rede nicht von Hilfe“, entgegnete Ulli schnell. „Nein, wir müssen uns viel besser vorbereiten“, flüchtig blickte er in die Runde, „wenn wir wieder dorthin zurückkehren, müssen wir ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen … Wenn Ihr wisst, was ich meine.“ Er unterstrich seine letzten Worte mit einer weiteren, gestikulierenden Handbewegung: „Der Kerl kennt uns … was weiß ich, warum … aber das ist schon mal Tatsache!“
In diesem Augenblick hätte Holmi beinahe sein Glas umgekippt.
„Meinst du, der ist so richtig hinter uns her?“, regte Tommi irritiert an.
Ullis altbekannter, zänkischer Blick traf ihn frontal: „Da kannst du einen drauf lassen, Mann!“
„Was willst du damit sagen?“, lenkte Georgie ein, wenngleich er die Antwort ahnte.
„Denk’ doch nach! Wie konnte er uns wohl fast bis nach draußen folgen? Der kannte doch jeden unserer Schritte im Werk … Als wenn er immer dicht an unseren Fersen kleben würde … Ja, bin ich denn ein Opfer der Geografie? … Der hätte uns jederzeit kriegen können, also hätte er uns auch jederzeit töten können … aber nee!“
„Volltreffer, Ulli!“, unterbrach ihn Georgie knapp, „Der Scheißkerl benutzt uns!“
„Was …? Wieso …? Das ist mir jetzt aber zu hoch!“ Unsicher hob Holmi sein Glas, setzte es aber nicht an. Seine Hände suchten nur irgendwo Halt.
Ulli hingegen lehnte sich lässig zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
Eine zerrende Pause entstand.
„Irgendwas will Ebling zu Ende bringen“, spekulierte Georgie, doch er spürte, dass seine Freunde mit dieser Feststellung nichts anfangen konnten. Im Gegenteil, sie übergingen den Satz einfach.
„Die Waffen!“, platzte es aus Tommi heraus, „Wir holen uns einfach die Pistolen und die anderen Waffen.“
„Zu laut“, kam Ullis spontaner Einwand.
Georgie stimmte ihm zu: „Genau. Ulli hat recht … Viel zu viel Aufsehen … Hineingehen müssen wir mit lautlosen Waffen.“
Holmi war anderer Meinung. Er richtete sich auf und sagte: „Wieso denn …? Tommi hat da gar nicht so unrecht … Da liegt doch bestimmt noch unten alles ’rum. Schaden kann’s doch nicht, oder?“
„Nein, so dürfen wir nicht vorgehen. Wir müssen zuerst lautlos arbeiten, weil wir nicht wissen, was uns wirklich da unten erwartet“, bei diesen Worten waren alle Blicke auf Georgie gerichtet. „Wir haben ihn aufgescheucht … Aus seinem Scheißschlaf gerissen … Und wir hatten dabei verdammt noch mal großes Glück.“
Langsam erhob er sich und schob den Bürosessel nach hinten. „Wir können mit der Angst jetzt besser umgehen, und das ist unsere Chance.“
Holmi erhob sich ebenfalls, setzte sich jedoch gleich wieder.
„Stimmt“, grinste Ulli breit, dabei schnalzte er laut mit der Zunge, „ich muss gestehen, da unten hatte ich mächtig Schiss.“
„Na ja, ich hab’ ja nicht so viel mitgekriegt“, wandte Tommi zögerlich ein, „Holmi hat mich ja gleich zurückgerufen.“
Wie nach einem Schlag in den Nacken flog Holmis Kopf herum: „Ja, Mensch“, verteidigte er sich, „sollte ich denn allein’ da oben bleiben?“
„Okay, ja … so war’s … Kessie, Ulli, Matjes und ich.“ Georgie ging um den Schreibtisch herum, wobei sich sein Oberkörper ins Dunkel tauchte. Kurz blieb er neben dem Tisch stehen und sah wieder zur Tür, dann fuhr er mit belegter Stimme fort: „und Kahli … ja, verdammt. Kahli!“ Betretene Stille schob sich in den Raum und für einen Moment schien selbst das Dröhnen der Musik zu verstummen.
