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Hürden an der Mauer

4. September 1968

– 20:30 Uhr –

Kapitel 19

Gespannt klebten sie an seinen Lippen, denn das, was er ihnen anvertraute, klang nicht nach einem ihrer zahlreichen Abenteuer: Klingelstreiche, Leute erschrecken, Cowboy und Indianer spielen. Oder das verbotene Taschenlampenversteckspiel. Das hier klang gefährlich und furchtbringend. Es klang sogar befremdlich, es klang unfassbar.

„Ich hab Euch nie davon erzählt, weil es ’raus aus meinem Kopf war“, fuhr Georgie fort, während er sich zurücklehnte. „Ich hab noch einen Freund. Kessie. Der wohnt noch da … da, wo ich früher gewohnt habe … Wir haben Scheißdinge beobachtet“, finster ließ er den Blick über ihre Gesichter wandern, die noch enger zusammengerückt waren und obwohl es nicht kalt war, fröstelte ihnen.

Georgie erzählte von dem uniformierten Mann und den scheußlichen Viechern, von den Bunkern und den alten Baracken. Er erzählte von der Mauer. „Der hat Leute weggeschafft und wir … wir sind ihm nach … Zum Glück hat er uns nie bemerkt.“

Ulli traute sich, Georgies Erzählung zu unterbrechen: „Wieso?“ Sein Kopf richtete sich auf. „Habt Ihr den denn öfter gesehen? Und wann war das überhaupt?“

„Vor vier Jahren.“

„Komm’ schon, da warst du gerade Mal acht, Mann“, errechnete Matjes scharfsinnig, doch sein Blick verriet Unbehagen.

Zweifelnd streute Kahli ein: „Ja, genau, vielleicht habt Ihr Euch das alles nur eingebildet.“

„Nein, nein, so einfach geht das nich’ … Wir waren immer zu zweit und wir haben den uniformierten Mann fast jedes Wochenende gesehen … fast ein halbes Jahr lang!“, wehrte Georgie entschieden ab, während er vom Kommandositz herunterglitt.

Natürlich hatte er den zweifelnden Unterton in Kahlis Einwand registriert, doch er überhörte ihn. Sein Blick ging zur Ohechaussee.

„Ja, aber wenn das alles stimmt, dann müssen das doch auch andere gesehen haben“, überlegte Holmi und verlagerte sein Gewicht. „Hat man denn niemanden vermisst?“

„Nein, irgendwie nicht, aber die Leute … das waren Männer und auch Frauen … die hatten immer so ’ne Art Sträflingsklamotten an … so gestreifte eben … Und wenn die Hunde sie vorher noch gejagt haben, dann …“

„Hee, hee … nun warte mal“, lenkte Matjes entschieden ein. „Du willst doch wohl nicht behaupten, dass die Hunde …?“

„Doch, verdammt! Das uniformierte Schwein hat immer erst die Hunde losgelassen und die haben dann die Menschen in den gestreiften Klamotten gejagt und regelrecht gerissen“, Georgie sah zur Seite in die Dunkelheit. Er atmete tief durch, bevor er leise fortfuhr: „Danach hat der Kerl die Leichen auf so ’ne Art Leiterwagen gehievt und weggekarrt … und andere Männer mussten ihm dabei helfen.“

„Leichen? Und … und wohin?“

„Ja, Mann, die waren dann tot … weiter hinten rein ins Werk … in der Nähe des letzten Bunkers. Da haben sie sie einfach in eine große Grube geworfen.“

„Och, nun hör’ aber auf!“, entrüstete sich Kahli. „Bunker … ’ne Grube! Gleich erzählst du uns noch, dass da auch Bomben gefallen sind und die große Grube eigentlich’n Massengrab war … Das glaub’ ich nich’!“ Sein Blick löste sich von den anderen, ohne dass sich seine Beine bewegten. Er richtete sich nur auf, stand kerzengerade da, während sein Blick sich tief in Georgies Gesicht fraß.

„Was für ’ne Uniform?“, fragte Tommi.

Georgie wandte sich wieder in die Runde und versuchte, die Uniform als eine aus dem Zweiten Weltkrieg zu beschreiben.

„Und der Typ sieht richtig scheiße aus … Eine Gesichtshälfte ist wegerissen, die andere Hälfte ist irgendwie verbrannt.“

„Hee, jetzt übertreibst du aber echt!“, schlug Kahli zurück, während die anderen mit einem gewaltigen Schrecken kämpften.

„Hee, Mann … auch wenn du das jetzt noch nicht glauben willst.“ und er richtete den Zeigefinger auf ihn, „schon bald kannst du ihn dir mit deinen eigenen Augen angucken!“

„Nein, nein, ich glaub’ nich’, dass du übertreibst“, ergriff Holmi Partei, „aber woher weißt du das mit der Uniform …?“ Eine drehende Handbewegung unterstrich seine Frage: „Na ja, dass sie aus dem Zweiten Weltkrieg ist?“

„Hab nachgesehen in einem Buch von meinen Opa … über die Wehrmacht im dritten Reich.

Ich hab sie verglichen mit dem, was ich mir merken konnte.“ Jetzt sah er alle der Reihe nach an. „Das ist die Uniform eines Blockführers in einem Straflager oder einem KZ-Lager. Der ist so ’ne Art Wärter.“

„Spinnst du uns echt nichts vor?“, schwankte Kahlis Unglaube bereits beachtlich, obwohl ihm nicht entging, dass die anderen längst überzeugt waren und bereit waren, mit Georgie das Gelände jenseits der besagten Mauer zu erkunden.

„Ihr könnt mir glauben oder es sein lassen … Ich weiß, was ich gesehen habe. Das mit der Uniform weiß ich erst seit ’n paar Tagen.“ Er sah zu Boden. „Ich hatte das alles echt vergessen … ein paar Jahre. Komisch, oder?“

„Das ist nich’ dein Ernst“, hielt Kahli dagegen, „so etwas vergisst man doch nicht!“

„Da hat Kahli aber recht“, pflichtete ihm Matjes bei.

„Ich kann mir das ja auch nicht erklären. Vor einigen Tagen hatte ich diese Erinnerungen und ich habe von jemanden noch andere Dinge erfahren.“ Er wies dabei mit der Hand hinter sich. „Bis vor einigen Tagen hatte Kessie auch alles vergessen und erst jetzt erinnert auch er sich so langsam wieder.“

„Und von wem hast du noch was erfahren?“, fragte Holmi.

