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ОглавлениеDer Kinderhort
23. Mai 1976
21:30 Uhr
Kapitel 12
Kessie erreichte den Treffpunkt eine halbe Stunde zu früh. Er hatte es nicht weit bis zum Werksgelände.
Natürlich kam er zu Fuß.
Punkt 22 Uhr waren sie am Haupteingang verabredet und je näher er dem Treffpunkt kam, desto eindringlicher fixierte er die Einfahrt zum Werk. Nichts erschien ihm ungewöhnlich. Kein Hundegebell. Kein orangefarbenes Licht drang über die Mauer herüber. Georgie und die anderen waren noch nicht da.
Sicherheitshalber ging Kessie auf der anderen Straßenseite.
Schon immer war dieser Abschnitt der Essener-Straße schlecht beleuchtet. Aus nur zwei Laternen rieselte fades Licht herab, verreckte schnell an der hohen Werksmauer. Angestrengt kniff er die Augen zusammen, um sich durch die Dunkelheit zu zwängen, doch die Sicht wurde dadurch nicht besser. Nachts glich die Essener-Straße dem Rollfeld eines stillgelegten Flughafens. Autos fuhren hier selten und noch seltener begegnete man Spaziergängern, obwohl die Straße von der stark befahrenen Langenhorner-Chaussee abging.
Immer wieder schwirrten ihm Georgies Worte durch den Kopf – in der Küche, kurz bevor Betty dazukam. Einen Satz wiederholte Kessie immer wieder: Vielleicht ist es dir noch nicht eingefallen. Versuch’ es wenigstens. Er atmete tief durch und sah zum wolkenverhangenem Himmel auf. Oder soll ich dir erzählen, was passiert ist?
Und dazu Georgies zersetzender Blick. Als wollte …!
Gerade erreichte er den Jägerzaun des Kinderhorts, als ihm Betty durch den Sinn fegte.
Oh Mann, war das ’ne Nacht gestern! Ein heftiger Schauer ergoss sich zwischen seinen Schulterblättern … Doch das gehört jetzt nicht hierher.
Georgie hatte herausgefunden, dass der Kinderhort lange vor dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurde. Irgendwann 1934 für die Kinder der Werksarbeiter und der SS-Frauen und auch für Kinder von Lagerfrauen.
Natürlich, wusste er längst, ist der Kinderhort ein wichtiges Puzzle-Teil, während er durch den mannshohen Jägerzaun hinüber zu dem flachen Gebäude spähte.
Betty, Georgie und er gingen in diesen Hort. Viele Jahre lang.
Unheilvolles verbarg sich in dem düsteren Barackenbau. Das hatte er immer schon gefühlt und der heraufziehende Abend unterstrich sein Unbehagen. Gedankenversunken lehnte er am Zaun, der das gesamte Gelände wie eine besorgte Mutter umarmte.
Dichte Tannen schützten das Gebäude, hüllten es in ein bedrohliches Schwarz und in diesem Augenblick kam ihm die Gewissheit, dass dieser Ort zwei Seelen hatte.
Mit seinen Vorahnungen lag Georgie also gar nicht verkehrt.
Tatsächlich mussten sie weit in die Vergangenheit zurückgehen, um alle Verknüpfungen zu entwirren. Plötzlich erhoben sich klarere Bilder vor seinem geistigen Auge und zerrten an ihm, während er noch immer durch das dichte Tannengeäst spähte.
Eher unbewusst suchte er rechterhand eine bestimmte Tür und fand sie. Sein Blick heftete sich an diese Tür, wobei ihm Tante Irmtraut in den Sinn schoss.
Diese schweinsfette Jungfer … groß, kantig und übermächtig. Ob die wohl noch lebte? Raue Abscheu kroch in ihm hoch.
Damals hatte er große Angst vor ihr und noch heute schüttelte ihn allein der Gedanke an sie und ließ schlagartig seine Gesichtsfarbe ins Aschfahle sinken. Noch ekliger war ihr penetranter Schweißgeruch, der sich erbarmungslos mit ihrem billigen Parfüm vermischte. Plötzlich hatte er sogar das Gefühl, diesen Parfümgeruch einzuatmen.
Die Waisenkammer, murmelte er und erschrak vor der eigenen Stimme. Ja, verdammt, die Waisenkammer! Mehrmals am Tag benutzte Tante Irmtraut diesen Begriff in Verbindung mit einem ganz normalen Schlafsaal für die Ein- bis Dreijährigen. Dieser Schlafsaal befand sich ziemlich am Ende des langen Flures.