„Wir werden Waffen brauchen, die keinen Lärm machen“, unterbrach Georgie die Stille. Ein flüchtiger Blick streifte Ulli: „Ich hab’ mir vor ’ner Weile ’ne Armbrust angeschafft … Die ist geräuschlos. Ich schieße damit oft … auf’m … auf’m Übungsplatz natürlich …“
„Ja, Sportsfreunde!“, lenkte Ulli ein, wobei sich seine Brust aufblähte, als wollte er den Jungs ein Ständchen vortragen, „Ja, Leute, und ich hab’ mir auch so was gekauft.“ Er beugte sich vor, um Georgie besser sehen zu können, da dieser mit dem Oberkörper noch immer im Dunkeln stand. „Ich bin der nächste Wilhelm Tell“, dabei nickte er väterlich und machte eine Bewegung, als hielte er bereits einen gespannten Langbogen in den Händen.
Ratlos sahen sich die anderen an.
Sie konnten nicht glauben, was sie da hörten. Deutlich füllte sich ihr Bewusstsein mit der Erkenntnis, dass wirklich vier Jahre vergangen waren.
„Es gibt da noch andere lautlose Waffen, die wir uns besorgen können“, er blieb stehen und drehte sich um. „Professionelle Katapulte zum Beispiel und diese Indianerschleudern“, Georgie kehrte zu dem zerschlissenen Bürosessel zurück und ließ sich tief hineinfallen, wobei er die Hände hinter dem Kopf verschränkte. „Und dann noch …“
„Meine bewährten Messingscheiben!“, sprang ihm Holmi ins Wort.
„Genau. Alle diese Waffen …“, riss Georgie das Wort wieder an sich, „Bei richtiger Anwendung sind sie ebenso tödlich und effektiv … Auch die Messingscheiben … Klar … natürlich, Mann!“
„Da hast du verdammt Recht“, ging Holmi nochmal dazwischen, da er am besten mit den Dingern umgehen konnte, „die sind todsicher!“ Er hatte eine besondere Technik entwickelt, wodurch er sein Ziel immer traf. Dazu benötigte er nur einen Gummifingerhut und Augenmaß. Den Fingerhut stülpte er über den Zeigefinger, um eine bessere Rutschfestigkeit zu erlangen und um sich nicht an den scharfen Kanten zu verletzen. Außerdem bekam er durch den Fingerhut den speziellen Dreh.
„Georgie … solche Scheiße darf uns nicht noch mal passieren“, sagte Ulli, „Der Preis war echt zu hoch!“
Georgie entgegnete: „Wir haben den Scheißkerl total unterschätzt. Wir sind da blind reingestolpert“, dabei sank er noch tiefer in den Sessel.
„Aber Ihr habt ihn doch so lange beobachtet … Die ganze Zeit vorher“, stellte Tommi fest, wobei er hastig an seinem Glas nippte und tonlos gluckste, „habt Ihr doch gesagt, oder?“
„Oben, ja … aber unten in den Bunkern?“, Georgie stockte und sah hinüber zur Tür. Er legte den Kopf schräg und lauschte.
„Was ist?“, fragte Kessie.
„Nichts, denke ich“, antwortete Georgie tonlos, aber für weitere Sekunden hing sein Blick an der Zimmertür. Er hatte das Gefühl, als stünde jemand bei der Tür, aber schon im Zimmer – drüben im Halbdunkel. Eine weitere Erkenntnis spülte an die Oberfläche: Wir müssen das alles so hinnehmen, wie es ist … schon allein, dass wir jedes Mal ins Jahr 1944 springen, wenn wir über die Mauer klettern. Das ist doch ’n Hammer … und das alles passiert nur uns … Das muss doch irgendwas bedeuten!
Er richtete sich auf, löste den Blick von der Tür und sah seine Freunde der Reihe nach prüfend an, dann sagte er: „Auch ich hatte da unten eine Scheißangst“, dabei griff er nach seinem Glas, „als Ebling plötzlich auftauchte und der ganze Zauber losging.“
Gerade, als er einen Schluck nehmen wollte, stockte er erneut. Sein Blick schoss zurück zur Tür. „Wo zum Teufel steckt bloß Matjes!“
Im selben Augenblick explodierte ein gewaltiger Erinnerungsbrocken in seinem Kopf, ein Mosaikstein tauchte hinauf zur Oberfläche seines Bewusstseins und ließ sich problemlos in das Puzzle einfügen. Wie vom Schlag getroffen musste er feststellen, dass nur noch wenige Steinchen fehlten, um das gesamte Bild in der Totalen zu betrachten.