„Das ist jetzt nicht wichtig“, ließ Georgie den Blick schweifen. Bei der Antwort kreuzten sich flüchtige Blicke, die erfüllt waren mit Verständnislosigkeit.

Kommentarlos nahmen sie aber dennoch die Antwort entgegen.

Jetzt wandte sich Georgie ab und sagte: „Okay, dann lasst uns gehen … Es ist gar nicht mal weit weg.“

Wortlos überquerten sie die Ohechaussee, gingen die Straße hinunter, die zur Tarpenbek führte.

Plötzlich blieb Georgie stehen und sagte mit fester Stimme: „Eins müsst Ihr noch versprechen, bevor wir dort ankommen … Ihr dürft das alles niemals weitersagen!“

Mit einer leichten Kopfbewegung deutete er hinter sich: „Wenn es mit Euch klappt, ist das unser Geheimnis. Und egal, was passiert, wir müssen da drinnen auf alle Fälle zusammen bleiben!“, sein Blick hätte töten können, „Ist das klar?“ Er hob die rechte Hand: „Schwört auf alles, was Euch heilig ist!“

Automatisch riss Ulli die Hand hoch: „Okay, Mann! Reg’ dich ab … Ich schwör’!“

Auch Tommi und Holmi hoben die Hände. Etwas zögerlich sah Matjes die anderen an, hob dann aber ebenfalls seine rechte Hand: „Ja, ja, ich schwör’.“

„Kahli! Was ist mit dir? … Du auch!“, forderte ihn Georgie auf.

„Was soll denn das?“, wollte Kahli abwinken, wurde jedoch von den anderen mit spitzen Blicken beschossen, wobei ihn Holmi mit der flachen Hand vor die Brust stieß: „Los, hee … Komm’ … Du auch!“

Er wankte, trat einen Schritt zurück, hob dann aber doch die rechte Hand. Widerwillig sagte er: „Wenn Euch das was gibt, okay … ich schwör’!“

Kurz darauf traten sie auf die große Wiese nahe der Tarpenbek. Ein künstlich angelegtes Flussbett, das sich etliche Kilometer weiter nach Süden Richtung Hamburg schlängelt, um irgendwann in die Alster zu münden.

An der Stelle, wo sie das Flussbett überqueren wollten, war es etwa einen Meter fünfzig breit. Einige Meter weiter rechts verschwand es in einem Tunnel direkt unter dem Bahngelände. Die Böschung erwies sich als steil und uneben. Zudem war sie an vielen Stellen von dichtem Gestrüpp übersäht. Zuvor waren die Jungs noch nicht an diesem Ort gewesen, da sich jenseits der Tarpenbek das Kinderheim befand. Das wussten sie. Dort waren die schwer erziehbaren Kinder.

Von dem verwilderten Gelände ging etwas Unheimliches aus. Außerdem kursierten die fürchterlichsten Gerüchte über das Heim und deren Insassen. Haushohe Bäume und dichtes Gestrüpp verdeckten ihnen die Sicht auf das Gebäude und hin zur Tarpenbek war die Mauer des riesigen Geländes größtenteils zerstört.

Dichtes Buschwerk, Rosenranken und große Brennnesselstauden machten das Eindringen unmöglich, ein Ausbruch war hingegen durchaus vorstellbar. Selbst am Tage wirkte der Ort unheimlich.

Georgie blieb am Rand der Böschung stehen und leuchtete zum Wasser hinunter, dann schwang er die Taschenlampe und sagte leise: „Ihr müsst viel Anlauf nehmen und springen, so weit Ihr könnt“, dabei leuchtete er noch einmal hinunter und ließ den Lichtstrahl kreisen, von welcher Stelle aus gesprungen werden sollte. Dort war die Böschung relativ eben. Ansatzlos stürmte er hinab, flog über das Wasser und kletterte drüben wieder hinauf. Alle Taschenlampen leuchteten ihm.

Es sah leicht aus.

„Na los, das ist nicht schwer“, stieß Georgie heraus, „Ulli, komm’! Du als nächster!“

Ulli zögerte nicht lange, rannte hinunter und sprang, sofort folgte ihm Holmi und dann Kahli.

Zurück blieben Matjes und Tommi.

Mit der Hand schob Tommi Matjes vor und stieß ein „Los!“ durch den Mundwinkel: „Du zuerst. Nun mach’ schon.“

„Ich weiß nich’ … Ich kann das so schlecht einschätzen.“

Von der anderen Seite riefen Kahli und Holmi, sie sollen sich beeilen.

Fünf bis sechs Sekunden vergingen, bis Matjes den Abhang hinabstakste, am Ufer aber stoppte, um gleich darauf zum Sprung anzusetzen. Er schaffte es.

Als er die Böschung hinaufkletterte, zitterten ihm die Knie, aber er ließ es sich nicht an merken. Wohlwollend nahmen sie ihn oben in Empfang. Die Körperfülle hinderte ihn daran, einen voreiligen Entschluss zu fassen, doch Tommi wollte nicht als Versager dastehen. Automatisch wanderte seine Hand hinauf zur Schirmmütze. Er schob den Schirm tief in den Nacken, leuchtete ein letztes Mal zum Wasser, dann stürmte er los. Die Vibration war auf der anderen Seite zu spüren.

Trotz seiner Anstrengung erreichte er nicht die nötige Geschwindigkeit. Mit beiden Schuhen landete er im flachen Flussbett, wobei das Wasser Fontänen gleich an ihm hoch und in alle Richtungen spritzte.

Durch den Schub seines Gewichts kippte er vorn über, kniete wie zum Gebet nieder und brachte nur ein „Ooh, Scheiße … verdammt!“ aus seiner luftarmen Kehle. Schon wollte sich ein Asthmaschub ankündigen, doch den kämpfte er gnadenlos nieder.

Niemand lachte. Sie bissen sich nur fest auf die Lippen.

„Iiiihhhhgiiiiitt!“

Ulli konnte nicht länger an sich halten: „Nun mecker’ mal nich’, mein Bester … Ein Satz nasse Ohren ist unangenehmer.“ Er kam lachend die Böschung heruntergeklettert, um seinem Freund zu helfen. „Na, wie ist das Wasser? Nicht zu kalt?“

„Halt’s Maul. Das ist nicht witzig!“

Jetzt endlich prusteten alle ihre Lachsalven heraus.