Warum nannte sie ihn Waisenkammer? Und noch während er darüber nachdachte, fand er eine plausible Erklärung, nämlich, dass der Saal zu Kriegszeiten wirklich für Waisen genutzt wurde. Für Kinder, deren Eltern plötzlich nicht mehr da waren – umgekommen im Krieg? Oder kamen sie im Werk um? Und was passierte dann mit den Kindern?
Georgie erwähnte die merkwürdige Begegnung mit dem Mädchen auf dem dunklen Flur, vier Tage bevor sie die Erscheinung des uniformierten Mannes auf dem Fahrrad und der scheußlichen Hunde hatten.
Jener Schlafsaal befand sich ungefähr auf gleicher Höhe mit der Küche, aber niemand bis auf Tante Irmtraut konnte etwas über diesen Raum sagen.
Wurde der Schlafsaal überhaupt noch genutzt? Ständig war die Tür verschlossen. Niemand ging dort hinein oder kam dort heraus.
Niemals stand die Tür offen.
Unvermittelt fuhr Kessie herum. Sein Blick schoss zum Haupteingang.
Die Jungs waren noch nicht da.
Irgendwie wirkten die Einfahrt und der Platz davor wie hingemalt. Zwei trichterförmige Lampen hingen an einem Kabel über dem schweren Gittertor und warfen ein unechtes Licht auf das Gelände. Das schwere Tor war geschlossen. Deutlich konnte man die gusseisernen Buchstaben erkennen: HAK-WERK. Von weitem schien es, als würden sie leuchten.
Ungeduldig sah er auf seine Armbanduhr … 27 Minuten vor 10 … na ja, bald … Plötzlich knackte es hinter ihm, gefolgt von einem aufdringlichen Rascheln. Es kam aus dem finsteren Dickicht.
Kessie flog herum. Instinktiv wich er einen Schritt zurück, als wäre der Zaun elektrisch geladen. Unter einer Tanne registrierte er eine Bewegung. Sofort ging er in Deckung, hörte sich aber schreien: „Scheiße, verdammt! Wer ist da?“
Wieder kniff er die Augen zusammen, um sich zu den Umrissen der Gestalt hindurchzuzwängen: „Verdammt nochmal, Matjes … Hab’ ich mich verjagt! Was machst du denn da drinnen, Mann? Was soll das?“
„Psst!“, kam flüsternd die Antwort, „Nicht so laut … und duck’ dich. Bleib’ da in Deckung.“
Matjes selbst kroch wieder unter die Tanne.
Sofort bückte sich Kessie, so tief er konnte. Für Sekunden kniete er gesenkten Hauptes vor dem Jägerzaun, als wollte er beten. Mit Scharfsinn konnte er die Situation nicht einschätzen. „Matjes“, krächzte er gepresst, aber aus der Dunkelheit kam keine Antwort. Er hob den Kopf und versuchte vergeblich, Matjes unter der Tanne auszumachen.
Er sah ihn nicht. Plötzlich musste er lachen … Das ist doch irre … Ich knie’ hier an diesem Zaun und hab’ keinen Schimmer, warum!
Sekunden vergingen.
Nichts passierte. Es wurde nur zunehmend dunkler.
Dann tauchte Matjes wieder auf. Er sah zu dem Barackenbau hinüber. Mit einer gewissen Erleichterung beobachtete ihn Kessie, in der Hoffnung, doch noch irgendwas zu begreifen.
„Matjes, was ist denn los, verdammt noch mal?“
„Still, Mann … Versuch’ lieber, vorne zum Eingang zu kommen … Aber bleib geduckt“, Matjes sprach leise, aber deutlich, „und komm’ zu mir rüber … Warte“, er wandte sich wieder dem Gebäude zu. „Jetzt geht’s. Mach’ zu“, und mit der Hand deutete er hinter sich zu der schmalen Pforte, die sich etwa dreißig Meter längsseits des Zauns befand.
Unschlüssig setzte sich Kessie in Bewegung. Noch immer hatte er keine Erklärung für Matjes’ eigenartiges Verhalten. Dennoch schlich er in gebückter Haltung am Zaun entlang, schlüpfte durch die offenstehende Pforte, vorbei an dem Fahrradstand, um sich dann ins dichte Gehölz zu schlagen. Nach ungefähr zwei Metern ging er abermals in die Knie.
Er durfte nicht auch noch die Orientierung verlieren. Mehr zufällig streifte sein Blick den Barackenbau und verfing sich an einem der gähnenden Fenster. Im selben Moment sah er es. Da bewegt sich etwas, durchfuhr es ihn wie ein greller Blitz.
Doch das konnte nicht sein … nicht um diese Zeit.