Wie konnte ich das alles nur vergessen, dachte Georgie. Ich wollte Ebling damals aus einem ganz anderen Grund auslöschen – nicht, um mich als Held oder als Retter zu sehen, im Gegenteil: Ich wollte meine eigene Haut retten, wollte diese bleischwere Last von meinen Schultern stoßen, die seit Jahren auf mir hockte, mich unermüdlich ritt. Mir wurde klar, dass eigentlich nur fünf Personen in dieser Geschichte eine Hauptrolle spielten und ich erkannte, dass ich allein den weiteren Verlauf nicht bestimmen, das Blatt ohne die Hilfe meiner Freunde nicht wenden konnte.
Schlussendlich habe ich sie also nur deshalb getestet?
Ich brauche Hilfe, wusste er. Seine Hand fuhr sich über die Lippen, als wollte er etwas Klebriges wegwischen.
Die Hilfe seiner Freunde musste diesmal bedingungslos sein.
Mehrmals hatte er sie getestet, daran konnte er sich wieder erinnern – und das bereits zu einer Zeit, wo er selbst überhaupt nicht ahnen konnte, was sie noch für einen schicksalhaften Weg gehen sollten.
Alle vier Jahre kommen also die Schübe – und sie kündigen sich vorher an, reißen Türen und Tore auf und bald darauf passiert etwas Schreckliches. Dann ist es immer derselbe Ablauf und danach vergessen sie alles wieder.
Doch wegen Kessie und Matjes griffen fortwährend lästige Zweifel nach seinem Verstand. Irgendwas passte nicht ineinander … passte nicht zusammen. Am Anfang war ihr Vergessen nicht vollständig. Das kam erst nach Kahlis Tod.
Jetzt war ihm klar, dass die Vorboten immer aus der näheren Umgebung kamen – entweder Tante Irmtraut, die ihm eindeutige Hinweise zusteckte. Doch am Ende war es dann meistens Kessie, der die Meldungen brachte, oder … Betty? Ja, verdammt, Betty! Wieso kam er gerade jetzt auf Betty?
Was Tante Irmtraut mit alldem verband, wusste er mittlerweile. Sofort einen Tag nach Kessies Anruf suchte er sie auf, erzählte ihr alles, an was er sich erinnerte, und verlangte das gleiche von ihr und endlich rückte sie mit ganzen Wahrheiten heraus.
Doch was zum Teufel hatten Kessie und Betty mit alldem zu tun? Welche Rolle spielten sie in dieser üblen Geschichte, die vermutlich so irre weit in die Kindheit zurückreichte?
Tief drückte er sich in den zerschlissenen Bürosessel und beobachtete Kessie im Augenwinkel. Das alles brachte er noch nicht klar zusammen. Wirre Gedankenfetzen peitschten sein Hirn, während die Unterhaltung an ihm vorbeirauschte und nur schwer in den dunklen Ecken des Zimmers verhallte.
Warum war Kessie in dem dunklen Gang des Bunkers zurückgeblieben? Warum ist nur Kahli allein losgerannt? Oder als Kessie und ich vor dem Kalender von 1944 standen, in der Werkstatt, unten im alten Verwaltungsgebäude – bei den Eisentüren, die zu der Gasschleuse führten, da war Kessie auch plötzlich verschwunden.
Wusste er vielleicht mehr von all dieser Scheiße, als er vorgab? Zum Beispiel was Tante Irmtraut betraf? Aber wie, verdammt! Damals, einen Tag vor Kahlis Verschwinden, waren Kessie und ich zusammen im Werk. Wir nahmen den geheimen Durchgang auf der Vorderseite. Damals war es doch Tante Irmtraut, die mich dazu brachte. Das ich an diesem Tag Kessie mitnahm, entschied ich doch ganz spontan.
Wenn ich aber jetzt die Umstände genauer betrachtete, war Kessie jedes Mal dabei. Nur das eine Mal nicht … vor acht Jahren, als sie Kahli plötzlich verloren hatten, ihn aber später wiederfanden.