Aber auch Georgie kam Tommi zu Hilfe. „Hee, Mann, das war doch großartig, du hast es geschafft!“, versuchte er ihn aufzubauen, „Das bisschen Wasser steckst du doch locker weg … aber jetzt lasst uns verschwinden hier.“

„Oh, Mann, ist das ein ekliges Gefühl … Ich bin nass bis auf die Socken!“

Sie kletterten über den mannshohen Zaun, der das Bahngelände umschloss, und Georgie forderte seine Freunde auf, die Taschenlampen auszuschalten: „Ab jetzt kein Licht mehr, das könnte uns verraten!“

Fades, gelbliches Licht flutete von den abgestellten Zügen herüber – genug jedoch, um sich auf dem Bahngelände zurechtzufinden.

„Georgie, wie weit denn noch?“, wollte Tommi wissen, da er sich in den nassen Schuhen schrecklich fühlte.

„Hier noch rüber … und dann sind wir bei der Mauer“, seine Hand zeigte geradeaus, „von hier aus kann man sie noch nicht sehen.“

Wieder ging er voran.

Bedingungslos folgten sie, staksten durch gelb eingefärbtes Gestrüpp.

Natürlich ist es strengstens verboten, sich unbefugt auf dem Bahngelände aufzuhalten, und ganz besonders zu einer Uhrzeit wie dieser.

Es war die Gefahr, die sie antrieb … Gefahr, die man im Nacken spürte, wenn man jeder Zeit erwischt werden konnte.

Plötzlich spukte ein Name in Georgies Kopf umher … EBLING … Verdammt! Was soll das sein … EBLING! Ich hab’ den Namen schon mal gehört … Aber wann? Er konnte sich nicht erinnern. Das ergibt doch keinen Sinn! Was zum Teufel ist EBLING?

Bleierne Gedanken machten ihn um einige Kilos schwerer, während er voranging, einem unscheinbaren Pfad folgend. Auf jeden Fall hatte der Name etwas mit dem Werk zu tun.

Seit einigen Nächten träumte er von schlammigen Schuhabdrücken, die er auf dem Betonboden im WILKONS-Gebäude entdeckt hatte. Sie flößten ihm ungeheure Angst ein.

Auch Tante Irmtraut kam in den Träumen vor, obwohl das eher angenehme Bilder waren. Sie war es, die ihm von den letzten Unfällen im Werk erzählte und davon, dass sie einfach nicht aufgeklärt werden können. Das wäre dort immer wieder passiert … all die Jahre … schon seit dem Krieg.

Vor fünf Tagen hatte er Tante Irmtraut zuletzt gesehen.

Anschließend war er mit dem Fahrrad sofort zu Kessie gefahren und erzählte ihm von den Träumen. Er erfuhr, dass auch Kessie solche Träume hatte. Noch in derselben Stunde machten sie sich auf den Weg, schlüpften durch den Geheimgang und kurz darauf hatten sie ein schauerliches Wiedersehen mit dem Uniformierten.

Das allein war nicht so schlimm … Das Schlimme war, dass sie erneut Zeugen wurden von grauenvollsten Dingen und diesmal war der Uniformierte imstande, auch sie wahrzunehmen.

Er hetzte sogar die Hunde auf sie. Sie mussten um ihr Leben rennen. Und nur um Haaresbreite entkamen sie. An diesem Tag entschieden sie sich für absolutes Stillschweigen.

Das war bislang ihr größtes Geheimnis.

In seinen Überlegungen fasste Georgie einen kühnen Entschluss: Jetzt wollte er mit seinen Freunden dorthin zurückkehren, um zu testen, um zu sehen, was geschehen würde.

Wenn er auf den Uniformierten träfe, würde er auch seine Freunde sehen können? Wäre das fahrlässig?

Träge Stille bedeckte das Bahngelände, obwohl die aufmerksamen Augen der Jungs wieder und wieder hinüber zum Ochsenzoll-Bahnhof schossen, deren Ein- und Ausgänge deutlich zu erkennen waren. Gespenstisch gähnten darunter die Tunnelschächte, aus denen alle zehn Minuten die U-Bahnen grollend herauswuchsen. Dann beschleunigten sie erstaunlich schnell, während sie die leichte Anhöhe bezwangen, auf der sich das riesige Gelände ausrollte.

Etwa dreihundert Meter war der Bahnhof von ihnen entfernt.

Zuerst kamen die Scheinwerfer zum Vorschein. Schräg stachen sie aus dem Tunnel heraus, dann erst tauchte die U-Bahn auf.

Mit einer unscheinbaren Kopfbewegung und einem leisen „Hier“ deutete Georgie hinüber auf die Schienen: „Tote Gleise heißen die.“

Die Jungs erschraken, als sie Georgies Stimme hörten.

„Mann, hast du mich jetzt verjagt“, Ulli atmete tief ein und stieß die Luft mit einem „Puuh!“ wieder aus. Er wischte sich über die Stirn, ohne dabei die Kapuze nach hinten zu schieben.

Die letzten Minuten hatten sie nicht gesprochen, hatten mit den eigenen Gedanken zu tun. Jeder für sich und jeder war auf der Hut, war bereit zum Kampf.

Enge Gehsteige zogen an den Gleisen entlang und schwache Laternen bedeckten die Züge mit diesem feucht-diesigen Gelbstich. In gezerrten Fetzen hing der Nebel schwer über den Gleisen und es war nicht möglich, nach rechts weiter als zehn Meter zu sehen.

Nur zum Bahnhof blieb die Sicht erstaunlicherweise frei.

Von den Zügen drang ein ständiges, elektrisches Summen herüber und drückte dem eingefärbten Gelände einen dämonischen Stempel auf, was den Kampfgeist der Jungs nicht gerade stärkte.

Georgie bestieg den Steinwall und blieb vor einer der Stromschienen stehen. Die Jungs blieben am Zaun zurück.

„Hee, was ist?“, fragte Kahli, der sich ein paar Meter vorgewagt hatte. Er lauschte, war dermaßen gespannt, dass er sogar seinen eigenen Puls pochen hörte.

Plötzlich fingen die Gleise an zu summen. Oder war es die Stromschiene direkt vor Georgies Füßen? Kahli war sich nicht sicher. Mit einem riesigen Schritt wich er zurück und riss dabei Holmi und Ulli mit, die rechts und links hinter ihm standen. Rücklings strauchelten sie dem Zaun entgegen, fielen auf die anderen, die am Zaun hockten und pressten sich allesamt tief in dem Maschendraht.

