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Das Taschenlampenversteck-Spiel

Tage zuvor

September 1968

Kapitel 18

Meistens taten sich Ulli und Georgie zusammen. Schon lange ging es ihnen nicht mehr um das Spiel allein, sondern vielmehr um Sieg und Niederlage, und es ging um Ehre, um Kameradschaft und um bedingungslose Freundschaft.

Sie nahmen das Spiel todernst, was die zahlreichen Verletzungen bewiesen. Schon allein deshalb wurde ihnen das Spiel strengstens verboten. Doch sämtliche Verbote und Strafen halfen nichts. Sie spielten das Spiel immer wieder.

Allein die Gefahr, erwischt zu werden, zählte.

„Okay! Haut’ ab!“, ertönte Georgies Stimme.

Tommi, Holmi, Matjes und Kahli sausten davon.

„Wir zählen bis 50!“, rief ihnen Ulli nach.

Er grinste verschlagen, da sonst jedes Mal bis 100 gezählt wurde.

Die Gesichter dem Tor zugewandt, standen sie unten in der Tiefgaragenauffahrt und zählten langsam.

„… 47, 48, 49 … 50!“ Ein geschärfter Blick fuhr die Auffahrt hinauf und Ulli fragte: „Wer geht?“

„Ich. Bleib du hier … und pass’ auf Holmi auf. Der wird immer besser.“

„Kein Problem, hier kommt keiner durch.

Sie berieten sich bewusst leise, um nicht womöglich vom Dach über ihnen belauscht zu werden. Die Tiefgaragenauffahrt war zur Hälfte überdacht und dieses Vordach bot ein oft genutztes, ideales Versteck, von wo aus man jedoch auch überraschend angegriffen werden konnte. Holmi zog diese Variante besonders gerne vor.

Längst hatte sich die Dämmerung verabschiedet und faltete feuchtneblige Dunkelheit über die Siedlung aus. Ihr Glück war, dass drei der sieben Laternen im Mozartweg defekt waren. Das war natürlich vorteilhaft.

„Okay … wie letztes Mal“, rannte Georgie die Auffahrt hinauf, bog nach rechts in den schmalen Verbindungsweg, der den Mozartweg kreuzte, vorbei an den geparkten Autos. Dann hechtete er über die Hecke des ersten Reihenhauses im Schubertring, rollte über die Schulter ab, nutzte den Schwung und setzte zu einem beispielhaften Hechtsprung an, der ihn hinter einen bauchigen Holunderbusch beförderte. Gestochen scharf schoss ein eiskalter Blick nach rechts und links, während er auf den Knien hocken blieb.

Einen Moment später stürmte Ulli los, jedoch rechts entlang, den grasbewachsenen Abhang hinauf, über die niedrige Hecke hinweg auf den schmalen Sandweg.

Hinter den seitlich angelegten, dichten Büschen legte er sich im Schutze der Dunkelheit auf die Lauer.

Jedes Mal wurden drei Teams gebildet. Es gab die Jäger und die Läufer. Die Teams formierten sich jeweils zu zweit, aber längst waren die Partnerschaften, wer mit wem losrannte, festgelegt.

Der Ausgangspunkt war zugleich auch das Ziel. Ein Anblinken mit der Taschenlampe direkt von vorn hieß, man war gestellt. Jedoch hatte der Gejagte die Möglichkeit, noch vor dem Jäger das Ziel zu erreichen.

Bei einem alles entscheidenden Wettlauf gab es einen Abzug von nur einem Punkt. Für einen unbemerkten Zielsprint gab es dagegen gleich drei Punkte. Die Gejagten konnten sich also für zwei Alternativen entscheiden, um ihre Punkte zu machen: sich lange genug verstecken und im geeigneten Moment zurück zum Ziel schleichen oder nach dem Anblinken einen Alles-oder-nichts-Sprint hinlegen.

Das Jägerteam dagegen konnte mehr Punkte machen, da sie gegen zwei Teams kämpften. Für jeden angeblinkten Wolf, so nannten sie die Gejagten, gab es schon einmal einen Punkt.

Schaltete man den Wolf aus, indem man ihn hinderte, dass Ziel zu erreichen, gab es einen weiteren Punkt. Damit jedes Team einmal Jäger war, hatte das Spiel drei Durchgänge.