Das war das erste Mal, als ich Euch über das Bahngelände und hin zur Mauer brachte, von wo man am besten das Werksgelände betrat.
Ja, nur das eine Mal war Kessie nicht dabei!
Aber was verdammt war mit Betty? Georgie konnte die Zusammenhänge noch nicht greifen. Vor vier Jahren besuchte er Tante Irmtraut zuletzt in ihrem Haus in Langenhorn. Und noch vor zwei Tagen waren diese Besuche gänzlich aus seinem Gedächtnis gewischt.
Jetzt passte alles wieder zusammen. Damals wurde er Zeuge einer schrecklichen Auseinandersetzung. Es war eine Vergewaltigung. Sein Auftauchen verhinderte das Schlimmste und es endete mit einer grausigen Tat. Zuerst war er nicht imstande, einzugreifen. Hilflos musste er alles mit ansehen. Eine fremde Kraft lähmte ihn. So wie damals, als Kessie und er den unheimlichen Uniformierten und die Hunde zum ersten Mal sahen.
Wo aber war Kessie in diesem Moment? Hatte er das alles ebenfalls mitbekommen? Was war mit ihm passiert? Schließlich musste er ja irgendwo abgeblieben sein! Warum kam er später die Treppe herunter?
Und warum konnte er sich an nichts erinnern?
Während er versuchte, die Erinnerungsfetzen zusammenzuflicken, sank er tief in den Bürosessel und ließ Kessie dabei nicht aus den Augen.
Auch Kessie entging keine Bewegung von Georgie, während die anderen angeregt weiterredeten.
Derweil brüstete sich Holmi mit seiner Technik im Umgang mit den Messingscheiben.
Georgie erinnerte sich plötzlich an ein anderes Erlebnis.
Er tauchte ab in die Vergangenheit … zu einem Tag, den er nicht nur mit Kessie erlebte – es war früher Nachmittag, als sie sich durch den geheimen Durchgang zwängten und zur alten Konservenfabrik rannten … Nur diesmal wirkte alles anders. Es schien zwar dasselbe Gebäude, aber irgendwie war alles wie ausgetauscht.
Die Schilder waren nicht da … nur ein … Nein, das war kein Schild! Auf dem rostroten Mauerwerk der Fabrikhalle leuchteten die protzigen Buchstaben: HALLE 4.
Gehetzt schossen ihre Blicke umher, während sie gebückt weiterrannten – das Gelände war ihnen nicht fremd, doch alles wirkte irgendwie neuer, grauer, kälter. Rechterhand registrierten sie zwei altmodische Limousinen, die Georgie aus alten Spielfilmen kannte. Doch das konnte sie nicht von ihrem Vorhaben abbringen.
Sie rannten vorbei an dem ersten Löschwasserbassin, das ebenfalls verändert schien. Es war gepflegt, keine Spur von Unkraut. Kaum Gestrüpp und die ausladenden Bäume auf der Böschung gab es nicht.
Sie sahen sich kurz an, blieben aber nicht stehen. Sie rannten weiter.
Bald darauf erreichten sie den schmalen Durchgang zwischen den großen Hallen, der sie direkt zu dem Gebäude führte, wo Georgie mit seinen Eltern früher wohnte.
Und jetzt fiel es ihm wieder ein … Natürlich! Es passierte in diesem Gebäude … In meinem Kinderzimmer wurde sie vergewaltigt!
Durch das Fenster auf der rückwärtigen Seite waren sie eingestiegen, durch das sich auch der Kittelmann Eintritt verschaffte. Bei den Gedanken an den Kittelmann fröstelte es Georgie. Tatsächlich hatte er als kleiner Junge Angst vor diesem humpelnden, alten Säufer. Das Fenster gehörte zu seiner Werkstatt. Nachts stieg der Kittelmann sehr oft auf diesem Weg ein, wenn er mal wieder zu viel getrunken hatte, dort seinen Rausch ausschlief, um am nächsten Morgen nicht den Arbeitsbeginn zu verpassen.
So wie immer war die Fensterklappe nur angelehnt, sodass man den Riegel von innen hochdrücken musste – so einfach war das Fenster zu öffnen. Es bestand aus trübem Milchglas.
