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Einige Stunden zuvor

4. September 1968

Kapitel 17

Seit dem frühen Nachmittag war Tommi bei Georgie.

Sie spielten das neue Quartettspiel.

Ein Kartenspiel über Rennautos. Natürlich konnte man es auch zu zweit spielen. Tommi teilte aus.

Georgie fing an: „Spitze … 230!“

„220. Weiter“, schmunzelte Tommi zufrieden.

„Baujahr ’67.“

„1966!“

Die Zeit verging wie im Flug und draußen dämmerte es bereits.

Im Schneidersitz hockten sie sich gegenüber auf dem flauschigen Teppich und zwar so, dass keiner dem anderen in die Karten sehen konnte.

„Italien?“

„Falsch … weiter.“

„Nee, nimm ’ne andere Karte“, erwiderte Georgie, während er sich erhob und die Deckenbeleuchtung einschaltete. Drei Strahler, die sich beliebig in alle Richtungen drehen ließen.

Im Zimmer war es sofort heller als im Behandlungsraum beim Zahnarzt.

„Hey, Mann, ich hab’ so das Gefühl, dass du schon alle Karten auswendig kennst.“

„Gar nich’ wahr!“

„Doch, du weißt immer gleich die richtige Antwort“, ein prüfender Blick lag auf Tommi, „du denkst, ich merk’ das nich’!“ Tatsächlich aber hatte er keine Lust mehr, weiterzuspielen, weil ihn Rennautos eigentlich überhaupt nicht interessierten.

Er ging hinüber zum Schallplattenregal und zog zwei Langspielplatten heraus. Seine Schwester hatte sie gekauft: The Butterfield Blues Band und The Doors.

„Hee, das musst du hören … Super, die Scheiben.“ Er legte The Doors auf den Plattenteller, riss den Verstärker auf und gab Tommi die Plattenhülle. Dann trat er ans Fenster und sah hinaus. Aber sofort sprang er zur Seite, um hinter dem Vorhang in Deckung zu gehen. Er signalisierte Tommi, sitzen zu bleiben. Durch einen Spalt der Gardine spähte er hinunter auf den Gehweg.

Deutlich sah er Holmi und Ulli, wie sie sich, heftig gestikulierend, unterhielten. Irgendwas hatten die beiden vor, da war sich Georgie ganz sicher.

Mit einer schnellen Drehung vom Fenster weg sah er zu Tommi, der ihn mit großen Augen anstarrte, in der Hand die Plattenhülle und noch immer im Schneidersitz.

Und die Doors dröhnten ihr „The Crystal Ship“ aus den Lautsprechern.

„Psst … komm’ mit“, drückte Georgie aus seinem Mundwinkel, wobei er den Zeigefinger vor den Mund hielt.

„Was … was ist denn?“

Bevor Georgie das Zimmer verließ, drehte er die Musik laut auf, während sich Tommi schwerfällig erhob. Ohne Widerrede folgte er, obwohl er null durchblickte.

Er rannte Georgie hinterher, der im Badezimmer verschwand, das Licht ausgeschaltet ließ und unterhalb des Fensters in Stellung ging. Tommi machte es ihm nach und wollte seine Frage wiederholen … „Psst!“, überging ihn Georgie, erhob sich und spähte durch das grobmaschige Geflecht der Gardine. Jetzt war da nur noch Ulli und der spähte zum Haus herüber.

Holmi war verschwunden.

Doch sein geschärfter Blick verriet ihm, dass Ullis Augen nicht an dem hellerleuchteten Fenster hingen, sondern eher geradeaus an der Haustür oder rechts daneben.

Er hatte genug gesehen.

„Los … In den Keller! Mach’ zu … Wir müssen uns beeilen!“, mit einem Tritt in Tommis gepolsterte Rippengegend verließ er das Badezimmer und verschwand durch die Tür, noch ehe Tommi die Situation einigermaßen erfasst hatte.