Hart und bedingungslos wurde um die Punkte gekämpft. Den Gegner durfte man anschleichen, erschrecken, antippen, anblinken, jagen und wenn nötig, gewaltsam zu Boden reißen oder einfach ganz umhauen, somit also ganz ausschalten. In derartigen Spielphasen wurden die meisten Büsche und Hecken oder gerade frisch angelegte Beete zertreten. Das Umhauen war Holmis Spezialität. Tommi dagegen versteckte sich lieber, um sich dann im geeigneten Moment dem Ziel zu nähern. Matjes zog den geplanten Zieleinlauf vor, ebenfalls wenn möglich, ohne vorher angeblinkt zu werden, da er nicht so schnell rennen konnte. Kahli suchte den hinterhältigen Angriff, indem er den Jäger vom Ziel weglockte, ihm auflauerte, von hinten überwältigte und dann erst zum Ziel durchstartete … Dadurch konnte sich der Gejagte nämlich noch einen Bonuspunkt holen.

Das Spiel festigte Härte und Geduld, aber auch taktisches Geschick. Spielerisch wurden ihre Gerissenheit und ihr Ideenreichtum verfeinert. Es festigte den kameradschaftlichen Zusammenhalt. Sie lösten sich von normalen Ängsten. Ängste vor der Dunkelheit oder vor einem feigen Hinterhalt. Sie lernten, schnelle Entscheidungen zu treffen. Aber das Wichtigste war: Sie lernten, zu verlieren und zu gewinnen.

Weiter drüben tat sich etwas, etwa im vierten Vorgarten, nahe der umzäunten Terrasse. Soeben hatte sich dort ein Busch bewegt. Georgie konnte noch nicht ausmachen, wer sich dahinter verbarg, aber lange brauchte er nicht warten, denn ein Wolf durfte nicht länger als vier Minuten in einem Versteck bleiben. So sollte das Spiel noch interessanter gestaltet werden und da Georgie nichts mehr hasste, als im entscheidenden Moment zu weit vom Wolf entfernt zu sein, zog er immer den Überraschungsangriff vor.

Geschmeidig verließ er den bauchigen Holunderbusch, ließ aber das Zielobjekt nicht aus den Augen. Seine Sinne waren auf das Umfeld ausgerichtet, wie auch der gestochen scharfe Blick aus einen dritten Auge im Hinterkopf … Jede Bewegung hätte er registriert.

Diese Gabe konnte er sich nicht erklären, verstand sie aber schon seit langer Zeit zu nutzen.

Seine innere Stimme sagte ihm, dass Matjes dort hinter dem Busch hockte und sie hatte Recht. Für einen Moment zeigte Matjes seine gewellte Haarpracht.

Dieser Punkt war ihm so gut wie sicher.

Mit Matjes’ Untergang wollte er sich einen guten Start verschaffen.

Wider Erwarten kam es anders. In dem Augenblick, als er losstürmen wollte, traf ihn von hinten ein stumpfer Gegenstand. Er wurde buchstäblich niedergemäht.

„Matjes! Ich hab ihn! Hau’ ab!“

Während sich Georgie gekrümmt abrollte, erkannte er noch Kahlis Stimme. „Los, lauf! Ich halt ihn auf“, rief Kahli seinem Partner zu.

Ab jetzt ging alles furchtbar schnell.

Georgie war sauer über sich selbst. Sein Rücken schmerzte entsetzlich. Er hätte ihn unbedingt hinter sich bemerken müssen. Ein Scheißfehler … Wie konnte mir das passieren?

Mit einem handlichen Knüppel baute sich Kahli breit grinsend vor ihm auf: „Dumm, was, Arschloch? Damit haste nich’ gerechnet, hä?“

Georgie antwortete nicht, sondern handelte stattdessen kurzentschlossen und präzise. Eine vorgetäuschte Schulterbewegung veranlasste Kahli, den Knüppel noch einmal zu schwingen, aber noch während er ausholte, ließ sich Georgie halb nach rechts fallen und verpasste ihm einen Fußtritt. Kahli wusste nicht, wie ihm geschah.

Der Fuß traf ihn hart in die rechte Rippengegend, als er gerade nach links ausholte. Seinem eigenen Schwung folgend, warf es ihn zurück in den Busch, hinter dem er zuvor herausgesprungen war.

