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20. Geburtstag

22. Mai 1976

– 18:10 Uhr –

Kapitel 2

Träge quietschend schwang die massive Wohnungstür auf. Georgies weißes Lächeln blitzte ihm so entgegen, dass er fast erschrak.

Nie war sich Kessie sicher, ob dieses Lächeln nur gespielt war und ob Georgie es nur als Mittel zum Zweck einsetzte. Aber es gehörte zu seinem Charisma wie der gelbe Filzball zu Björn Borg.

„Hi, Kess’, komm’ rein“, empfing er ihn. Und leiser sagte er: „Wir reden nachher. Jetzt wird erst mal ’n bisschen geschwitzt!“

Bevor die Gäste eintrafen, mussten noch ein paar Vorbereitungen getroffen werden. Zwei Zimmer wurden leergeräumt, während beflissene Helferinnen in der Küche verschiedenste Salate und kalte Platten zubereiteten.

Kessie wagte einen verstohlenen Blick in die Küche, um sich spontan für das Möbelschleppen zu entscheiden. So viel geballte Weiblichkeit in einem Raum machte ihn unsicher. Im Gegensatz zu Georgie wohnte er nämlich noch bei seiner Mutter.

Gegenüber vom Kettenwerk.

Er und Georgie telefonierten mindestens einmal die Woche oder er besuchte ihn. Freunde waren sie schon seit dem Kinderhort. So ziemlich alles vertraute er ihm an. Dinge, die ihn bewegten und was eben alles so ging.

Das zumindest dachte Georgie bis zu diesem Abend. Das mit dem Artikel im Garstedter Wochenblatt verschwieg Kessie ihm allerdings.

Was Kessie da las, war so seltsam und aufschlussreich zugleich, dass er sich noch am selben Abend ins Werk aufgemacht hat und hinauf auf ihren Beobachtungsturm geklettert war.

Hätte er damit vielleicht lieber zuerst zu Georgie gehen sollen?

Im Augenblick war Kessie weit davon entfernt, sich in Partystimmung zu bringen. Lieber wollte er reden … reden über das, was sie vor vier Jahren erlebt hatten. Grauenvolles! Er wünschte sich die Jungs herbei, damit sie endlich den fälligen Plan schmiedeten.

Das alles muss ein für alle Mal erledigt werden!

Er wollte sich seelisch einstimmen auf ihren gemeinsamen Weg zurück ins Werk, wohin sie sich schon bald aufmachen mussten.

Da gab es keine Zweifel mehr.

Nein, zum Feiern war ihm nicht zumute.

Nachdem die Wertsachen und die sperrigen Möbel weggeschafft waren, wurden drei der sieben Zimmer verschlossen. Die Zimmer gehörten zum vorderen Teil der Wohnung, waren durch fensterlose Schiebetüren miteinander verbunden. Ein geräumiges Esszimmer, ein Wohnzimmer und das Arbeitszimmer.

Das Esszimmer war unverzichtbar. Nicht, weil Georgie konservativ war. Nein, er kochte gern und er bewirtete seine Freunde gerne.

Im Esszimmer protzten ein schwerer Eichentisch und sechs passende Holzstühle mit langen, schlanken und mit altrosa farbigem Samt gepolsterten Rückenlehnen.

Links und rechts des Fensters wuchsen zwei wuchtige Yuccapalmen.

Zwei riesige, gerahmte Fotokollagen dekorierten die Wand, von der keine Tür abging. Es waren Kollagen mit Werbefotos, die er in Zeitschriften und Magazinen gefunden hatte. Seine kreative Ader hatte unzählige Fotoschnipsel farblich angepasst. Wirkliche Kunstwerke!

Die drei Zimmer waren mit flauschigem, silbergrauem Velours verlegt.

Eine Empfangsdiele … der vordere Flurabschnitt entließ einen schlauchigen, schmalen Flur nach hinten zur Küche und zu drei weiteren Zimmern.

Von der Empfangsdiele ging linkerhand noch ein schmaler, türloser Garderobenraum ab.

„Bite Your Granny“ von Morning, Noon & Night pumpte gnadenlos aus den selbstgebauten Lautsprecherboxen und bestimmt dreißig schwitzende Gestalten tanzten in dem zur Tanzfläche freigeräumten Zimmer. Zu der Zeit war „Bite Your Granny“ in den Soul-Clubs auf der Reeperbahn der totale „Klopfer“.

Georgie hatte die Maxi-Single in einem US-Import-Record-Shop am Pferdemarkt gekauft.