Quatsch! Das ist doch Einbildung … völliger Blödsinn, versuchte er, sich zu beruhigen, doch das gelang ihm nicht. Ungläubig schüttelte er den Kopf und ein automatischer Reflex ließ ihn erneut grinsen.
Ich kriech’ hier im Gelände ’rum, muss dabei in Deckung bleiben … und weiß beim besten Willen nich’, was das alles soll!
Trotzdem behielt er das Fenster im Auge.
In skurrilen Bildern tanzte schwarzes Geäst im Spiegelbild der Glasscheibe.
Na klar … nur’ ne optische Täuschung, kroch er entschlossen weiter.
Matjes würde eine Menge zu erklären haben, hatte er ihn erst einmal in dieser Scheißdunkelheit aufgespürt. Er entdeckte ihn hinter einer Tanne. Leicht nach vorn gebeugt hockte er da, hielt sich den Kopf, spähte aber in seine Richtung.
„Okay“, murmelte Kessie, „ich höre mir an, was du Spinner zu alldem sagst, aber dann ramme ich dich ungespitzt in diesen feuchten Scheißboden.“
Matjes winkte ihn heran. Noch gut sieben Schritte trennten die beiden, als der Spuk plötzlich losbrach. Gleißend rotes Licht flutete aus dem Fenster, das er im Auge behalten hatte. Unvermittelt erschrak er. Er konnte deutlich eine Gestalt in dem leuchtenden Fenster erkennen und mit einiger Mühe kombinierte er, das ist … Warte mal, das ist …, zögerlich begann er zu zählen. Ja, genau … Eins, zwei, die Tür … Dann kommt die Küche … Drei, vier, fünf …, „das ist die Waisenkammer!“ Und als er das ausgesprochen hatte, war die Erstarrung verflogen, sofort duckte er sich, sah zu Matjes hinüber, der wie hypnotisiert in das grelle Licht starrte.
Das geisterhafte Schauspiel dauerte keine Minute und während Kessie noch zu Matjes hinüber sah, erlosch das Licht.
Mit einer hektischen Handbewegung deutete ihm Matjes, dessen Blick weiterhin starr auf das Fenster gerichtet war, in Deckung zu bleiben.
Kessie blieb, wo er war. Aber an seinen Nerven zerrte maßlose Ungeduld. Nach wenigen Sekunden der Dunkelheit flackerte das Licht erneut auf. Es überflutete das Gelände jetzt noch intensiver als zuvor, färbte die Tannen und Sträucher purpurfarben, leuchtete sogar weit über den Zaun hinweg.
Irritiert sah sich Kessie um, als wollte er sich einen Gesamteindruck verschaffen, während im Fenster wieder die Gestalt erschien. Sie steht nur da … bewegt sich nicht. Regungslos steht sie da, verdammt! Sie starrt in eine Richtung … nach rechts. Es ist ein Mädchen.
Ganz deutlich konnte er die langen, glatten Haare erkennen.
Sie ist jung …, sah ein bisschen aus wie auf einem alten Foto seiner Mutter in Jung. Auch dieses Schauspiel war nur von kurzer Dauer.
Tiefe Finsternis blieb zurück, doch diesen Augenblick nutzte Kessie und stolperte in Matjes’ Richtung.
„Hast du das gesehen, Mann!“, rief Kessie ihm zu.
„Was, denkst du, mach’ ich hier seit Stunden?“, entgegnete Matjes stöhnend und hielt sich den Kopf, als hätte er etwas am Hinterkopf abbekommen.
„Du meinst doch wohl nicht …“, Kessie stutzte. „Seit gestern Abend etwa?“
„Nee, vorher war ich drüben. Weiß’ aber nich’, wie lange“, schwerfällig hob er den Kopf, „Plötzlich war ich dann hier.“
„Wie jetzt?“, hektisch sah sich Kessie um, als ob ihnen noch jemand zuhören würde, dann flüsterte er: „Ich versteh’ das nicht, Mann …“ Dabei fielen ihm jetzt Matjes’ blaues Veilchen und die Schürfwunden an der linken Wange und am Kinn auf. „Hee, was ist mit dir?“, Kessie wollte ihn gerade an den Armen packen und kräftig wachrütteln, „Hast du dich geprügelt? Das sieht schlimm aus, Mann!“
„Ja, verdammt“, antwortete Matjes schroff, wobei er wieder stöhnte.
Kessie überlegte angestrengt, während er sich scharf mit der Hand durch die Haare fuhr.