„Hee, halt’ mal … Was geht denn eigentlich ab, verdammt?“

Irgendwo nahe der Haustür muss Holmi stecken, kombinierte Georgie und konnte ein breites Grinsen, gemessen an dem köstlichen Spaß, der sich ihm gerade auftat, nicht verbergen. Viel zu dumpf dröhnte die Musik von oben herunter, sodass Holmi nicht bemerkte, wie Georgie hinter ihm die kleine Kellerluke öffnete. Holmi hielt seine Superwaffe schussbereit und neben ihm an der Wand lehnte die Taschenlampe seines Vaters.

Wie unvorsichtig Holmi doch immer ist!

Die unausgereifte Arglist ließ Holmi die Kellerluke einfach übersehen und gerade, als er sich in eine noch günstigere Position bringen wollte, um Georgie besser treffen zu können, traf ihn von hinten ein luftraubender Schlag in die Seite.

Der Schreck war so endgültig, dass er nicht einmal Schmerz verspürte. Er erstarrte auf der Stelle und für einen Moment schien auch sein Herz still zu stehen. Nicht den geringsten Laut brachte er hervor, obwohl sein Mund weit aufgerissen war.

Zumindest ein Schmerzensschrei hätte kommen müssen, doch seine Stimmbänder entließen nicht mal ein hohles Krächzen.

„Psst. Holmi … Ich bin’s … Keinen Mucks“, flüsterte Georgie. Holmi erkannte die Stimme sofort. „Los … Komm’ vorsichtig ’rein … Dann kriegt Ulli nichts mit.“

Erschlagen ließ Holmi den Kopf sinken, als versuchte er, hinter sich zu sehen, schräg an sich vorbei. Dann erst drehte er sich zur Seite und stieß heftig den Atem aus.

Georgies breites Grinsen schwoll in der Kelleröffnung an.

„Mann, ich bin fast gestorben“, brachte Holmi heraus, „das ist dir aber wirklich gelungen … du Arsch.“

„Du hast nich’ damit gerechnet, was?“, einladend trat Georgie einen Schritt zurück. „Los komm’ schon … kriech’ rein.“

Jetzt ballte sich resignierte Empörung … Gerade wird mein eigener Plan vereitelt. Ein Sieg ist nicht mehr zu feiern, alles im Eimer! Und blamiert hab ich mich auch noch! Holmi schnaufte gepresst. Stattdessen sah er hinüber zum Gehweg, indem er ein paar Zweige beiseiteschob. Ulli hatte nichts mitbekommen. Eigentlich wäre es die freundschaftliche Pflicht gewesen, ihn zu warnen, doch Holmi raffte die Wasserspritze und die Taschenlampe zusammen und schob sich rückwärts in die Kellerluke.

Wie ein Rüde, der zum Pinkeln das linke Bein hob, tastete er mit dem Fuß in die Öffnung. Gleichzeitig stützte er sich mit dem Ellenbogen ab, verlagerte das Gewicht auf die andere Seite, um das andere Bein nachzuziehen.

Lautlos verschluckte ihn die schmale Kellerluke.

Zwei Etagen höher entschied sich Tommi derweil für eine wohlüberlegte Verfolgung. Mit einem knappen Handgriff zog er die Schirmmütze nach rechts, bis sie, genauestens ausgerichtet, den Nacken bedeckte. Er stützte sich auf das Treppengeländer, um Ruhe in seine Atmung zu bringen, da er schnaubte wie ein Pferd. Na toll, Georgie ist also in den Keller … weil er draußen was gesehen hat … Kann er ja auch ruhig … Ist sein gutes Recht … Aber deshalb werde ich nicht unüberlegt hinterher rennen … Ich lass’ mir einfach ’n bisschen Zeit! Vorsichtig stieg er die Stufen zum Erdgeschoss hinab. Das brachte ihn nach rechts in die Küche und von dort in den Keller. Merkwürdigerweise war es überall im Haus dunkel. Allerdings wollte er sich gerade jetzt von dieser Tatsache nicht verunsichern lassen, nicht jetzt. Fest entschlossen tastete er sich weiter vor zur schmalen Kellertür.