Seit fünf Jahren wuchs seine Schallplattensammlung unaufhaltsam schnell. Mittlerweile besaß er weit über fünftausend LPs und Maxis.

Phillysound war sein Ding, aber auch Funky Music und natürlich Motown.

Sobald die neuesten US-Platten über den großen Teich schwappten, hatte er sie bereits in seine Sammlung eingereiht. Freitags war Soul-City-Record-Shop-Tag.

Deshalb waren seine Feten so beliebt und das sogar bis nach Langenhorn. Meist fand sich zweimal im Monat ein spontaner Anlass zum Feiern.

Kessie ging Richtung Küche, wo er Georgie vermutete, doch wider Erwarten kam er nicht bis dorthin.

Plötzlich stand Betty vor ihm … die Liebe seines Herzens … keine zwei Meter vor ihm. Und wie toll sie aussah! Schlagartig fühlte er unangenehme Hitze aufsteigen, glaubte, urplötzlich aus allen Poren zu dampfen. Kalter Schweiß flutete seine Stirn und er hatte das Gefühl, unter den Achseln entsetzlich zu riechen. Sogar seine Augen begannen zu tränen, obwohl es da nix zum Weinen gab. Sein Blick flackerte und die Knie schienen butterweich. Außerdem bemerkte er wieder das hässliche Zucken im rechten Mundwinkel.

Sekundenlang standen sie sich wortlos gegenüber, bis er sich zu einem Kuss auf ihre Wange durchrang. Und noch bevor sie darauf hätte reagieren können, tauchte er wieder in der Menge ab. Erst in der Küche kämpfte er sich an die Oberfläche zurück.

Für emotionale Gefühle, vermischt mit hilflos gestammelten Liebesschwüren, ist jetzt echt nicht der richtige Zeitpunkt … und noch weniger ist es der richtige Ort.

Mit dieser schwachen Ausrede wollte er zunächst sein angeschlagenes Selbstbewusstsein zurechtrücken, das gerade bedrohlich ins Wanken gekommen war.

In der Küche empfing ihn rettende Leere, die ihm schnell den Schweiß trocknete, und er konnte tief durchatmen.

Er entdeckte Georgie am „Colakisten-Thresen“ … ein breites, langes Brett, das mit einer glanzroten Plastikplane abgedeckt war.

Sein Freund Eddy stand bei ihm.

Mit hochrotem Kopf und klitschnassen Achselhöhlen ging Kessie auf die beiden zu und gerade, als er sich ein gequältes „Hallo“ entreißen wollte, drehte sich Georgie nach ihm um, als wüsste er, dass Kessie hinter ihm stand.

Kessie erschrak.

„Kess’, alter Schwede“, lachte Georgie mit einer wedelnden Handbewegung, „amüsierst dich …Was? He, Mann, hast du Betty schon gesehen? Ho, ho, ho…“ Er war mit zwei Schritten bei ihm. „Sie macht Sinn, was?“ An der Schulter zog er Kessie zu sich heran und lachte wieder weiß: „Aber probier’ erstmal die Bowle …“

Ein Augenzwinkern begleitete den Satz.

Kessie hielt ein missglücktes Lächeln dagegen.

„Tja, das macht dir doch nichts aus …“, drehte sich Georgie zu Eddy, „wenn du hier allein weitermachst.“ Ansatzlos stieß er ihm den Ellenbogen in die Rippen. „Kess’ und ich haben etwas Wichtiges zu bekakeln.“

Noch im Weggehen fügte er hinzu: „Sieh’ dich um … Hier bist du nicht lange allein!“ Beiläufig deutete er auf die beiden Mädchen, die zuvor in die Küche getänzelt waren und jetzt lässig an dem großen Kühlschrank lehnten.

Eddys schmerzverzerrter Blick ging hinüber zu ihnen und ruckartig verlagerte er das Gewicht auf sein Standbein und versuchte, sich gespielt lässig mit der rechten Hand abzustützen, ohne die Mädchen dabei aus den Augen zu verlieren. Eindringlich begann er sie zu taxieren, wobei er fortwährend an seinem wiedererlangten Lächeln herumwischte.

Hinter der fliehenden Pickelstirn konnte Kessie trotz der dröhnenden Musik deutlich das leise Pochen von Einfallslosigkeit wahrnehmen.