Doch dann schnellte er herum und schaute hinüber zum Haupteingang, wo er Georgie und die anderen längst erwartete. „Wer hat dich denn nur so zugerichtet?“, die Antwort gar nicht erst abwartend, schüttelte er den Kopf und sagte: „Warte, warte, warte! Ulli meinte gestern, dass du plötzlich Ochsenzoll ausgestiegen bist.“ Dabei fixierte er Matjes: „Du willst mir doch jetzt nicht weismachen, dass du die ganze Zeit …?“ Er brach den Satz ab, sortierte neu und nickte nur fragend.
„Ja, doch“, entgegnete Matjes mit leiser, aber nicht standfester Stimme, die Augen längst wieder dem Fenster zugewandt. „Das Tor war offen und ich bin ’rein. Ich wollte sehn, ob der Bunker noch verschüttet ist.“
Für den Bruchteil von Sekunden verharrte Kessie, bis es aus ihm her ausbrach: „Das ist alles?“
„Ja, Mann.“
„Klar, das hätte ich dir auch sagen können“, stieß er Matjes auffordernd in die Seite. „Was soll das? … Hee!“ Er kam ihm vor wie der überforderte Kandidat in einer billigen Varieté-Nummer während der spannenden Hypnosephase.
„Er ist aber nicht mehr verschüttet … und …und ich bin ’rein und war plötzlich drüben im Kinderheim … auf der anderen Seite des Bahngeländes, weißt du?“
„Wo?“, stieß Kessie ungläubig aus, „Wo warst du?“
„Na, der eine Gang führt da hin, verdammt!“, entgegnete Matjes mit einem flüchtigen Blick zu Kessie.
Wie messerscharfe Piranhazähne nagten Kessies Augen skeptisch an Matjes’ Profil, erstarrten nur kurz, als sich ihre Blicke trafen, bis Matjes stockend weiterredete: „Die Unfälle im Werk nehmen wieder zu. Die Zeitung schreibt von mysteriösen Unfällen …“, starrte er das Fenster an, „und die Bullen kommen nich’ drauf“, brachte er stöhnend den Satz zu Ende.
„Aber wer hat dich geschlagen, Mann?“, packte ihn Kessie an den Armen, als in diesem Augenblick das Fenster erneut gleißend rot flutete. In Sekundenschnelle verwandelte sich das Gelände in eine riesige Dunkelkammer, in der soeben das Arbeitslicht eingeschaltet wurde. Abrupt fuhr Kessie herum und duckte sich.
Ich bin ein realistischer Mensch. Ich suche immer nach einer vernünftigen Erklärung und wenn ich keinen guten Grund finde, dann erkläre ich so etwas lieber schnell zu einem Geheimnis – damit das wenigstens noch einen Sinn bekommt. Aber mittlerweile habe ich von solchen Geheimnissen einen ganzen Haufen … Nur …Matjes’ blaues Auge ist ’ne verdammte Tatsache!
„Und das Mädchen da unten …“, redete Matjes stockend weiter, „sie … sie hat mir da unten geholfen …“
„Was sagst du da?“, spuckte Kessie förmlich aus, während er auf das Fenster und die Gestalt starrte. „Fantasierst du jetzt?“ Diesmal flutete das gleißende Licht länger und wesentlich intensiver als die Male zuvor. Kessie konnte die Gestalt jetzt noch deutlicher sehen.
Ein Kind … Es ist ja noch ein Kind … ’n Mädchen … Steht nur da und starrt rechts an die Wand … So ’n Scheiß!
„Was für ein Mädchen, Mann!“, hörte er sich fragen.
„Weiß ich doch nich’ … Hier bin ich jedenfalls wieder aufgewacht.“
In diesem Augenblick kam Kessie Georgies Begegnung mit dem kleinen Mädchen vor so vielen Jahren auf dem Flur da drinnen in den Sinn. Es hatte blonde und lange, glatte Haare, wirkte verstört und über ihre rosigen Pausbäckchen rollten dicke Tränen. Wie ein verängstigtes Rehkitz, das verzweifelt nach der Mutter sucht, warf sie den Kopf hin und her, dann erst erblickte sie Georgie wie durch eine sich aufklarende Nebelwand.
Vollkommen geschockt stand Georgie damals da und betrachtete das Mädchen. Er kannte sie nicht. Sie war dicklich und hatte panische Angst, das jedenfalls verrieten ihre weit aufgerissenen Augen. Ihre Angst übertrug sich auf Georgie, da auch er begann, hektisch den Kopf hin und her zu drehen, in der Hoffnung, eine befriedigende Erklärung für diese Begegnung zu finden, irgendwo in diesem halbdunklen Flur. Unmerklich glitt Georgie hinüber in ihre Welt und im nächsten Moment loderte der sonst so düstere Flur in einem gleißend roten Licht. Um ihn herum verwandelte sich alles in auffallende Reinlichkeit. Die Wände und Türen waren frisch gestrichen, die Dielen frisch gewachst und spiegelglatt.