Erst beim Einsteigen bemerkte Georgie, dass der düstere Kellerraum nicht die Werkstatt, sondern eine Art Abstellkammer war. Sperrige, aufeinander gestapelte Tische, unzählige Stühle, kleinere Aktenschränke, Regalbretter und hölzerne Kleiderständer erkannte er, doch die unglaublichste Entdeckung schlug ihnen an der Tür zum Korridor entgegen. Es war ein schief hängender Kalender. Was sie lasen, explodierte lautlos in ihren Köpfen.
Das Kalenderblatt zeigte den Monat März, doch das Jahr haute sie um – 1944!
Schaudernd kreuzten sich ihre Blicke. Sie schluckten trocken, ohne dabei die Münder zu schließen. Wieder und wieder sahen sie auf den schiefhängenden Kalender, starrten auf die großen, fettgedruckten Zahlen – eins … neun … vier … vier!
Instinktiv griff Georgie nach dem Türgriff. Er drückte ihn nieder.
Wie von selbst schwang die Tür auf, als ob sie nur angelehnt war.
Ein hohles Krächzen begleitete sie nach draußen.
„Hoh!“, stieß Kessie aus, während er in das schwarze Nichts starrte.
Was wohl schoss Kessie in diesem Moment durch den Kopf, dachte Georgie und verschränkte die Arme im Nacken. Noch immer tief im Sessel versunken, war sein Blick auf Kessie gerichtet, der gerade zu Boden sah. Eher teilnahmslos ließ er Ullis Worte an sich vorbeiziehen, der in unverkennbarer Manier seine Erlebnisse, die er beim Bogenschießen sammeln konnte, veranschaulichte.
Über Jahre hinweg war das Werksgelände ihr Reich. An den Wochenenden gaben sie dort den Ton an … und dann das! Nie haben sie sich wirklich darüber ausgesprochen. Die Dinge passierten einfach. Als ihn wenig später der stockfinstere Flur verschluckte, er sich dicht an der rechten Wand entlang tastete, hatte Georgie nicht mehr auf Kessie geachtet. Natürlich vermutete er ihn dicht hinter sich. Jahrzehnte später standen an dieser Wand die lange Reihe der Spinde und hier war auch die Tür zum Wohnzimmer.
Beides war jetzt nicht da. Zuerst fiel es ihm nicht auf, weil er mit der totalen Dunkelheit kämpfte, dann vernahm er lautes Gepolter, weiter den Flur runter die zerreißenden Schreie eines weiblichen Wesens. Von überall her schienen sie zu kommen, so schrill, dass sich seine Trommelfelle verkrampften.
Zutiefst erschrocken drückte er sich flach an die Wand, griff reflexartig hinter sich … und da erst bemerkte er, dass Kessie nicht hinter ihm war. Hinter ihm war es stockfinster, nur vor ihm flackerte irgendwo ein schwacher Lichtkegel. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass sie seit ihrem Eindringen ins Werk keine Menschenseele zu Gesicht bekommen hatten, nur diese alten Limousinen. War hier gerade Wochenende oder irgendein Feiertag? Draußen war es noch nicht einmal dunkel. Sie hatten einen sonnigen Nachmittag durchquert.
„Hilfe! Nein …. Hilfe! Nicht!“ Unmissverständlich war das die Stimme eines Mädchens und dieses Mädchen hatte Todesangst.
Die Dunkelheit wollte Georgie verschlingen. Wild riss er den Kopf herum, tastete hinter sich die Mauer ab: „Kessie … hee“, presste er durch die Mundwinkel.
In diesem Augenblick drehte er den Kopf erneut, als würde eine fremde Macht ihn drehen. Zeitlupengleich setzte er sich in Bewegung, näherte sich einer Tür im Hauptflur. Die Tür auf der linken Seite war ihm nur allzu gut bekannt – das ist doch mein Kinderzimmer, verdammt!
Von dort kam auch der schwache Lichtschein. In Brusthöhe war in der Tür eine Glasscheibe eingefasst … Auch das wusste er nur zu gut.
Das Mädchen schrie und schrie. Die fremde Macht zog ihn dicht an die Tür heran, um ihn durch die Glasscheibe sehen zu lassen – ja, genau ich sollte Zeuge werden!