Die offen stand. Als er in den stockfinsteren Schlund hinuntersah, war er dermaßen angespannt, dass er das Gefühl hatte, seine Haut wäre eine Nummer zu klein. Mann, wie soll das bloß gehen? … Wie soll ich da nur heil runterkommen? Panik kündigte sich an, trieb Schweiß in seine Achselhöhlen und auch auf die Stirn. Sekundenschnell war seine Kehle trocken. Er spürte, wie sich wieder diese hässliche Atemnot ankündigte, die seinen Brustkorb zusammenschnüren wollte.

Seine Knie drohten ihm weg zu knicken. Scheiße, verdammt! Wenn ich auf dieser Treppe stolper’ … diese Scheißtreppe … dann ist es doch aus mit mir! Bestimmt lauert Georgie da irgendwo … Hastig wischte er sich den Schweiß von der Stirn und auch von den Lippen. Er zog die Mütze noch fester auf den Kopf.

Dunkelheit war für ihn der Alptraum, Dunkelheit ist unberechenbar. Immer stößt man sich irgendwo, haut sich die Knie oder Schienbeine auf und bekommt schlimme Beulen am Kopf.

Er trat einen Schritt vor und noch einen, um zunächst die Schwelle der schmalen Kellertür zu bezwingen.

Kein Laut drang aus der finsteren Tiefe herauf, was ihn schüttelte, ihm raue Gänsehaut über den Rücken toben ließ. Trotzdem schob er den Fuß weiter vor. Sein rechter Fuß erreichte die oberste Stufe, als er Geräusche hörte … unklare, hallende Stimmen und dumpfes Geraschel. Mit zittrigen Knien bezwang er die oberste Stufe und ergriff das Geländer wie ein Ertrinkender. Schweißperlen tropften von ihm herab und er kämpfte bereits mit der beginnenden Atemnot.

Nein, jetzt gibt’s kein Zurück mehr … Noch eine Stufe, noch eine … und noch eine! Es wird gehen, wenn ich es wirklich will!

Zuerst ließ Tommi Raum für die Angst, dann aber zwang er sich vor und tauschte sie mit Ehrgeiz und bezwang die Stufen im ersten Anlauf. Er besiegte die Dunkelheit, bezwang seine Angst, sogar die Panik. Er hatte es geschafft. Er war unten. Reflexartig verlagerte er sein Körpergewicht auf das rechte Bein, da auch die Wand, an der er wie festgeheftet hinunter stakste, zu Ende war. Als wollte er sein Gesicht waschen, wischte er sich den Schweiß von der Stirn, atmete tief ein, musste husten, doch das war jetzt ein befreiendes Husten.

Um ihn herum blieb es dunkel. Nur von oben kroch ein eisgrauer Schein herunter, der jedoch nicht ausreichte, um das Terrain abzuchecken. Er schloss die Augen, streckte den Hals etwas vor und lauschte. Nur sein flaches Atmen, eine Art Sinnesrauschen und sein trommelndes Herz tobten in seinen Gehörgängen.

In diesem Augenblick gesellte sich ein klickendes Geräusch dazu, das ihn ruckartig herumfahren ließ. Das Geräusch kam eindeutig von links. Eine Pistole, entfuhr es ihm.

„Hee, Georgie … Wo steckst du?“, flüsterte er gepresst.

Ein schleifendes Geräusch folgte, ebenso leise wie das Klicken zuvor und als er gerade laut losschreien wollte, vernahm er Georgies Stimme: „Psst! Holmi … Ich bin’s … Kein Mucks …“

Sekundenschnell erfasste Tommi die Situation, da er seine Sinne bis aufs Äußerste geschärft hatte. Erleichtert stieß er die angstverbrauchte Luft aus, hustete abermals, hob den Pullover hoch, um das Saumende hin- und her zu fächern, sodass Luft darunter kam. Dann zog er die Mütze vom Kopf, befreite sich von dem lästigen Kaltschweiß und setzte sie mit dem Schirm nach vorn wieder auf.