Nicht sie war in ein Zeitloch gesprungen, sondern er war es, der seine Welt verließ, um die ersten Mosaiksteinchen in das furchtbare Puzzle zu setzen. Damals jedoch vergrub Georgie diese Steinchen und auch die anderen ganz tief in der finstersten Ecke seiner Seele, da er überhaupt nichts mit all dem anzufangen wusste.
Unversehens sprang ihm das blonde Mädchen entgegen und schluchzte: „Wo ist meine Mama? Weißt du, wo meine Mama ist?“
„Nein“, schoss Georgie irritiert zurück und er schluckte trocken, „nein, ich weiß nicht … Aber sie kommt bestimmt gleich … Es ist doch schon spät.“
Kurzzeitig schien die Panik der Kleinen zu verebben. Sie legte den Kopf schräg, musterte Georgie von oben bis unten und stieß einen großen Seufzer aus. Schnell überlegte er, suchte nach Worten, fand jedoch nur Fragen, die trocken auf seinen Lippen brannten: „Bist du denn neu hier? Ich kenn’ dich gar nicht.“
Sie schaute wieder zu ihm auf und sagte: „Ich bin schon ganz lange hier, aber … du … du bist neu hier! Wie heißt du?“
„Georgie … und du?“
„Ann-Marie“, verzweifelt schaute sie um sich, weil nackte Panik sie erneut einholte.
Irgendwie hatte Georgie den Eindruck, sie würde durch ihn hindurchsehen.
„Meine Mama holt mich immer ab … aber seit vier Tagen kommt sie nicht mehr und ich muss immer hier bleiben. Auch mein Papa kommt nicht.“ Sie begann bitterlich zu weinen, drehte dabei den Kopf wie wild hin und her, dass die langen Haare hinterher flogen.
Georgie wollte sie in den Arm nehmen, doch er traute sich nicht: „Was suchst du denn?“, fragte er mitfühlend.
„Tante Irmtraut“, erwiderte sie und dieser Name explodierte in seinen Ohren wie ein großer Chinaböller.
„Sie ist böse! Ich muss immer hier bleiben und … sie sperrt uns ein … Da!“, sie zeigte auf die Tür, die zum Schlafsaal führte. Die Tür, die immer verschlossen ist.
Die Waisenkammer!
„Ich will nach Hause! Wann kommt meine Mama!“
„Tante Irmtraut?“, wiederholte er den Namen. In seiner Stimme schwang massiver Unglaube mit.
„Ja, sie wohnt auch hier. Sie sperrt mich immer zu den anderen … Ich will da nicht mehr hin.“
„Die anderen?“, fragte Georgie und blinzelte, da das gleißende Licht noch intensiver zu leuchten schien. Mittlerweile war er sich nicht mehr sicher, ob er in Wirklichkeit nicht doch im Bett lag, im großen Schlafsaal mit den anderen Kindern und Mittagsschlaf hielt.
„Nun wein’ doch nicht!“, versuchte er, sie zu trösten, „Wie alt bist du denn?“
„Sieben. Bald bin ich acht.“
Verlegen grub Georgie seine Hände in die Hosentaschen und ließ einige Sekunden an sich vorbeiziehen, bis er sich die nächsten Worte zurechtgelegt hatte: „Wohnst du denn weit von hier?“
„Ja! Ich weiß, dass wir 15 Minuten gehen müssen“, antwortete sie etwas gefasster, da Georgies Fragen sie irgendwie ablenkten.
„Das ist doch gar nicht weit weg“, stellte Georgie ortskundig fest.
Ihr bislang gehetzter Blick ruhte jetzt auf seinen Augen und wieder legte sie den Kopf schräg. Zögerlich sagte sie: „Meine Mama und mein Papa arbeiten da drüben in der großen Fabrik.“
„Oh, meine Eltern auch“, entgegnete Georgie überrascht.
„Dann hast du das laute Heulen auch gehört?“
„Was für ’n Heulen?“
„Immer hoch und tief … Es heult“, sie machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu, „und dann kam der Donner vorhin und das große Gewitter ohne Regen … Seitdem bin ich immer hier!“
Mit diesen Worten rollten auch die dicken Tränen wieder.
Sie vergrub das Gesicht in ihre kleinen Händchen, sodass ihr alle Haare nach vorne fielen.
Bevor Georgie nach einer rettenden Lösung greifen konnte, die beide aus dieser Situation holten, schreckte sie zurück und rannte rückwärts, einige Meter von ihm weg, dorthin, wo sie ihm erschienen war. Sie sah in seine Richtung, aber an ihm vorbei, den Flur entlang.
