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Ebling

Der Anfang

4. Juni 1919

Kapitel 9

Für Walter Ebling war es eigentlich ein besonderer Tag, doch an seinem 22. Geburtstag schien nicht einmal die Sonne. Es war ein kalter, unbehaglicher Regentag – ungewöhnlich für diese Jahreszeit, da noch Tage zuvor das Thermometer die Weichen für herrliche Sommertage gestellt hatte.

Er war mutterseelenallein in einer fremden Stadt und für ihn sollte sie fremd bleiben. Nur eine halbvolle Rotweinflasche leistete ihm Gesellschaft und nirgends gab es Aussicht auf eine bessere Bekanntschaft. Spöttisch und siegessicher hatte er vor Monaten Hamburg den Rücken gekehrt. In Berlin wollte er sein Glück finden. Vielmehr war es aber auch ein Befreiungsschlag, endlich vom Elternhaus gelöst sein. Somit fühlte er sich nicht als Obdachloser, wenngleich er die Nächte in zugigen Hausfluren und grauen Hinterhöfen verbrachte.

Längst war sein bisschen Geld durchgebracht.

Der bei weitem nicht ruhmreiche Rückzug von der Front spuckte ihn dicht am Brandenburger Tor aus, wo er sich inmitten chaotischer Zustände wiederfand. Die Stadt war gebeutelt von Demonstrationen und Straßenschlachten.

Alle hatten sich vom Waffenstillstand ein akzeptableres Ende erhofft. Doch die verheerenden Unruhen in den zentralen Großstädten und ganz besonders in Berlin, die schon während des Krieges wieder und wieder eskalierten, drohten am Ende die wenigen Hoffnungen auf einen ertrotzten Frieden zu zerschlagen. Noch Wochen vor dem Waffenstillstand – niemand konnte voraussagen, dass er schon so bald geschlossen wurde – sah sich Ebling an einem der vorderen Frontabschnitte wieder.

Es war die Antwerpen-Maas-Stellung.

Enttäuscht musste er jedoch feststellen, dass dort bereits die letzten Kampfhandlungen loderten. Er kam nicht mehr in den Genuss, sein blankpoliertes Gewehr zu benutzen. Geschlagen und todmüde kamen ihm die Fronttruppen entgegen. Das Heer war ausgedünnt und angefressen. Sehr einsilbig machte man ihm verständlich, dass die Lage trostlos wäre. Schließlich entschied man sich, gemeinsam dem Ende entgegen zu trotzen.

Das alles konnte Ebling nicht mit bloßem Verstand verarbeiten.

Viel zu gerne wäre er zu dem Zeitpunkt allein an die Front gestürmt und hätte seinem Vaterland alle Ehre erwiesen. Er wollte sich nicht damit zufrieden geben, dass sich das eigene Heer so jämmerlich zurücktreiben ließ.

Stattdessen saß er da, hoffend auf einen ehrenvollen Frieden? Nein! So konnte das nicht zu Ende gehen!

Natürlich hatte er keine blasse Ahnung davon, was währenddessen im Heimatland vor sich ging. Selbst der erhoffte ehrenvolle Frieden war äußerst umstritten, da sich die revolutionären Unruhen nicht mehr niederschlagen ließen. Die Spannungen in den Großstädten und ganz besonders in Berlin stiegen auf ein derartig gefährliches Maß an, dass der geschwächten Regierung keine andere Wahl blieb, als die kettenschweren Bedingungen für einen Waffenstillstand zu akzeptieren.

Schließlich wurde am 11. November 1918 die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet.

Welche Verlogenheit, was für eine Untreue, dachte Ebling. Das konnte er nicht einfach so hinnehmen und deshalb verlor er da draußen im schlammigen Erdreich jeglichen Halt zum Vaterland. Mit jeder Sekunde starb das Vertrauen an die Regierung ein bisschen mehr. Selbst den Weg zurück nach Hamburg ins Elternhaus fand er nicht wieder.

Das war nicht mehr sein Weg.