Am anderen Ende des Kellers stand ein grauer Lichtstreifen in der Dunkelheit, der skurrile Bilder mit sich zog, die Tommi aber schnell deutete. Da sind Georgie und … Holmi … ja richtig, Holmi … die sind da zugange.

Leise verriegelte Georgie die Kellerluke und sagte: „Tja, Euer Plan ist wohl derbe nach hinten losgegangen, was?“

Im Hintergrund hörten sie Tommi kichern.

„Komm’, komm’, der Plan war aber genial!“, entgegnete Holmi mit rechtfertigendem Stolz.

„Zugegeben! Nur die Durchführung war mies“, tippte ihm Georgie tröstend auf die Schulter. „Und jetzt wollen wir uns mal lieber um meinen Plan kümmern.“ Noch während er den Satz zu Ende sprach, drückte er Holmi beiseite und ging auf Tommi zu: „Na, und du hast auch noch hergefunden? Großartig, Mann!“

Ein undeutliches Gegrummel antwortete, wobei Tommi den Schirm seiner Mütze tiefer über die Stirn schob … Ja, die Aktion hab ich durchgestanden und einen drohenden Asthmaanfall habe ich ebenfalls erfolgreich niedergekämpft.

Nur langsam gewöhnte sich Holmi an die Dunkelheit. Widerwillig schaute er den beiden hinterher. In seiner Brust pochte Zorn – Zorn, den er natürlich auf sich selbst richtete. Er hatte kläglich versagt, der Plan war im Dreck verreckt. Aber er zögerte keine Sekunde und setze sich in Bewegung, wobei er schützend die Arme von sich streckte.

Tommis massige Umrisse versperrten ihm den Weg.

„Los, nun kommt endlich“, rief Georgie ungeduldig, während er schon die hintere Kellertür öffnete und einen blau schimmernden Lichtstreifen in den Kellergang hereinließ.

Holmi war drauf und dran, einen seiner gefürchteten rechten Haken in Tommis Schwabbelbauch zu rammen, stattdessen stieß er ihn mit dem Ellenbogen zur Seite und zischte nur: „Bald kicherst du nich’ mehr … Warte, bis du dran bist, Fettmolch!“

Tommi zeigte sich davon wenig beeindruckt. Im Gegenteil. Er stieß ein schrilles Lachen aus, wobei er sich den Bauch hielt.

Georgie unterbrach die beiden mit fester Stimme: „Okay! Auf geht’s. Wir rennen hinten rum!“

„Holmi …“, er machte einen Schritt auf Holmi zu, „du und Tommi … Ihr versucht, hinter Ulli in die Gärten zu kommen … Ich schleich’ mich von vorn ran.“ Dabei schlug er ihm den Handrücken vor die Brust. „Und dann kannst du auch endlich deine super Wasserspritze ins Spiel bringen, Mann!“

Holmi entging keineswegs Georgies verschmitztes Grinsen, doch es störte ihn jetzt nicht mehr … Vor fünf Minuten vielleicht noch.

Ohne auf eine Antwort zu warten, stürmte Georgie die Kellertreppe hinauf. Holmi folgte.

Tommi kam erst Sekunden später in Gang.

Sie rannten zur Vorderseite der Reihenhäuser, stoppten an der Ecke zu den Vorgärten, drückten sich dicht an die Hauswand. Ein dichter Holunderbusch gab ihnen Sichtschutz.

Seitwärts hinter Georgie ging Holmi in Stellung. Tommi blieb dicht hinter ihnen.

Ulli stand noch immer auf dem Gehweg und gerade begann er damit, die kleinen Steinchen zu werfen. Jedoch beherrschten die Klänge von The Doors und die beleuchteten Vorgärten die Szenerie, obgleich auch Ullis Stimme zu hören war. Zweifellos vermutete er Holmi noch immer hinter dem Busch. Er wollte nun endlich ein Zeichen haben.

Selbst Holmi konnte sich bei dem Anblick kaum noch zurückhalten. Seine Schadenfreude drohte regelrecht aus ihm heraus zu platzen.