Und wieder geschah etwas Erschreckendes, das Georgie erschaudern ließ. Wie in Zeitlupe setzte sie sich in Bewegung, doch irgendwie ohne, dass sich ihre Beine bewegten.
Sie schwebte, schwebte nach hinten weg und schon im nächsten Moment verschwand sie. Auch das gleißend rote Lichtergemisch verebbte. Zurück blieb tiefe Dunkelheit, die den Flur wie stehendes Wasser füllte, noch bevor er irgendwie reagieren konnte.
Georgie war wieder allein auf dem Flur. Aufdringlich drückte sich das Tellergeklapper durch die Küchentür gegenüber und der Flur sah wieder aus, wie er ihn kannte.
Plötzlich hörte er am anderen Ende ein klirrendes Geräusch. Wie Schlüssel an einem Schlüsselbund. Sein Kopf flog herum. Er sah, dass Tante Irmtraut auf den Flur trat.
Gerade verriegelte sie die Tür zu ihrem Dienstzimmer.
Schlagartig riss es ihn in die Gegenwart zurück. Ihm blieb keine Zeit, die verwirrten Gedanken zu verknoten. Schnell musste er handeln. Jetzt hatte er ganz bestimmt nichts auf dem Flur zu suchen.
Geistesgegenwärtig sprang er hinter die Reihe von Spinden und lugte in ihre Richtung.
Nur kurzzeitig würden ihm die Blechschränke Unsichtbarkeit bieten, nur solange sie nicht näher herangekommen war.
Doch es sah so aus, als ob sie genau seine Richtung ansteuerte.
Trotz seiner acht Jahre war im bewusst, dass Tante Irmtraut aus ihrer Entfernung und bei dem trüben Licht nicht erkennen konnte, was sich im hinteren Teil des Flures abspielte.
Er hatte also Zeit, sich ganz und gar in Luft aufzulösen.
Die Spinde waren schmal, dafür aber mannshoch. Die nichtbenutzten Spinde waren verschlossen, während die übrigen meist offen standen. Eilig probierte er den Spind, hinter dem er sich verschanzt hatte. Er ließ sich öffnen. Das schleifende Quietschen ging im breiten Küchengeklirr unter. Nur ein Kind konnte sich in einen Spind zwängen … Lautlos kroch er hinein und zog vorsichtig die Tür heran, sodass sie fast, aber nicht ganz ins Schloss fiel.
Deutlich waren die festen Schritte von Tante Irmtraut auf den Dielen zu spüren.
Das Beben wurde stärker, je näher sie kam, doch das jagte ihm keine Angst ein.
Er konnte nicht sagen, dass er sie nicht mochte. Seine Eindrücke von ihr waren normaler Herkunft. Die Gefühle ihr gegenüber ebenfalls … wie die Gefühle eines Achtjährigen gelagert sind … seiner Kindergärtnerin gegenüber.
Wieso sollte sie böse sein?
Nebenbei registrierte er, dass er zeitweise gar nicht atmete, da er sich angestrengt auf die Geräusche außerhalb des Spinds konzentrierte. Ihre Schritte waren jetzt schon bedrohlich nahe. Übergangslos verdoppelte sich sein Herzschlag. Er atmete flach und dennoch fühlte er sich sicher. Er wusste, dass sie ihn nicht entdecken würde – es war so ein Gefühl. Und richtig, die bebenden Schritte zogen am Spind vorüber und auf dem Flur wurde es wieder still.
Er wartete einige Minuten, bis er die Blechtür öffnete.
Bestimmt war sie in einem der hinteren Räume verschwunden.
Bei den Babys … die Tür gegenüber! Jedenfalls klang es so, weil er ganz nah eine Tür ins Schloss fallen hörte.
Während er die Spindtür mehr und mehr öffnete, waren seine Sinne bis zum Zerreißen gespannt. Nur das verräterische Knarren übertönte das Küchengeklapper.
Die Luft schien rein.
Zuerst steckte er den Kopf heraus, dann kletterte er aus seinem Versteck. Wo war das blonde Mädchen abgeblieben? … Und die Art und Weise, wie sie verschwand. Und dieses Licht überall? Ganz hinten im Flur verschwand sie … da wo … genau, dort, wo die Abstellkammer ist!
Jeder machte einen großen Bogen um diese Tür. Auch Georgie war sich nicht sicher, ob er jemals den Mut aufbringen würde, die Tür zu öffnen, und noch während er sich alle nur erdenklichen Gefahrenmomente ausmalte, siegte die Neugier.