Ein gepresstes „Oooh!“ entwich seiner Luftröhre. Dann sackte er kraftlos zusammen.

Georgie rappelte sich auf. Mit gezogener Taschenlampe ging er auf Kahli zu, blinkte ihn zweimal an und sagte mit ruhiger Stimme: „Und raus bist du.“

Längst war Matjes hinter dem Busch hervorgetreten. Es war nicht schwer, die Lage richtig zu erfassen. Im Schutze der Tannen und Hecken rannte er dem Ziel entgegen, nichtsahnend, woher ihn sein Untergang auf die Knie zwingen würde.

Siegessicher und dennoch gebückt kam er den schmalen Verbindungsweg herauf, der zur Tiefgarage führte. Doch bevor er sie erreichte, schlug der Jäger zu.

Seitwärts der Auffahrt sprang ihm Ulli entgegen und schrie: „Matjes, Vorsicht!“

Abrupt stoppte Matjes. Er fuhr herum. Wie ein im Scheinwerferlicht erschrockenes Rehkitz erstarrte er zu Stein, bis zwei Füße ihn brutal von den Beinen rammten.

Auch Ulli kam zu Fall, rollte sich aber ab. In der nächsten Sekunde stand er mit den Worten vor Matjes: „Na, Bruderschmerz? Wo wollte es denn mit dir hin?“

Matjes konnte nicht mal einen natürlichen Wehlaut auszustoßen, stattdessen hielt er die Arme vor die Brust gepresst. Er röchelte. Für einen Moment blieb ihm die Luft weg. Sein Gesicht schien blau anzulaufen und wie in Panik riss er die Augen weit auf.

Ulli blieb beherrscht. Er bückte sich zu ihm hinunter und drehte ihn auf den Bauch. Mit voller Wucht schlug er ihm auf den Rücken, sodass Matjes sofort schluckte, wie ein Fisch nach Luft schnappte und hustete.

„Hee, hee, hee … Geht’s wieder? Sag was!“, dabei hob er ihn am Bauch hoch. „Na, wie war ich?“

Es dauerte ein paar Minuten, bis Matjes klar denken, geschweige denn Luft holen konnte, doch ein du Arsch brachte er sofort heraus.

„Okay, ja, dann kann ich ja wieder los …“, entgegnete Ulli lachend, „ach ja … du bist raus!“, zückte seine Taschenlampe und blinkte ihm zweimal ins Gesicht.

Diesmal wollte Tommi anders vorgehen und nicht wie sonst in einem Versteck abwarten, um am Ende dann doch angeblinkt zu werden. Er war von der gegenüberliegenden Seite durch die ersten Vorgärten gestrichen, hatte Matjes’ Fall beobachtet und daraufhin seine Schirmmütze in Kampfstellung gebracht.

Dichter als je zuvor war er dem Ziel jetzt nahegekommen.

Begleitet von einem Urschrei brach er heraus aus seinem Versteck. Ulli hatte keine Chance.

Gerade, als er sich von Matjes wegdrehte, rammte ihn Tommi mit grober Wucht beiseite. Wie ein abgeschossener Pfeil flog er die Rasenböschung hinauf. Er stampfte mit ausgebreiteten Armen die Auffahrt hinunter und prallte dumpf gegen die Garagentür, sodass alles im Umkreis zu beben schien. Kurz taumelte er, schrie dann aber ebenso laut: „Ziel! Und Sieg! Ha, ha, ha!“

Sichtlich angeschlagen kam Kahli den Mozartweg herauf. Er und Matjes ließen sich am Fuße der Böschung nieder und leckten gemeinsam ihre Wunden. „Du Arsch!“, stöhnte Ulli schmerzverzerrt, während er seine Taschenlampe suchte. Bei dem Stoß war sie im hohen Bogen davongeflogen.

„Das hat wehgetan, Mann!“

„Was soll ich denn sagen?“, krächzte Matjes schroff.

Kommentarlos nickte Kahli. Er streckte sich, indem er die Arme hochhielt.

Tommi schnappte gierig nach Luft, während er die Auffahrt hinaufhumpelte: „Jedenfalls hab ich die drei Punkte geholt! Nur darauf kommt’s an.“ Auch er hatte sich verletzt.

Schwer ließ er sich neben Kahli ins Gras fallen.