Ab jetzt gab Georgie nur noch Handzeichen.

Er deutete rechts hinüber in die Dunkelheit zu den Büschen auf dem gegenüberliegenden Grundstück und zu den Hecken der hinteren Gärten, wo Ulli stand.

Sofort schlichen Holmi und Tommi los.

Tommis Schirmmütze hatte wieder die Kampfstellung eingenommen, und Georgies breites Grinsen folgte den beiden in die Dunkelheit.

Ein groteskes Pärchen, dachte er, als er ihre Hintern in die Dunkelheit wegtauchen sah.

Sein Blick folgte ihnen, bis sie die Büsche erreichten, dann aber ließ er seinen Blick wieder zu Ulli hinüberschwenken. Ab jetzt galt Georgies ganze Aufmerksamkeit nur noch ihm, der dem kugeligen Holunderbusch wieder etwas zu rief, hinter dem er natürlich Holmi vermutete. Katzenhaft glitt Georgie zu Boden, robbte hinüber zu den äußeren Hecken der Vorgärten. Nur der energische Keyboardsound von „Light My Fire“ war ihm auf den Fersen.

Er erreichte den grellen Lichtkreis, der die neblig, bläuliche Abendluft zu einem Tunnel formte.

Ungeduldig sah Ulli abwechselnd hinauf zum Fenster und zu dem Holunderbusch. Diese Ungewissheit passte ihm nicht. „Holmi, was ist los … Hee, was geht jetzt ab?“, krächzte er mit einem zögerlichen Tremolo auf den Stimmbändern.

Natürlich bekam er keine Antwort.

„Wie viele Steinchen soll ich ’n noch werfen? … Da oben reagiert keiner … Hee, Holmi!“

Georgie hatte seine Position hinter der Hecke bezogen und auch Holmi und Tommi sollten ihr Ziel hinter Ulli erreicht haben.

Eigentlich konnte der Zauber jetzt beginnen.

„Hee, Holmi, du wolltest doch …“, weiter kam Ulli nicht, denn ein gebündelt scharfer Wasserstrahl traf ihn am Hinterkopf. Kaltes Wasser lief ihm in den Kragen, da er, ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten, die Kapuze seines Parkas nicht über den Kopf gezogen hatte.

Reflexartig duckte er sich, sprang nach vorn und noch im Fallen drehte er sich, um den Gegner zu orten, doch bevor er am Boden lag, traf ihn ein greller Halogenstrahl direkt ins Gesicht. Erst jetzt schrie er seinen Schreck lauthals heraus. Ein tiefer, röhrender Schrei.

Eine zweite Wassersalve ergoss sich diesmal auf seinem Gesicht. Es war wie der Schlag einer flachen Hand, sodass er abwehrend die Arme hochriss.

Zugleich aber rollte er zur Seite weg. Der Halogenstrahl erlosch.

Blitzschnell kombinierte er: Der Scheißer hockt da hinter den Büschen!

Zu allererst musste er von dem Präsentierteller weg, bevor die nächste Attacke kam.

Geistesgegenwärtig kam er auf die Beine und hechtete über die Hecke, rollte geschmeidig ab, rutschte mit der nächsten Bewegung dicht an die Hecke heran und wollte in ihrem Schutze entkommen.

Doch er kam nicht weit.

Erneut schlug ihm ein greller Halogenstrahl ins Gesicht. Diesmal unmittelbar vor ihm. „Ooh, Scheiße verdammt!“, automatisch drückte er sein Gesicht ins feuchte Gras und kniff die Augen zusammen.

„Okay, Mann! Was willst du?“, brüllte er in den Erdboden, während er die Arme schützend vor seinen Kopf verschränkte. „Was verdammt soll das?“

Bewegungslose Sekunden lauschte er.

Nichts passierte. Dann hörte er hinter sich schallendes Gelächter und er erkannte die Stimmen. Tommi und Holmi … Aber wie zum Teufel Holmi?