Im nächsten Augenblick stand er vor der Tür. Er spürte, dass seine Hände feucht wurden.
Konnte er den Türgriff einfach so hinunterdrücken?
Konnte er sich dazu durchringen, den Griff anzufassen?
Wenn ihm das gelänge, würde ihn ganz sicher eine schreckliche Fratze schnappen und hineinzerren.
Den Blick starr auf den Türgriff geheftet, hob sich wie mechanisch seine Hand. In kleinen Perlen trat Schweiß auf seine Stirn. Kleine Rinnsale begannen sich zu formen, sodass seine Augen schnell zu brennen anfingen. Gleich wird die Tür brutal aufgerissen und messerscharfe, dolchähnliche Klauen werden hervorschnellen, mich packen und mich mit nur einem einzigen Schlag töten!
Wie von selbst umfasste seine kleine Hand den blanken Türgriff. Nichts passierte. Die grauenhafte Bestie muss da irgendwo stecken … Ganz sicher!
Geballte Neugier trieb ihn an.
Oder Tante Irmtraut wird gleich erscheinen, mich ergreifen und mit sich zerren! Als ob der Griff plötzlich unter Strom stand, ließ er ihn blitzschnell los. Er war zwar mutig, aber deshalb noch nicht tollkühn. Doch einfach so wegrennen? Das konnte er auch nicht. Trotz aufkommender Panik. Er versuchte, sich zu konzentrieren … Er musste unbedingt nachdenken. Er brauchte eine Idee.
Wieder huschte ihm das blonde Mädchen durch den Sinn.
Wie konnte sie so schnell verschwinden … und … wohin? Ob sie vielleicht hinter dieser Tür war? Möglich war auch das.
Endgültig befiel ihn Panik.
Seine flaumigen Nackenhaare richteten sich auf.
Jetzt war sein Denk- und Handlungsvermögen blockiert, obendrein wollte ihn auch noch feige der Mut verlassen. Seine Neugier hatte ihn bis zu dieser Tür gebracht – bis hierhin, aber nicht weiter.
Wie von allen räudigen Hunden gehetzt, stürmte er davon, zurück in den großen Schlafsaal. Mit einem kühnen Hechtsprung landete er in seinem Bett, wo das ungeheure Abenteuer endete. Mit einem Ruck war die Bettdecke über den Kopf gezogen.
Ganz schnell wollte er das alles vergessen.
„Was hast du eben gesagt? Ein Mädchen? Was für ein Mädchen?“, wiederholte Kessie die Frage leise durch den Mundwinkel. Ruckartig fuhr Matjes herum und antwortete mit schmerzverzerrtem Gesicht, er wisse es nicht. Er wisse nur noch, dass sie ihn in eine Art Käfig gesperrt hatte, dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Hier wäre er wieder aufgewacht.
„Aber das ist doch total irre, Mann!“
„Sag’ ich doch“, sein Blick hing wieder an dem Fenster, „zuerst war ich drüben im Werk.
Und da war auch dieses rote Licht … und die … die Querflöte.“
Mit weit aufgerissenen Augen sah sich Kessie wieder um. Eigentlich konnte es nicht sein, dass niemand sonst dieses gleißend rote Licht und das Mädchen am Fenster sah. Tatsächlich ging gerade ein älterer Mann mit einer Frau direkt an dem Zaun entlang.
„Eine Querflöte?“, fragte er hektisch, konnte der Äußerung jedoch kein größeres Interesse schenken, denn das, was er sah, war ebenso interessant. Das ältere Ehepaar wurde sogar von dem Licht angestrahlt, doch es zeigte keine Reaktion. Sie blieben nicht etwa stehen, weil sie geblendet wurden, sie schauten nicht einmal hinüber. Sie gingen einfach weiter, gingen vorbei an dem Jägerzaun und verschwanden schließlich aus seinem Blickfeld. Irgendwie passt das alles zusammen, murmelte Kessie. Abrupt wendete er sich zum Fenster hin, das sich jetzt wieder in tiefe Dunkelheit hüllte.
„Was sagst du?“, fragte Matjes entrückt, wobei er sich wieder in den Nacken fasste, als würde er eine mittlerweile verkrustete Wunde befühlen, die noch immer stechende Schmerzensschübe aussendete und zwar immer, wenn er den Kopf drehte. In der Tat, sein Nacken schmerzte bestialisch, ebenso das blaue Auge, obwohl die Schwellung bereits nachließ.