Mit zwei Frontsoldaten war er in Berlin gestrandet, wo er sich zunächst viel erhoffte, ihn aber das Arbeiterviertel mit weit aufgerissenem Schlund nahe des Kreuzbergs verschlang und wider Erwarten musste er sogleich die zweite große Schlappe einstecken.

Er fand sich nicht mehr zurecht. Die verhängnisvollen, politischen Zusammenhänge und Hintergründe waren ihm eher suspekt. Er konnte nicht begreifen, dass von irgendwoher immer wieder neue Unruhen, Streiks und massive Demonstrationen angezettelt wurden. Und weil die Intelligenz nicht sein Wegbegleiter war, wollte er wenigstens das endlich ändern. Als Soldat kam er schon nicht zum Einsatz … Sein Leben brauchte endlich eine Wende.

Das war Ende November 1918.

Ausgehungert und ohne einen Pfennig in den Taschen kauerte er auf den oberen Stufen einer Hintertür in einem düsteren und obendrein zugigen Gewerbehof mitten im Zeitungsviertel. Und als er müde durch die Toreinfahrt zu diesem Hinterhof taumelte, hatte er allem den Rücken gekehrt. Längst hatte ihn der ungeheure Sog hinab zu den radikalen Gruppen aufgespürt und umschmeichelte ihn auf den Stufen wie der lauwarme Windzug einer späten Sommernacht. Er ließ es geschehen. Die feuchte Luft, die er einatmete, war vom beißenden Geruch der Druckerschwärze geschwängert.

Der STAHLHELM, eine Untergrundbewegung, hatte in dem Gewerbehof sein pulsierendes Herz verborgen. Er schloss sich ihm an und beteiligte sich lauthals an zahlreichen Demonstrationen, obwohl sich seine politischen Aktivitäten bis dato doch eher auf das Beschmieren von Toilettenwänden begrenzten. Jetzt verteilte er Hetzblätter und im Gegenzug erhielt er eine warme Mahlzeit. Einige Wochen darauf ging er zur Volksmarinedivision, weil er gehört hatte, dass man dort sogar einen trockenen Schlafplatz erhielt … düster zwar und kalt, dafür aber trocken.

Während einer Kundgebung geriet er in ein tragisches Handgemenge, das für ihn blutig endete. Und noch ehe sie richtig begonnen hatte, stoppte ein glatter Nasenbeinbruch seine politische Karriere radikal.

Er wachte im Hospital wieder auf. Zwei geprellte Rippen und mehrere tiefblaue Blutergüsse veranlassten ihn, seine Prinzipien, falls er jemals welche hatte, neu abzustecken. Er musste seine Zukunft neu planen.

Derzeit schlugen die Zeitungen mit der wohl aktuellsten Schlagzeile um sich: die Ermordung des Präsidenten des Freistaates Bayern und zwar durch einen Adligen, den Grafen Arco.

Also auch ein Graf ist zu solchen Taten fähig, dachte Ebling.

Das beeindruckte ihn zutiefst und es brauchte keine lange Bedenkzeit für einen spontanen Entschluss. In München würde er sich politisch neu orientieren. Ja, München sollte es sein, wo er einen Neuanfang machen wollte. Anfang 1919 machte er sich auf den Weg.

Sein Begehren war der Eintritt in eine junge politische Gruppe, die bereits seit mehreren Monaten Aufsehen erregte, wenngleich sie nur allzu träge wuchs. Seit Januar aber, so hörte er, erfreute sich die Gruppe eines ungeheuren Zulaufs. Unbedingt wollte auch er Mitglied werden. Unbedingt wollte er ein Genosse sein. Er wollte sich in diese junge Partei einschreiben, die DEUTSCHE ARBEITERPARTEI.

In Berlin kannte er ja sowieso niemanden.

Würde ihn irgendjemand vermissen?