„Georgie! Mach’ endlich das Scheißlicht aus, Mann! Ich weiß, dass du das bist!“

Natürlich war er es und er lachte ebenfalls.

Von beiden Seiten wurde jetzt Beifall geklatscht. Das taten sie immer, wenn sie jemanden erfolgreich hochgenommen hatten.

Georgie knipste die Taschenlampe aus.

Für Sekunden schien Ulli erblindet. „Okay, Ihr Scheißtypen“, stöhnte er, „Ihr hattet Euren Spaß.“ Ein leichtes Grinsen huschte bereits wieder über seine Lippen, während er sich erhob.

Er blinzelte … Nur langsam erkannte er Umrisse. Das Weißglühen vor seinen Augen ließ nach und brachte Holmi zum Vorschein, dann Tommi. Automatisch flog sein Kopf herum. Direkt vor ihm hockte Georgie, noch immer mit der Taschenlampe im Anschlag.

Er grinste breit und linkisch.

„Das war doch ganz sicher deine Idee, oder?“, zerbrach Ulli das Gelächter.

Ein tiefes Nicken antwortete ihm.

Noch mehr Sekunden vergingen, bis sich Ullis Augen endgültig an die Dunkelheit gewöhnt hatten und der Schreck verflogen war.

„Das hat gesessen!“

„So war’s auch gedacht“, entgegnete Georgie aufmunternd, „aber sag mal, wo bleibt ’n Matjes?“

„Der kommt doch gleich, oder?“, mischte sich Holmi ein.

Ulli konnte dem Gedankensprung nicht sofort folgen, also sah er die beiden verständnislos an. Dann aber reagierte er: „Wir wollen uns gleich bei den Garagen treffen.“

„Das dauert zu lange. Geh’ noch mal zurück und klingel’ ihn raus!“, entschied Georgie.

Sein scharfer Blick genügte, um den drei Gesichtern jede Heiterkeit zu nehmen.

Mit einem Schlag kippte die Stimmung und es schien, als würden die Jungs verschreckt zurückweichen.

„Ja, Mann … Schon gut … Geht klar“, abwehrend hob Ulli die Hände, wobei er zurückwich, bis er sich ganz umdrehte und davon eilte.

Mittlerweile hatten die Doors zu spielen aufgehört.

Er klingelte Sturm, trat dann ein paar Schritte zurück und ließ das aufdringliche Klingelgeräusch in der friedlichen Abendstille verrecken, sodass selbst er für eine Schrecksekunde zusammenzuckte. Ein Blick hinauf zur Dachluke verriet ihm, dass Matjes noch in seinem Zimmer war. Da oben brannte noch immer Licht.

Ein zweites Mal fraß sich die Klingel durch den Nebel, bis auch im Flur Licht anging.

Matjes erschien hinter der mattverglasten Haustür und öffnete.

„Ist ja gut! Du kannst den Finger wieder abziehen.“ Eilig ging er an Ulli vorbei, schlug ihm brüderlich auf die Schulter und spähte den Gehweg hinauf. Die anderen entdeckte er im Lichtkreis der grellen Tunnelröhre, die noch immer aus Georgies Fenster herausstach, als wollte sie für immer dort bleiben.

„Hat’s eben fürchterlich geregnet?“, wobei er eine Augenbraue reckte. „Bist ziemlich nass geworden, oder?“

„Ha, ha … das ist jetzt aber witzig!“

„Tolle Show war das eben … Hab’s von oben gesehen … Sahst gut aus, Bruderherz!“, warf er Ulli einen hämischen Blick zu.

„Hast du alles gesehen?“

„Ich denke schon.“

„Das war aber nicht der Plan!“

„Nein, aber dafür warst du die Hauptfigur“, konterte Matjes und rief den anderen zu: „Habt Ihr auf mich gewartet?“

„Nein, Mann!“, antwortete Ulli für die anderen und versetzte seinem Bruder einen mittelschweren Hieb in die Rippen. „Wir schlagen grad ’n Zelt für ’n Richtfest auf … Natürlich, du Sack … Wir warten mal wieder nur auf dich!“ Im Wegrennen rief er über die Schulter: „Wenn du gleich mitgekommen wärst, dann wäre ich jetzt nicht nass!“

Lautes Lachen heftete sich an seine Fersen.