Beinahe väterlich schlug ihm Georgie auf die Schulter und meinte, Eddy sei ausreichend versorgt … Eine halbe Stunde wird er schon allein dazu benötigen, sich für eine der beiden zu entscheiden und dann nochmal ’ne gute Viertelstunde, um schließlich die „Auserwählte“ anzuquatschen.

„Lass’ uns bloß nicht so lange warten“, lachte er, „oh, apropos warten … mal im Ernst, was du da am Telefon gesagt hast“, schlagartig wandelte sich sein Gesichtsausdruck, „ich hab’ so was geahnt. An viele Dinge kann ich mich wieder erinnern.“ Ein alles durchdringender Blick schoss Kessie entgegen. „Ich weiß, dir geht es genauso, oder sehe ich das falsch?“

Er hielt inne. Nachdenklich sah er an sich hinab: „Wie konnten wir das alles bloß so komplett vergessen!“

„Ich … ich weiß nich’“, fusselte Kessie an seinen Lippen herum.

„Seit Jahren habe ich nicht mehr an Kahli gedacht.“

„Ich … ich auch nicht!“

„Aber gibt’s denn das“, schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn, dass es hell klatschte und er einige der herumstehenden Blicke auf sich zog.

Fassungslos sah ihn Kessie an, als Georgie ihn plötzlich mit beiden Händen an den Armen packte und mit fester Stimme sagte: „Ich habe daraufhin etwas Wichtiges erledigt gestern. Mir war etwas Entscheidendes eingefallen … Das muss der Schlüssel zu diesem Scheiß hier sein, Mann!“

Natürlich wusste Kessie nicht, was er darauf antworten sollte. Also blieb er still, wich aber Georgies Blick nicht aus.

„Komm’ raus hier!“, drehte er sich blitzschnell um, griff nach einer Flasche Weinbrand, die neben einer Reihe anderer Flaschen auf einem Regal stand, und war im nächsten Augenblick im Gewühl verschwunden.

Wie angesaugt blieb Kessie für mehrere Sekunden in der Küche, verdaute Georgies letzten Worte, die ihm bleiern den Kopf schräg legten.

Entgeistert starrte er auf das Regal mit den Alkoholflaschen, zählte drei Flaschen Weinbrand, zwei Flaschen Scotch, zwei Flaschen Bourbon und vier Flaschen Bacardi.

Wie kann er so schnell nach der richtigen Flasche greifen, ohne vorher hinzusehen … und was verdammt nochmal ist der Schlüssel zu all dem! Klar, Georgie kann sich bestimmt eher an alles erinnern, weil er ja mit Ulli und den anderen tief in den Bunker hinabgestiegen war, trotzdem hab ich schon die ganze Zeit dieses merkwürdige Gefühl. Das ist so eine Ahnung, was Georgie betrifft, als kann ich ihn jetzt durchschauen. Bloß weiß ich nicht, was ich mit diesem Gefühl anstellen soll … Und Betty?

Irgendwas haben wir damals gesehen … wir beide zusammen und doch irgendwie getrennt voneinander. Diese Ungewissheit setzte ihm mächtig zu. Ist es vielleicht das, was er mir und den anderen gleich sagen will? Ob die anderen wohl schon da sind?

Er schüttelte den Kopf.

Eddy fiel ihm wieder ein. Er drehte sich nach ihm um, doch der steckte noch immer in der schwierigen Entscheidungsphase.

Beherzt griff Kessie nach zwei Sektgläsern, die er auf dem Kühlschrank erspähte, ohne die beiden blonden Schönheiten zu stören und ließ es vorerst dabei bewenden.

Bis auf Betty – und falls Ulli und die anderen schon da waren – kannte er keinen hier und er bezweifelte stark, ob Georgie all diese verrückten Typen kannte.

Als er auf den Flur hinaustrat, mit der Erwartung, Georgie noch zu erwischen, musste er feststellen, dass dieser sich bereits in Luft aufgelöst hatte. Eigentlich war es unmöglich, durch das Gedrängel so schnell durchzukommen.

Die Sektgläser schützend unter dem Arm, zwängte er sich mühsam durch den schwitzenden und zuckenden Menschenhaufen.

In Höhe des Garderobenraums sah er Betty. Ihm den Rücken zugekehrt, lehnte sie an der Wand und ging ihren Menschenstudien nach.

Beschwerlich kämpfte er sich zu ihr durch. Ein kräftiger Schubs von hinten erledigte, was er nicht imstande war, zu vollbringen.

Wie in einem schlechten Film flog er auf sie zu und im nächsten Moment lag sie fest in seinen Armen.