„Das passt alles zusammen … der Kinderhort, das Werk, die Unfälle und die Kleine da im Fenster“, Kessie sagte das ganz ruhig und tonlos, als ob ihn diese Erkenntnis überhaupt nicht berührte, „aber … aber das Kinderheim?“
„Alles passt zusammen! Nur kann keiner sonst was sehen! Nur wir … nur wir können das alles sehen“, stockte Matjes und hustete ein-, zweimal, „Das ist doch abgefahren, oder?“, dann lachte er fast irre hell auf, „Aber was mir wirklich zu schaffen macht … Mir fehlen ganz viele Stunden … Die muss ich da unten in dem Käfig zugebracht haben.“
Für einen Bruchteil von Sekunden löste er seinen Blick von dem dunklen Fenster.
Ungläubig und ratlos zugleich betrachtete er Kessie, während in seinem Kopf der Wundschmerz tobte: „Aber das kann doch gar nicht sein … eher ist es doch so, dass hier draußen die Zeit stehen bleibt, oder? Du weißt schon … der Zeitsprung“, wobei seine Augen bereits wieder zum Fenster zurückwanderten. „Aber umgekehrt? Ich hab’n Schlag in den Nacken bekommen!“
„Ich weiß auch nich’!“, dann erst registrierte er Matjes’ letzten Satz, „Was ist? Was sagst du da?“
„Einen Schlag in den Nacken. Seitdem weiß ich nix mehr.“ Er beendete den Satz mit einem tiefen Seufzer, „Aufgewacht bin ich hier unter der Tanne und sah in das grelle, rote Licht, verdammt!“
Irritiert ließ sich Kessie nach hinten fallen.
In den vergangenen Jahren hatten sie so manche schrecklichen Dinge erlebt und viele waren schrecklicher als das hier … Aber jetzt war alles irgendwie anders.
Jetzt traten die Vorzeichen viel unberechenbarer an sie heran.
Noch immer konnte er sich nur lückenhaft an alles erinnern, doch er fühlte, dass diesmal etwas Unheilvolles und Endgültiges im Aufwachen begriffen war und dieses Gefühl wollte ihm etwas Wertvolles aus dem Leib reißen. Plötzlich fielen ihm Georgie und die anderen ein.
Er sah auf die Uhr. Zwölf Minuten vor zehn.
„Matjes, lass uns von hier verschwinden. Georgie und die anderen kommen gleich. Wir haben uns am Haupteingang verabredet … In zehn Minuten!“
„Wieso? Was habt Ihr vor?“, mit dieser Frage richtete sich Matjes auf, stöhnte und fasste sich erneut in den Nacken, „Wie spät ist es denn schon?“
„Kurz vor zehn.“
„Was? So spät schon? Ja, gibt’s denn das?“
„Was meinst du?“
„Na Mann, dass mir so verdammt viele Stunden fehlen!“
„Hee, erzähl’ das später“, wehrte Kessie ab, „du kannst dir gleich richtig Gedanken darüber machen … wenn alle da sind.“
„Ja, ja, alles klar … Aber Vorsicht, das kann jeden Moment wieder losgehen … und mit jedem Mal wird es stärker!“ Matjes wies mit der Hand hinter sich.
Kessie überlegte kurz. Ihm kam eine noch bessere Idee: „Alles Quatsch! Bleib’ du hier, ich mach’ mich zum Zaun ’rüber und gebe ihnen Lichtzeichen, wenn sie nicht schon vorher von diesem Licht angelockt werden und nach uns suchen.“
„Das ist ’ne Idee“, stöhnte Matjes erleichtert.
Auf allen Vieren kroch Kessie zum Zaun, als das gleißend rote Licht hinter ihm wieder entbrannte.
Doch plötzlich durchfuhr ihn ein Gedankenblitz, der ihn buchstäblich zu Fall brachte. Aus tiefer Kehle stöhnte er sogar auf, bevor er nach Matjes rief: „Mein Gott, Matjes“, dann erst sah er über die Schulter zurück. Matjes jedoch nahm ihn nicht mehr wahr. „Was ist, wenn wir schon längst wieder in einem verdammten Zeitsprung sind … dass das also auch hier passieren kann?“ Er kam auf die Knie und wollte gerade zu Matjes zurückkriechen, als ihm Georgie wieder einfiel. Auf jeden Fall musste er ihn irgendwie warnen, falls das überhaupt möglich war. Obwohl … er überlegte, wenn auch sie diese Gabe haben, würden sie ebenfalls unmerklich in den Zeitsprung oder vielmehr in den Zeitsog geraten.
Einige Sekunden verweilte sein Blick an dem Fenster mit dem kleinen, blonden Mädchen, das wieder regungslos rechts die Wand anstarrte, und er dachte fast belächelnd: Was sie da wohl so Interessantes sieht? … Und sie sieht echt ’n bisschen aus wie meine Mutter.