Jeder Einzelne stieß grässliche und unnatürliche Laute aus und Tommi schrie, während er versuchte, alle von sich runterzustoßen: „Ooh Gott, verdammt! Ihr Idioten!“

„Vorsicht, Mann … Pass’ auf, du brichst mir ja das Bein!“, schrie Matjes schmerzverzerrt, da er schräg über ihm lag. Rüde wurde er weggestoßen, doch das ging nicht, da Holmi sich auf ihm wälzte.

„Ich kann doch nichts dafür!“, brüllte Tommi zurück.

Und Holmis Stimme kippte: „Warte, warte, warte … Hee, warte!“

Kahli hatte sich bereits zur Seite gerollt, versuchte mit aller Kraft, sich aufzurichten. Er wankte auf ungelenken Beinen. Ulli kniete im hohen Gras und stöhnte: „Ihr habt alle ’ne Scheibe … Was war ’n los?“

„Gerade wurden die Schienen unter Strom gesetzt!“, rief Georgie von oben. Weiter brauchte er nichts erklären, da jetzt alle ganz deutlich das metallische Grollen hörten.

Zeitlupengleich stieg Georgie über die Stromschiene, beugte sich über eines der Gleise, legte die Hand auf die blankgefahrene Oberfläche und sagte mehr zu sich selbst: Hier wird sie lang kommen.

Dann richtete er sich wieder auf.

Stählern sah er hinüber zum Bahnhof.

Gerade kam eine U-Bahn aus dem linken Tunnelschacht, die ein unsagbar dumpfes Grollen vor sich herschob. Zwei grelle Lichtstriche stießen geradlinig hinauf, richteten sich direkt auf Georgie, als wollten sie ihn treffen.

Anstatt sich ebenfalls in Sicherheit zu bringen, kramte Georgie seelenruhig in seiner rechten Brusttasche. Er brachte ein Zehnpfennigstück hervor, bückte sich in aller Ruhe und legte das Geldstück auf eine der Schienen. Wie vom Donner gerührt kauerten seine Freunde dicht bei dem Zaun und beobachteten ihn. Großes Unbehagen und noch größere Unruhe stiegen in ihnen hoch, da sich die U-Bahn sehr schnell näherte und Georgie immer noch auf den Gleisen stand.

„Georgie! Was machst du denn da noch, zum Teufel? Mensch … Komm’ schnell!“, schrie Ulli. „Mach’ zu, verdammt!“

„Schnell, Mann! Komm’!“, Tommi war ums Verrecken besorgt, sogar der Panik nahe, da er wusste, dass er ihm in wenigen Sekunden zu Hilfe kommen würde. Seine Hand verschob bereits den Schirm seiner Mütze zum Nacken, während er sich nochmals „Georgiiiiiieeee!“ schreien hörte.

Vor Schreck wie gelähmt, brachten die anderen keinen Laut mehr heraus, nur Ulli schrie mit brechend schriller Stimme: „Der Zuuuuug!“

Georgie reagierte darauf nicht, sondern erhob sich sehr langsam, ohne jedoch den Blick von der U-Bahn zu nehmen.

Bis auf knappe vierzig Meter war die Bahn jetzt herangekommen und das Getöse hatte sich mittlerweile verzehnfacht. Jetzt erst stieg Georgie zurück über die Stromschiene, die ebenfalls einen ungeheuerlichen Ton von sich gab. Sie setzte ein Summen frei, das dermaßen metallisch klang, als wären die Jungs mit einem gigantischen Kraftwerk verdrahtet. Ohrenbetäubend dröhnte das Grollen, als plötzlich alle wie aus einem Gewehrlauf schrien: „Georgiiiiieeeee!“

Gefechtsfeuergleich donnerte der Zug heran und als er auf gleicher Höhe mit Georgie war, sprang dieser nur einen kleinen Schritt beiseite und ließ den Zug hautnah an sich vorbeidonnern. Dabei stieß auch er einen Schrei heraus, der dem Urschrei hätte Konkurrenz machen können. Im selben Augenblick brachen tausend Unwetter mit unbeschreiblichem Getöse über die Jungs herein, quetschten sie erneut in den Maschendraht. Wie im Kinderchor rissen sie ihre Münder auf und brüllten alle angestauten Ängste heraus. Undefinierbare Laute wie:

„Uuuoooaaahhhhh!“, und „Eeeeeeeääääääääähhhhhh!“

Von außen waren sie einem fahrenden Zug noch niemals so nahe gekommen.

Sie wären nicht imstande gewesen, die Wagons oder die hellerleuchteten Fenster zu zählen, die rasend schnell an ihnen vorbeikrachten. Die Räder spuckten grelle Funken nach hinten und die Jungs schrien und schrien. Auch Georgie stand auf dem Steinwall und schrie, so laut er konnte.

Mit Höchstgeschwindigkeit raste der Zug an faszinierten Gesichtern vorüber und schlagartig riss der Lärmpegel ab, als er an ihnen vorbei war. Nur schwer verhallte das Dröhnen.

Weit aufgerissene Augenpaare starrten den Rücklichtern hinterher. Die Münder ebenfalls weit aufgerissen, obwohl ihr Schreien längst verstummt war.

Das höllische Spektakel tauchte hinter der nächsten Biegung ab.

Dann war es still.

Georgie war schon wieder zwischen den Gleisen, als sich die Erstarrung der Jungs allmählich löste. Er suchte das Geldstück. Schnell hatte er Glück. Er fand es auf einer Bohle, etwa zwei Meter weiter. „Hah!“, stieß er begeistert aus. „Es hat geklappt!“

Triumphierend hielt er es hoch. „Seht her! Na los, kommt schon … Platt wie ’ne Briefmarke! Ist das nich’ scharf!“

Nur zögerlich kamen sie näher, staksten den Steinwall hinauf. Holmi staunte nicht schlecht. „Das gibt’s doch nicht … Das Ding ist ja ganz lang geworden.“

„Jetzt noch hier oben ein Loch durchbohren und das ist ’n super Anhänger.“

„Das sieht ja echt stark aus“, entschied Ulli. „Hey, können wir nich’ noch’ne Weile hier bleiben und warten, bis die Nächste kommt? Dann mach’ ich mir auch so ’n Ding.“

Er holte ein Fünfzigpfennigstück aus der Jacke: „Aber ich will einen Silbernen haben.“

„Ich auch … ich hab’ zwei Groschen“, Tommi wühlte bereits in den Hosentaschen.

Das Geldstück sah wirklich genial aus; es war mehrmals von den gewaltigen Eisenrädern überrollt worden. Durch die Reibungshitze zu einem ovalen Gebilde verformt, hatte es sich selbst kunstvoll in die Länge gezogen.