Empört wollte sie zunächst aufschreien, doch als sie Kessie als den Attackierer erkannte, schmiegte sie sich in seine Arme und entwaffnete ihn mit ihrem Glanz in den Augen, sodass es schon wieder aus ihm herausdampfen wollte.

Ihre dunkelblonden, schulterlangen Haare, ihre tiefdunklen Rehaugen wie Teiche so dunkel und tief, machten sie unwiderstehlich.

Zielsicher bohrte sie sich in sein trommelndes Herz und sie trocknete in Sekundenschnelle seine Kehle aus, ließ ihn schwer schlucken.

Wie geht’s jetzt weiter?, fragte er sich, während sein Unterbewusstsein bereits handelte und sie wie von Geisterhand geführt in den Garderobenraum bugsierte.

Der eiskälteste Schauer befiel ihn, obgleich er sie noch enger an sich drückte. Sie tauschten tiefe Blicke aus, wobei ein ungebetenes Zucken sein linkes Augenlid heimsuchte, ihn hindern wollte, ihrem sinnlichen Blick standzuhalten. Mit aller Entschlossenheit kämpfte er es nieder. Auch das Zucken im Mundwinkel. Seine linke Hand mit den Gläsern drückte sich tief in ihren blassgelben Rollkragenpullover. Ihre weichen Rundungen schienen die Sektgläser zu verschlingen. Sie flüsterte: „Ganz schön eng hier, oder?“

Als er ihre Stimme hörte, erschrak er, doch seine spontane Antwort passte: „Oh, ja … aber es reicht!“

Er grinste verlegen. Sein Kopf schien blutleer.

Die Gläser, der Weinbrand und … Georgie. Er war hin und hergerissen. Alles zerrte an seinem Verstand … Das hier ist der absolut falscheste Moment!

„Du, Betty … ich würd’ ja gerne so mit dir stehenbleiben hier … ehrlich, aber ich … ich muss … ich wollte gerade …“ Ein bohrender Zungenkuss stoppte seinen Redefluss und augenblicklich wollten ihm die Knie versagen. Sogar ein verhängnisvoller Würgereiz kündigte sich an.

Alles um ihn herum wollte sich in Watte verwandeln … so wie damals im WILLKONS-Haus.

„Na, geh’ schon zu deinem Busenfreund …“ Sie senkte den Blick. „Zu meinem wirst du ja wohl von ganz allein zurückfinden, oder?“

„Oh ja“, schluckte er trocken. Derweil tobten sämtliche Schwellgeister unterhalb seiner Gürtellinie, was ihr nicht entging.

„Ich warte auf dich, okay?“, hauchte sie bettfertig.

Es war wieder genauso, wie damals … Aber was genau war damals?

Vor vier Jahren hatte er sie zuletzt gesehen.

„Oh, Betty, ehrlich, das alles holen wir gleich nach. Ich bin gleich zurück!“ Ein missratener Kuss streifte ihre Wange und er ließ sie los. Die Hand mit den Sektgläsern glühte und eine aufrechte Haltung war im Augenblick nicht möglich, stattdessen entließ er ein verklärtes Lächeln.

„Nun hau’ schon ab“, hob sich ihre Stimme, wobei ein provokanter Blick seinen Hosenschlitz attackierte.

Im Gegensatz zu Kessie hatte sie längst die damaligen Geschehnisse vor Augen … Vielmehr waren sie zu keiner Zeit aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Ungeduldig hatte sie all die Jahre auf genau diesen Moment gewartet … Endlich würde es losgehen jetzt, endlich würde sie vollenden, was schon vor so vielen Jahren hätte vollendet werden müssen.

Nur wusste sie noch nicht, wann genau der Startschuss fallen würde. Wie viele von Georgies Freunden würden mit von der Partie sein?

Das sollte heute Nacht herausgefunden werden.

Es war also noch genug Zeit. Zeit für ein wenig Zerstreuung und in Kessie hatte sie die geeignete Person gefunden, bei der sie sich die körperliche Entspannung verschaffen konnte. Sollte er doch wenigstens einmal in den hohen Genuss der körperlichen Liebe kommen, bevor es auch mit ihm zu Ende ging.

Dafür werde ich schon sorgen!

Und es wurden dem Weibe zwei Flügel gegeben

Wie eines großen Adlers, dass sie in die Wüste

Flöge an ihren Ort, da sie ernährt würde eine

Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit vor

Dem Angesicht der Schlange.

Neues Testament, Offenbarung des Johannes

Kapitel 12, Vers 14

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