„Hast du wenigstens deine Taschenlampe mit?“

„Ja, ja … alles klar!“

Georgie drängte ungehalten: „Wir müssen Kahli noch abholen.“ Gemeinsam bogen sie in den Mozartweg ein. Georgie ging voraus.

„Okay, es ist Samstag.“ Er blieb plötzlich stehen. „Alle dürfen heute länger draußen bleiben.“ Er sah auf seine Armbanduhr, die er ungewöhnlich um das linke Handgelenk trug. Um auf das Zifferblatt zu schauen, musste er die Hand nach außen, also von sich weg, drehen:

„Es ist jetzt viertel nach acht und schon dunkel.“

Ein merkwürdiger Blick löste sich von ihm und eilte den schmalen Gehweg hinauf.

Die Jungs fühlten, wie sich unbehagliche Unsicherheit in ihnen ausbreitete, doch sofort kämpfte Ulli diese Unsicherheit nieder, um sich nicht von ihr besudeln zu lassen: „Mann, wir wissen, wie spät es ist!“

„Ja, und wir haben unsere Taschenlampen … Was machen wir jetzt?“, sprang Holmi ein und begann, von einem Bein auf ’s andere zu tänzeln.

„Jetzt mach’s nicht so spannend, was hast du vor?“, sah Ulli abwechselnd zu Holmi und Tommi, die ihm beipflichtend zunickten.

Noch immer sah Georgie den Gehweg hinauf, doch er sagte: „Okay! Lasst uns erst mal zu den Garagen.“ Dann wandte er sich an Tommi: „Hol’ du Kahli … Wir treffen uns vorne.“ Auffordernd nickte er ihm zu und Tommi rannte ohne jeglichen Einwand sofort los.

„Mir nach“, rief Georgie und stürmte den Mozartweg hinunter.

Noch ehe die anderen reagierten, war er bereits einige Meter entfernt.

Holmi und Ulli rannten gleichzeitig los. Als letzter Matjes. Diesmal rannte jedoch ein unklares Gefühl mit ihnen, das ihnen die Luft zum Atmen rauben wollte.

Plötzlich war alles anders.

Ganz deutlich fühlten sie es.

Nur konnten sie sich die Ursache nicht erklären.

Eines war sicher, sie mussten dicht bei Georgie bleiben.

Georgie passierte die Garagen und stoppte bei der Teppichklopfstange. Er schwang sich auf die seitliche Ablage. Das war der Kommandositz.

Keuchend reihten sie sich um ihn herum, bildeten automatisch einen Halbkreis.

Georgie schwieg und sein Gesichtsausdruck war ernst.

Holmi grub die Hände tief in die Taschen seines Parkas. Seine Taschenlampe lugte aus der linken, die Wasserspritze aus der rechten Brusttasche.

Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen.

Matjes kickte kleine Steine weg und sein Oberkörper war etwas nach vorne gebeugt. Verunsichert sah er links und rechts über die Schultern, als vermutete er jemanden hinter sich. Obwohl es nicht kalt war, rieb er sich die Hände.

Nur Ulli wirkte gefasst. Gerade kramte er in seinen Taschen. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Mit Bedacht fingerte er eine Zigarette zum Vorschein, die von der vorherigen Wasserspritzen-Aktion verschont geblieben war. „Na, nun seht mal her“, brach er die betretene Stille. „Ist das nich ’n Anblick? Zur Abwechslung mal was Schlankes?“ Mit der anderen Hand zog er die Streichhölzer heraus. Lässig steckte er sich die Zigarette in den linken Mundwinkel, so wie Detective Phillip Marlowe, von Humphrey Bogart gespielt.