„Hast du das schon öfter gemacht?“, fragte Matjes und spähte dabei besorgt hinüber zum Bahnhof.

Tommi hakte sofort nach: „Ja, Mann, wie viele hast du denn schon?“

„Nicht so viele“, antwortete Georgie gedankenversunken, dabei drehte er sich Holmi zu. Er gab ihn das Metallstück mit den Worten: „Aber ’ne Kette musst du dir selber besorgen.“

„Oh, echt? Danke, Mann.“ Er hielt begeistert das Geldstück in die Höhe, wobei seine Augen zu funkeln begannen.

Unterdessen entschied Georgie, nicht die nächste Bahn abzuwarten, da sie ein anderes Ziel hatten. Fast mürrisch drängte er: „Los, los … Wir dürfen keine Zeit verlieren … Die nächste Bahn kommt gleich aus der anderen Richtung.“ Dabei zeigte er auf all die Gleise vor ihnen: „Auf irgendwelchen Schienen hier!“

„Och, Mann!“, gängelte ihn Ulli.

„Quatsch nich’ … Steig’ lieber über die Stromschiene, aber ich sag’ Euch … seid vorsichtig.“

Deutlich zeigte er auf den höhergelegenen Strang, ungefähr in Schienbeinhöhe, der mit einer stabilen Plastikschutzschicht versehen war. „Auf gar keinen Fall dürft Ihr sie berühren … Ist das klar?“

Ohne sich der Gefahr wirklich bewusst zu sein, folgten sie ihm. Steine knirschten, was wie ein Dutzend galoppierende Pferde auf Kopfsteinpflaster klang.

Je dichter sie der Mauer kamen, desto schwärzer und nebliger legte sich die milde Abendluft über sie.

Als letzter setzte sich Tommi in Bewegung. Er sprang, stolperte und rannte den anderen hinterher. Und er war es auch, der mit dem Fuß eine der Stromschienen berührte; laut schrie er auf, verlor das Gleichgewicht dabei, fuchtelte mit den Armen, strauchelte und fiel rücklings gegen die Stromschiene.

Abrupt drehten sich alle um. Wie aus einer Kehle schrien sie: „Tommiii … niiicht! Du darfst nicht …!“ Sofort war Georgie bei ihm, aber es war bereits zu spät. Gerade verwandelte sich das Summen in ein boshaftes Zischen.

Noch ein angsterfüllter Aufschrei, dann sackte Tommi kraftlos zusammen. Sein massiger Körper kippte über die Stromschiene und zurück auf die andere Seite.

Hart schlug er auf die Steine, während seine Beine noch über der Stromschiene baumelten. So blieb er liegen.

„Oh, mein Gott! Komm’ schon, Tommi … Steh auf!“, schrie Holmi hysterisch und schlug die Hände über den Kopf. Auch Kahli blieb hilflos stehen. Matjes war sprachlos, lief jedoch ein paar Schritte zurück, um vor einer anderen Stromschiene stehenzubleiben.

Immer wieder rief er nur Tommis Namen, während Georgie versuchte, seinen dicken Freund von der Stromschiene zu heben. Auch Ulli hatte die Situation sofort erfasst und kam zu Hilfe.

Regungslos lag Tommi auf den Bohlen, doch Georgie bemerkte erleichtert, das Tommi noch atmete.

„Da kann eigentlich nichts passiert sein“, keuchte Ulli, „Er hat die Gleise nicht berührt … Sieh’ doch!“ Er sah zu Georgie rüber: „Versteh’ doch … Er hat nur die beschissene Stromschiene berührt … und“, lachte Ulli hysterisch, „und … sich wohl grad ’n bisschen schlafen gelegt.“

„Was soll das heißen, Mann?“, schrie Georgie. „Er atmet wirklich?“

„Ja, klar! Er kann keinen Schlag bekommen haben, Mann!“, Ulli sprang über die Stromschiene und Georgie half, Tommis Beine hochzuheben.

„Hee, Tommi“, sagte Georgie beinahe singend. „Mach’ keinen Ärger jetzt“, während er ihm mit der flachen Hand die Wangen tätschelte. „Wach wieder auf … Hey!“

„Da ist schon nix passiert … Der ist wirklich nur bewusstlos“, diagnostizierte Ulli und mit einer tieferen Stimme fügte er hinzu: „Warte, der Wecker klingelt gleich.“

„Trotzdem! Vielleicht hat er sich aber verletzt … Tommi, wach’ auf, Mann!“ Er versetzte ihm links und rechts leichte Ohrfeigen, doch Tommi blieb wie tot auf den Steinen liegen. Es war nicht die Bewusstlosigkeit, die Georgie beunruhigte, es war das Asthma, das Tommi in prekären Situationen überfallen konnte. Auch Ulli war ehrlich besorgt um seinen Freund, doch zeigte er das nicht so offen. Er sagte jetzt aber mit einem ernsten Unterton: „Das mit den Stromschienen hättest du vorhin nicht so sagen sollen … von wegen Aufpassen und so … die sind doch bestens isoliert.

Keiner wird so blöd sein und sich auf eine Schiene stellen und dann versuchen, unter die Abdeckung der Stromschiene zu fassen … Wir jedenfalls nich’, Mann.“

Jetzt gab er Tommi mit der flachen Hand einen mittelschweren Schlag auf die Wange: „Tommi, du Fettmolch … Wach’ auf … Wir wollen weiter!“ Keine Regung.

Noch immer hielt er die Augen geschlossen, aber unter den Augenlidern zuckte und flackerte es jetzt stark.

„Hee, was ist los? Sollen wir helfen?“, rief Holmi besorgt, der mit Matjes und Kahli ratlos in der Dunkelheit stand.

„Lebt er noch?“, schickte Kahli unsicher hinterher.

„Nein, bleibt Ihr da … Alles okay mit ihm … Er ist nur ohnmächtig“, rief Georgie energisch und ebenso energisch schlug er Tommi ins Gesicht, dass sein Kopf wie ein angebundener Gummiball hin- und her rollte, dabei schrie er ihn an: „Hee, Tommiiii …

Wach’ endlich auf!“

Der Schlag half.

Die Augen sprangen auf und drehten sich. Ruckartig beugte sich Ulli zu ihm hinunter und hielt seinen Kopf in beiden Händen. Tommi winkelte die Beine an, zog sie zu sich hoch, dabei stöhnte er: „Aaooh … puuh.“ Er schüttelte den Kopf. „Was soll das? … Warum schlägst du mich? Du Arsch!“

„Na, das ist ja ’ne tolle Begrüßung!“, entgegnete Ulli.