Und noch während Ebling seine Wunden im Hospital leckte, endeten die Kämpfe draußen im Berliner Zeitungsviertel mit dem eindeutigen Sieg der Regierungstruppen. Mutige Vorkämpfer wie der Spartakisten-Führer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden festgenommen und auf grausame Weise getötet, um, wie es hieß, ein abschreckendes Exempel zu statuieren.

Ebling kannte die beiden flüchtig. Er hatte für sie gearbeitet.

Ihr Tod ging ihm nahe. Nur war er dadurch noch entschlossener, diesem erbarmungslosen Berlin den Rücken zu kehren.

Jedenfalls sobald es ihm möglich war.

Zu jener Zeit konnte er nicht ahnen, dass auch ein junger Mann den Entschluss gefasst hatte, nach München zu reisen, um auf einer der Mitgliederversammlungen dieser neuen Partei seine demagogischen Thesen vorzutragen. Ein zutiefst hassender Fanatiker. Klein und schmächtig, dunkelhaarig und blass. Ein Österreicher mit dem verhängnisvollen Hang zum Größenwahn und zu cholerischen Anfällen. Ein Träumer, aber auch ein Visionär und absolut gesegnet mit dem Geschick für öffentliche Dramatik.

Diesem schwarzhaarigen Jungmann sollte Ebling schon bald gegenüberstehen … dem jungen Adolf Hitler.

Doch zuvor ging er ein zweites Mal unfreiwillig ins Hospital.

Ein Schlüsselbeinbruch war verantwortlich dafür, da er sich einmal mehr zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielt. Wieder geriet er in einen Straßenkampf.

Wie ein Zahnstocher zerbrach sein Schlüsselbein auf der linken Seite.

Der Bruch wurde ambulant behandelt, was eine optimale Genesung nicht gerade gewährleistete. Einige Wochen später war ihm klar, dass ein ewig pochender Schmerz bleiben würde, ganz besonders an nasskalten Tagen … und dieses Pochen würde sein künftiges Leben beherrschen.

Jetzt, an seinem 22. Geburtstag, saß Ebling niedergeschlagen auf den nassen Steinstufen, dort, wo seine politische Karriere begann. In Berlin. Die Schulter schmerzte erbärmlich und er tat sich schwer, das Pochen als seinen ständigen Weggefährten zu akzeptieren. Sein verbittertes Gesicht glich einer klaffenden Wunde. Und es schien, als wollte die Wunde nicht mehr abheilen in dieser Stadt. Sein bisschen Hab und Gut trug er in einem grauen Leinenbeutel bei sich und im Grunde stand nichts mehr dagegen, den Aufbruch nach Bayern gleich jetzt in die Tat umzusetzen.

Auf dubiosen Umwegen durch das brodelnde Ruhrgebiet erreichte er im April die Tore Münchens.

Sofort wurde er von politischen Ereignissen überschüttet, was ihn die pochende Schulter im Nu vergessen ließ. Gerade war die Räterepublik ausgerufen worden. Wohl die Reaktion darauf, dass man den Kurt Eisner erschossen hatte, vermutete Ebling, und weitere, ungeheuerliche Erschießungen folgten und sorgten für Schlagzeilen.

Sie sollten abschrecken.

Bis die unfassbare Gräueltat im Luitpold Gymnasium geschah, mitten im Herzen Münchens und auf ausdrücklichem Befehl der Räteregierung. Ob das wieder ein Exempel sein sollte? Eine organisierte Massenhinrichtung von 20 Geiseln? Vor Empörung lief sein Fass über. Diese Schreckensherrschaft durfte nicht länger Bestand haben, auch nicht im Freistaat Bayern.

Nur hatte Ebling zunächst grundlegendere Sorgen. Er brauchte Geld.

Am Fuße der Isar, im Stadtteil Giesing, fand er wie durch einen Zufall Arbeit in der Buchhandlung-Weishaupt.

Er hatte Glück.

Mit dem Lohn, den er an jedem Wochenende bekam, konnte er sich genügend Alkohol und Zigaretten kaufen. Aber das Geld allein war nicht der Grund für sein Bleiben. Vielmehr war es die geistig zurückgebliebene Tochter des Hauses, die warme Schlafstätte und die geregelten Mahlzeiten.