Die Regeln besagten, dass der letzte Wolf – in diesem Fall Holmi – von beiden Jägern gejagt werden musste, damit er die Chance auf einen freien Zielsprint bekam.

Angeschlagen hastete Ulli davon, stieg über die Hecke, die den Verbindungsweg abgrenzte, und verschwand im Dunkel der ersten Hausreihe.

Holmi beobachtete das Ganze aus der ersten Reihe. Gleich zu Beginn des Spiels war er um das hohe Mietshaus neben der Tiefgarage gerannt, war über den Stacheldrahtzaun gehechtet und von dort auf das Flachdach der Garage geklettert. Dann robbte er so weit vor, um unmittelbar über die Garagenauffahrt zu gelangen. Auch er sah, in welche Richtung Ulli verschwand, also rutschte er zur Mitte des Daches zurück und verließ es auf der Rückseite, wo er sich hinter einer langgestreckten Tannenhecke versteckt hielt.

Er wollte Ulli gebührend in Empfang nehmen.

Von seinem Versteck aus konnte er den Steinplattenweg, der zum Spielplatz führte, gut überblicken. Zwar durfte ein Wolf nur vier Minuten in einem Versteck verweilen, aber er ging davon aus, dass das jetzt niemand mehr kontrollieren würde. Die Taschenlampe seines Vaters hielt er fest im Anschlag.

Sein Plan nahm dann aber doch einen völlig anderen Verlauf.

Einige Minuten schleppten sich dahin, bis ein grelles Licht plötzlich im Kellereingang hinter ihm losbrannte. Das Licht verwandelte sein Versteck in eine helle Bühne und gleichzeitig wurde die Kellertür aufgerissen. Im nächsten Augenblick erschien der alte Possack mit einem Besen bewaffnet. Er stürmte die Stufen hoch und schrie: „Hab’ ich dich endlich, du Strolch!“ Er schrie so laut und schrill, dass seine Stimme brach.

Wie von einer Giftschlange gebissen schreckte Holmi herum, stolperte über den linken Fuß und fiel rücklings in die Tannenhecke.

„Wirst du wohl hier bleiben! He, he, he … halt! Hier geblieben!“

Mit aller Kraft drückte sich Holmi durch das Tannengeäst, strampelte und fiel wenig später auf den Steinplattenweg, wobei er die Taschenlampe seines Vaters verlor. „Scheiße, verdammt!“

Rücksichtslos stocherte Possack mit dem Besenstil hinter Holmi her, blindlings hinein in das Tannengeflecht, doch er traf nur Äste.

Dann entdeckte er die Taschenlampe und gerade, als er sich nach ihr bücken wollte, wurde er mit nur einem Fußtritt auf den Hinterkopf brutal zur Seite gestoßen. Im selben Moment griff sich Holmi die Taschenlampe, rappelte sich auf und stürzte los.

Er nahm geradewegs den Weg zurück zum Schubertring.

„Aaah!“, gellte es durch die feuchte Abendluft und der alte Possack sackte mit dem Kopf zuerst in die Tannenhecke. „Ihr teuflisches Gesindel … aah, aah!“, stöhnte er wild mit den Armen fuchtelnd. „Ich werd’ Euch schon noch kriegen!“

Für die Jungs bedeutete der alte Possack keine wirkliche Gefahr, obwohl er schon seit einigen Abenden auf der Lauer lag, um endlich einen der Übeltäter zu erwischen, die seine Beete zerstörten. Er war ein weißhaariger, hagerer Mann, klein, aber drahtig. Seitdem seine Frau vor knapp zwei Jahren verstorben war, hatte er nicht mehr viel, für das es sich zu leben lohnte. Die Beete waren eine der letzten Erinnerungen an sie, deshalb verteidigte er die Blumen und Pflanzen so vehement.

Durch die Tannenhecke hatten Georgie und Ulli alles verfolgt und im letzten Moment war Georgie seinem Freund zu Hilfe gekommen.

Ohne sich um den alten Possack zu kümmern, sprangen sie über ihn hinweg und rannten zum vorderen Gartenbereich, sprangen über die Hecke, dann nach links zum Schubertring, wo sie Holmi noch entdeckten, wie er davon sprintete, als würde er von tausend räudigen Hunden gehetzt. Sie sahen sich nur an und entschieden, ihn für heute laufen zu lassen.

Stolz holte sich Holmi die drei Punkte.

Kettenwerk

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