„Begrüßung? Wieso … was … was war denn los?“, staunte er jetzt, wobei er ein wenig hochkam und sich umsah. „Warum lieg’ ich hier?“ Automatisch fasste er an seine Mütze, die noch immer fest auf seinem Kopf saß, dann erkannte er Georgie neben sich: „Was ist denn passiert?“ Mit großer Mühe richtete er sich auf und stützte sich ab.

„Mann, du bist gestürzt“, antwortete Ulli beruhigt. „Wir dachten schon, du bist verreckt!“

„Du warst ’ne ganze Weile weggetreten“, lenkte Georgie ein. Er stand auf, um den anderen ein Zeichen zu geben. Ulli half Tommi hoch, der noch wankte. Er stöhnte, als er aufrecht stand, fast zweifelnd sah er an sich herab, fasste sich an die Brust, als bekäme er jetzt erst den drohenden Asthmaanfall.

Sofort stützte ihn auch Georgie, wobei er ihm fast den Arm auskugelte. Besorgt fragte er: „Kriegst du gut Luft, Mann?“

„Ja, geht’s wieder?“, fragte auch Ulli.

„Klar“, hustete Tommi ein-, zweimal zur Sicherheit. „Ja klar, richtig gut Luft“, dann lachte er sogar und sah abwechselnd beide an, „besser als jemals zuvor!“

Wenig später verließen sie das Schienengewirr.

Endlich standen sie vor der Mauer. Gespenstisch baute sie sich vor ihnen auf wie eine riesige Wand, die sich in den feuchten Abendhimmel bohrte.

25 Minuten waren seit ihrer Überquerung der Tarpenbek vergangen und sie hatten bereits gefährlichste Hürden genommen, um hierher zu gelangen.

Fast andächtig betrachteten sie das alte Mauerwerk und den Stacheldraht darüber. Bei dem Anblick fröstelte ihnen; in diesem Moment wollte niemand auch nur den winzigsten Laut von sich geben. Sie standen nur da, eng bei einander, und starrten die Mauer an.

Nur Georgie machte sich hinter dem Rankengestrüpp seitlich der Mauer zu schaffen. Halb war er in dem von Brombeeren, Rosen und Disteln durchzogenem Gestrüpp verschwunden. Wenig später zerrte er ein etwa zwei Meter langes Brett hervor.

„Steht da nich’ rum“, rief er den Jungs zu. „Helft mir lieber!“

Holmi hatte sich als Erster von der Mauer gelöst und das Brett gesehen: „Wo hast du das denn her? … Das ist ja’n Gerüstbrett“, verriet sein Kennerblick. Sein Vater ist Maurer und er hat auf dem Bau schon viele solcher Bretter gesehen … An ihren Enden sind sie mit stabilen Eisenteilen verstärkt!

„Das ist doch egal, los fass’ mit an“, antwortete Georgie und zog das schwere Brett noch weiter hervor. „Das lag hier irgendwo rum.“

„Du hast echt an alles gedacht“, kam Ulli zu Hilfe. „Hatte mir schon ernsthafte Fragen gestellt, wie wir wohl da rüber kommen wollen.“ Dabei hob er demonstrativ den Kopf und nickte der Mauer zu. Sie stellten das Brett hochkant auf und trugen es einige Meter die Mauer entlang, bis Georgie anhielt und es gegen das alte Mauerwerk, über einen deutlichen Mauervorsprung, eine Wölbung, die dort nicht hin zu gehören schien, kippte.

Dann schob er das Brett so lange hin und her, zerrte daran und schob, zerrte und drückte, bis es genau auf dem Mauervorsprung lag.

Schweigend reihten sich die Jungs um das Brett und bestaunten es, die Münder halb offen, während Georgie es in gebückter Haltung bestieg. Mit beiden Händen links und rechts festhaltend, kletterte er hinauf bis zum Mauersims. Dann richtete er sich auf, tastete nach einer glasscherbenfreien Stelle und spähte regungslos auf die andere Seite.

Nur seine Augen bewegten sich.

Einige Sekunden vergingen, was den Jungs nicht auffiel, da sie gebannt dem Schauspiel zusahen, ohne zuvor das Drehbuch gelesen zu haben. Doch gerade, als Ulli etwas sagen wollte, kam ihm Georgie zuvor: „Okay Leute.“ Er drehte sich um: „Hier oben müsst ihr auf die Glasscherben im Mauersims aufpassen und auf den Stacheldraht … An dieser Stelle habe ich die Drähte vor ’ner Weile gekappt.“ Er bog die Enden nochmals zur Seite. „Also, einer nach dem anderen auf den Sims klettern und aus der Hocke abspringen … Ich seh’ Euch auf der anderen Seite!“ Ohne sich noch einmal umzudrehen, setzte er mit einem Seitensprung hinüber, und war verschwunden.

Schlagartig war es still und das blanke Entsetzen griff nach den Jungs, riss sie aus dem Staunen heraus. Mit weitaufgerissenen Augen starrten sie auf die Stelle, wo Georgie gerade noch auf dem Brett gestanden hatte. In langen Fetzen schlich dort jetzt gelblichgrauer Nebel entlang.

Niemand wollte etwas sagen, geschweige denn sich bewegen und alle wussten, dass sie jetzt allein auf sich gestellt waren.

Wir müssen zusammenbleiben! Das kann doch nicht so schwer sein!

Der Erste, der sich rührte, war natürlich Ulli. Er schluckte ein paar Mal trocken, bevor er sagte: „So, Freunde. Den sind wir los.“ Dabei sah er zu Tommi und tippte ihn an: „Los, los, los … Du gehst als nächster.“ Ein mildes Lächeln begleitete seine Worte: „Damit du gar nicht erst ins Grübeln kommst.“

Erschrocken riss dieser seinen Blick von der Mauer und sagte: „Was soll das denn heißen, Mann?“

„Nun sabbel’ nich’ … Beweg lieber deinen Arsch aufs Brett … Ich halt’ dich.“ Er packte Tommi am Arm, wollte ihn zum Brett ziehen, doch Tommi blieb stehen wie ein Fels und erwiderte knapp: „Ich kann das nicht!“

„Hee, hee, hee … Natürlich kannst du … Ich helf’ dir doch!“

„Nein!“

Ulli sah seinen dicken Freund an und überlegte, doch dann erhellte sich plötzlich sein Blick und er trat ganz dicht an Tommi heran: „Du kannst gar nicht kneifen, mein Freund“, blitzschnell griff er nach Tommis Schirmmütze und verschob sie, sodass der Schirm wieder tief den Nacken bedeckte. Dann trat er einen Schritt zurück, bedachte Tommi mit einem prüfenden Blick und schlug ihm die flache Hand vor die Stirn, dass es hell klatschte: „Du bist ein Kämpfer! Los’ und jetzt rauf aufs Brett!“

Widerwillig ließ sich Tommi vor das Brett ziehen, ging in die Knie, als wollte er beten, und krallte sich mit den Händen fest in die Holzkanten. In diesem Moment schwappte der Mut zu ihm hinüber, beflügelte sein Rückgrat mit der nötigen Willenskraft. Er begann, das Brett hinaufzuklettern, während Ulli ihn stützte und zusätzlich anschob.