Irene hatte den Geist einer Zehnjährigen, wenngleich sie 28 war. Sie war wirklich nicht schön … schweinsfarbene Haut und fett – und ihre dünnen, dunkelblonden Haare fielen ihr strähnig auf den ansatzlosen Nacken. Aber gerade die Dankbarkeit, die Irene ihm entgegenbrachte, sagte ihm zu. Er begehrte ihr mächtiges Hinterteil und ihre noch mächtigeren Fleischbrüste.

Hier wollte er sich von den langen Strapazen erholen.

Irene sprach nicht viel, und sie war willig … was wollte er mehr. Tagsüber half er unten in der Buchhandlung aus und abends trank er Bier und vergnügte sich ausgiebig mit Irene.

Doch dann spitzten sich die politischen Ereignisse zu, drängten ihn unbarmherzig in die Wirklichkeit zurück. Es war September und eine Mitgliederversammlung der Partei stand an. Zusammen mit dem Buchhändler Weishaupt, der bereits Mitglied war, nahm Ebling daran teil. Die Euphorie, die ihm im kleinen Saal des Hofbräuhauses entgegenschlug, war überwältigend und nicht eine Sekunde zögerte er, sich als Mitglied einzuschreiben.

Die Partei hatte sich zur Aufgabe gemacht, systematisch die keimende Brut von rechtsradikalen Strömungen im Land zu ebnen und sie mit allen erdenklichen Mitteln zu fördern. Es kam ihm vor wie ein Geheimbund, der aufklärerische Grundsätze verbreiten wollte, und er war von frühester Stunde an dabei, um wirkliche Pionierarbeit zu leisten.

Ein Rädelsführer der sich zuvor mit der Mitgliedsnummer 7 ins Parteibuch eingetragen hatte, kam an diesem Versammlungsabend ein weiteres Mal zu Wort. Mit seinen radikalen Thesen eroberte er alle 111 Personen, die an diesem Abend in dem von bläulichem Zigarettenqualm geschwängerten Festsaal saßen, in frenetischem Jubelsturm.

Ebling war endlich einer von ihnen.

Der junge Mann, ein Bildungsoffizier, der nun hinter das Rednerpult trat, verkaufte sich und seine Thesen mit einer unvergleichlich faszinierenden Art.

Er stellte sich als Adolf Hitler vor.

Dieser Schmächtling hatte etwas Fesselndes, etwas Mitreißendes.

In Ebling rief er sofort den gewünschten, großen Bruder wach.

Voller Ehrfurcht hingen seine Ohren an diesen allesdurchdringenden Stimmbändern. Er tankte tiefes, neues Bewusstsein und ihm war fast so, als würde er ein zweites Mal geboren.

An diesem Abend hielt Hitler einen Vortrag über Das Versailler Diktat. Es sollte später als eine der Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik in die Geschichtsbücher eingehen.

Anbetung vor dem Throne Gottes

Danach sah ich, und siehe, eine Tür aufgetan

im Himmel; und die erste Stimme, die ich

gehört hatte mit mir reden wie eine Posaune,

die sprach: Steig her, ich will dir zeigen,

was nach diesem geschehen soll.

Und alsobald war ich im Geist. Und siehe, ein

Stuhl war gesetzt im Himmel, und auf dem Stuhl

saß einer; und der besaß, war gleich anzusehen

wie der Stein Jaspis und Sarder; und ein

Regenbogen war um den Stuhl, gleich anzusehen

wie ein Smaragd.

Und von dem Stuhl gingen aus Blitze,

Donner und Stimmen; und sieben Fackeln mit

Feuer brannten vor dem Stuhl, welches sind

die sieben Geister Gottes

Die Offenbarung des Johannes

„Offenbarung der Majestät Gottes und

die feierliche Anbetung vor seinem Throne“

Kapitel 4. Vers 1/2 und 5.

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