Mit einiger Mühe erreichte er den Mauersims und fasste prompt in eine spitzkantige Scherbe. Sofort floss Blut. Ein heller Aufschrei folgte.

Da er sich noch in der Hocke befand, beide Arme nach oben ausgestreckt, bahnte sich das Blut den direkten Weg in den Ärmel seines Parkas. Am Mittelfinger der linken Hand hatte er sich geschnitten: „Ooh, Scheiße, verdammt!“

Mit aller Kraft zog er sich hoch, bis er aufrecht stand: „Das blutet wie Sau!“

„Du stirbst schon nich’!“, rief Kahli zum Mauersims hinauf. „Kletter’ endlich rüber!“

Mit schmerzverzerrter Miene inspizierte Tommi die Wunde: „Aber …“, sofort saugte er daran, „das brennt wie Feuer!“

„Egal, egal, Mann … Ich piek’ dir gleich’n Finger ins Auge“, schrie Ulli. „Das brennt noch schlimmer! Los jetzt!“

„Das muss ich doch abbinden“, kreischte Tommi erregt. „Ich sterbe sonst … Ooh, so ’n Mist!“

„Quatsch nich’! Mach’ hin!“, kam Matjes lauthals ein paar Schritte näher. „Das bringt dich nicht so schnell um … Aber wenn du nich’ gleich rüber kletterst, dann … dann …!“

„Dann bring ich dich um!“, brüllte Ulli unter ihm. „Das wird passieren, wenn du nicht gleich drüben bist!“

Verbissen hielt Tommi die linke Hand hoch und schrie: „Ja, ja, schon gut!“

Erst jetzt sah er auf die andere Seite und was er sah, war unfassbar. Was für ein entsetzlicher Anblick! Und noch während er das dachte, packte ihn der gewaltige Sog, der ihn hinüberziehen wollte. Er wollte sich umdrehen, den Kopf zu seinen Freunden drehen … Es ging nicht. Er wollte schreien, riss den Mund weit auf, aber es kam kein Laut heraus. Er versuchte, Ulli mit dem Fuß anzutippen, wollte ihn warnen, aber er war nicht mal mehr imstande, diese einfache Bewegung auszuführen.

Das Licht!

Ein alles durchdringendes Licht flutete ihm entgegen, grell und gleißend und doch blendete es nicht.

Nein, zu seinen Freunden konnte er sich nicht mehr umdrehen. Er musste springen!

Fast ansatzlos und mit der Kraft eines jungen Bären wuchtete er sich über die Mauer, als ob er den Sprung unzählige Male geprobt hatte.

Durch seinen Absprung rutschte das Brett mitsamt Ulli von dem Mauervorsprung herunter und knallte auf den unebenen Grasboden.

„Ooh … ooh Scheiße …!“ Ulli klemmte sich alle Finger, da er sich krampfhaft am Brett festgehalten hatte, um das Gleichgewicht zu halten. „Mist, Scheiße, verdammt … tut das weh! Scheiße!“

In kürzester Folge ratterte er sein gesamtes Repertoire an Schimpfwörtern runter, während er sich am Boden krümmte und die Hände schüttelte, als wollte er sie an der Luft trocknen. Hysterisch pustete er die Fingerkuppen an und hörte nicht auf zu fluchen.

Tommi war also gesprungen.

Anstelle eines tosenden Applauses kam jedoch erdrückende Stille auf, die sogar Ullis Fluchen erstickte, bis plötzlich ein tiefes Grollen aus der Ferne sämtlichen verbliebenen Lebensraum in unmittelbarer Umgebung zu töten drohte. Und rasend schnell gewann es an Lautstärke, was es ihnen unmöglich machte, die Richtung zu orten.

Als ob ihnen plötzlich das Augenlicht fehlte, flogen ihre Köpfe suchend umher, versuchten, sich durch den gelblich grauen Nebel zu kämpfen, lauschten für Sekunden.

Irgendwo in der Mitte des Schienenlabyrinths fingen die Gleise an zu summen.

„Die Bahn!“, schrie Matjes. „Wir müssen hier weg!“ Georgies Worte drängten sich in sein Bewusstsein. „Die U-Bahnen kommen alle zehn Minuten.“

Wie vom Irrsinn vergiftet, flog Holmi herum und kreischte hell: „Du hast recht, die Bahn … Ooh, verdammt!“ Hastig stürzte er zum Brett, riss es an einer Seite hoch und hievte es zurück auf den Mauervorsprung, dann drückte er das andere Ende mit beiden Füßen fest in den Erdboden. Mit voller Wucht sprang er zur Sicherheit noch einmal drauf. Um seine Freunde, die weiterhin verzweifelt die U-Bahn in dem dichten Nebel zu orten versuchten, kümmerte er sich nicht mehr, er trat zwei Schritte zurück, rannte dann aufrecht das Brett hinauf, nutzte seinen Schwung und setzte mit einem kraftvollen Hocksprung hinüber. In großem Aufruhr fegte Matjes’ Kopf umher, ziellos schossen seine Blicke in den zähen Nebel. Immer wieder lauschte er angestrengt und … er entdeckte die schwachen Lichtkegel der Scheinwerfer rechterhand: „Da! Da ist sie … Sie kommt von da!“, beide Arme in diese Richtung schnellend. Die Lichtstrahlen durchfraßen den Nebel und wie hinter einer riesigen Milchglasscheibe erhellte sich träge das Bahngelände.

Unterdessen hatte sich Ulli aufgerappelt und war wieder auf das Brett gestiegen. Er sagte kein Wort. Mit drei, vier Schritten erreichte er den Mauersims und sah hinüber.

Für einen Moment stockte auch er. Und auch er drehte sich nicht noch einmal zu seinen Freunden um. Mit der linken Hand stützte er sich auf einer glasfreien Stelle ab, dann hechtete er hinüber, während die Bahn unaufhaltsam näher kam. Sekundenlang wurden Matjes und Kahli geblendet, da die Bahn eine leichte Kurve nahm, während sich die Jungs damit beschäftigten, ihren ganzen Mut zusammenzuraffen.

In diesem Moment passierte etwas Unglaubliches: Plötzlich verzog sich der Nebel, wurde nach oben gezogen, wie weggesaugt von einem riesigen Staubsauger. Das machte die Bahn sichtbar und somit das gesamte Bahngelände.

Kahli wusste nicht mehr, was er tat. Entsetzt griff er nach Matjes’ Hand und krallte sich regelrecht an ihr fest. Fassungslos sah ihn Matjes an, doch nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann flog er herum. Sie mussten handeln!

„Matjes!“, stieß Kahli gepresst aus. „Du zuerst … Los doch!“

„Dann lass’ meine Hand los! Du zerquetscht sie ja, Mann!“ Mit einem jähen Ruck riss er sich von ihm los. Auf allen Vieren bestieg er das Brett. Kahli folgte ihm.

Matjes schwitzte und sein Herz stolperte in seiner Brust. Mit großer Mühe erreichten seine Hände den Mauersims, ertasteten auf Anhieb eine scherbenfreie Stelle.

Keuchend zog er sich hinauf, schweißnass strich er seine Haare aus dem Gesicht, um gleich darauf zu einem beispiellosen Seitensprung anzusetzen.

Eine derartig sportliche Leistung war ihm bis dahin nicht gelungen. Es war die nackte Angst, die ihn diese Mauer bezwingen ließ.

Jetzt war Kahli allein.

Tief zwängte sich das Grollen in sein Hirn. Mit aller Kraft wollte es seinen Verstand lahm legen. Ein immer stärker werdendes Verlangen überkam ihn, das Brett wieder zu verlassen und sich nach der Bahn umzudrehen. Einfach Pause machen und dem Schauspiel zusehen!

Wirre Gedankenfetzen zermürbten ihn, während er regungslos auf dem Brett hockte.

Er konnte nicht vor und nicht zurück. Sein Puls jagte durch sämtliche Blutbahnen und ließ ihn zittern wie Espenlaub. Nur ein kurzer Blick zurück … Warum nicht?

In seinem Kopf pulsierte es und das Grollen hämmerte an seinen Schläfen, wobei seine Finger sich immer fester ins Holz krallten.

Doch dann …

… das dumpfe Grollen, das laute Summen der Stromschienen … Auf einen Schlag war alles um ihn herum verstummt. Der Nebel hatte sich verzogen. Totenstille erreichte ihn und abgrundtiefe Dunkelheit.

Wie in Zeitlupe wendete Kahli den Kopf … Ooh nein, was ist das? Oh, Gooooott!

Das war auf keinen Fall eine U-Bahn.

Diese Bahn war wesentlich älter. Und sie hatte längst nicht so viele Wagons. Kahli zählte gerade mal fünf Wagen.

Von lautloser Geisterhand wurde sie angetrieben. Absolut nichts war zu hören … Nur sein trommelnder Herzschlag drang durch den offenen Mund an seine Ohren.

Ganz deutlich konnte Kahli erkennen, dass die Bahn schwebte.

Sämtliche Wagonfenster waren blutrot eingefärbt. Sie leuchteten greller als Lampions in einem Laternenumzug, als ob es in ihnen lichterloh brannte. Keine dreißig Meter trennten ihn von dem brennenden Ungetüm auf Rädern.

Kahli spürte wie alles Leben um ihn herum starb. Geräusche wie Vogelgezwitscher, Grillenzirpen, der dumpfe Autolärm von der Langenhorner-Chaussee, alles zog sich zusammen, als würde es von einem riesigen Staubsauger aufgesogen. Wie welkende Blumen in der Vase. Schlaff knickten Pflanzen und Sträucher zur Seite.

In Schüben trat kalter Schweiß in seinen Achselhöhlen aus. Aus dem Augenwinkel registrierte er alles. Er konnte sich nicht bewegen.

Es war ein Zustand, als hielte man sich ganz fest die Ohren zu und nahm dadurch nur noch die Eigengeräusche wahr und sah dabei alles gestochen scharf.

Der Zeitlupeneffekt um ihn herum verschwand nicht.

Plötzlich ertönte ein unheimlich hoher Pfeifton. Rasend schnell gewann dieser Ton an Lautstärke, veränderte aber auch sein Klangbild.

Unwillkürlich schoss sein Blick hinauf zum sternenklaren Abendhimmel und im selben Moment schlugen irgendwo in der Nähe Sirenen an. Ohrenbetäubend heulten sie … hoch, hoch und tief, hoch und tief, hoch und tief.

Bis auf halbe Höhe war die glühende Bahn herangekommen. Was jetzt geschah, war gespenstisch. Für den Bruchteil einer Sekunde war alles still. Auch das Sirenengeheul war weg.

Mit einem gewaltigen Knall explodierte der Zug. Ein riesiger, aufquellender Feuerball breitete sich aus, schoss rasend schnell auf Kahli zu. Im Nu war es taghell.

„Ooohh Gooott … aaahhh!!!“, schrie Kahli und wurde gegen die Mauer gedrückt. Die Wucht der Detonation war so immens, dass alles in wilde Bewegung geriet und sofort Feuer fing.

Wie Streichhölzer knickten größere Bäume um, Büsche, Sträucher, das hohe Gras, die Brennnesseln. Orkanartig stob alles auseinander.

Im selben Moment spürte Kahli, dass er sich wieder bewegen konnte. Instinktiv zwang er sich zum Umdrehen, bereits in den gewaltigen Feuersog geraten, aber durch die Druckwelle angehoben. Ansatzlos hechtete er über den Mauersims, als ob ihm plötzlich Flügel gewachsen waren, schwebte hinüber, ohne sich abzustützen und ohne den geringsten Gedanken daran zu verschwenden, wie er wohl auf der anderen Seite aufschlagen würde.

Erbarmungslos schlug die Feuerwalze gegen die Mauer und schoss kerzengerade in den Himmel, als würde die Welt an dieser Stelle enden, baute sich vor der Mauer auf, als wollte sie Kahli demonstrieren, wie unsagbar endgültig ihr Vorhaben war.

Sie hatten gerade etwas Schlimmes erweckt und es übte bereits eine grauenvolle Macht aus.

Kettenwerk

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