Mit verstellt tiefer Stimme nuschelte er, wobei er Holmi antippte: „Ich hab gehört, dass dein Vater nur noch selbstgedrehte Kippen raucht?“

„Häh, wieso … warum?“

„Ja, Mann … der Arzt hat ihm doch mehr Bewegung verordnet, oder nicht?“ Nach diesem Satz blieb er todernst und zündete die Zigarette an. Bis Matjes schließlich einen Lacher herausprustete, blieben die anderen zunächst ernst, obwohl Georgie schon leicht grinste. Nur Holmi verstand den Witz überhaupt nicht: „Wieso denn? … Der raucht doch gar nicht mehr. Der Arzt hat ihm das verboten!“

Gerade zog Ulli an der Zigarette, als er sich heftig verschluckte und schallend den blauen Dunst hinausprustete. Matjes entriss ihm die Zigarette, die Ulli noch immer fest zwischen den Lippen hielt und durch den rechten Mundwinkel hustete.

Brüderlich schlug er ihm auf den Rücken und sagte: „Ist nix mit den Dingern, was?“ Dann nahm er einen kräftigen Zug, inhalierte tief und blies den Rauch langsam durch die Nase heraus. „So geht das, Mann!“

Langsam reichte er die Zigarette weiter zu Holmi, der noch immer verdutzt dreinschaute. „Was ist, nun nimm’ schon.“

Zögerlich nahm Holmi die Zigarette in Empfang, hielt sie ungeschickt mit Daumen und Zeigefinger wie eine tote Spinne. Er überlegte und sagte dann: „Ach, lieber nich’.“ Seine Stimme klang belegt. „Ich bin Nichtraucher.“ Ein dünnes Lächeln begleitete diese Festlegung.

Die anderen brachen in schallendes Gelächter aus, wobei Ulli einen weiteren Hustenanfall erlitt und sich gebückt wegdrehte.

Natürlich, das war eine blöde Antwort, wusste Holmi, aber ihm fiel nichts Besseres ein.

Ganz klar war er Nichtraucher. Alle Kinder mit zwölf sind Nichtraucher!

Georgie nahm die Zigarette und schnippte sie in hohem Bogen in die Büsche, zumindest erklärte er sich damit ebenfalls zum Nichtraucher.

Ein Wagen kam den Mozartweg herauf, als Matjes sich gerade wieder umdrehte. Er entdeckte sofort die zwei Gestalten hinter den blendenden Scheinwerfern und erkannte unschwer die ungleichen Umrisse von Tommi und Kahli.

„Hee, Georgie … Da kommen sie“, rief er und zeigte in die Richtung. „Ja, hab’s gesehen“, entgegnete dieser und rutschte vom Kommandositz herunter. Der Wagen fuhr in Richtung Siedlungsmündung.

Auch Holmi hatte sich umgedreht. Eilig zerrte er seine Taschenlampe hervor und blinkte die beiden ein paar Mal an. Eine Reflexhandlung, zumal es ihr gemeinsames Warnsignal war. Im Augenblick war es aber überflüssig.

Ulli schaute auf, unterbrach für Sekunden sein Husten und krächzte: „Was ist? … Willst du sie mit deinem Strahl abknallen?“, und schon prustete er wieder in seine Hände. Dabei rutschte seine Kapuze noch tiefer ins Gesicht.

Betreten tänzelte Holmi zur Seite und haspelte einige entschuldigende Worte heraus, wobei er die Taschenlampe wieder in seiner Brusttasche verstaute.

„Ist schon gut, Holmi! Es ist okay!“, sprang Georgie ein, klopfte ihm auf die Schulter und ging Kahli und Tommi einige Schritte entgegen. „Hi, alles klar?“

„Hee, Mann … Was geht ab? Warum treffen wir uns hier? … Warum nicht bei der Tiefgarage?“, Kahli schaute sich fragend um.

„Heute nicht!“ Georgie kam mit ihnen zurück und schwang sich wieder hinauf auf den Kommandositz. Gespannt reihten sie sich wieder um ihn herum.

„Heute geht’s woanders hin.“

„Kein Taschenlampenversteck?“, fragte Tommi beinahe entrüstet.

„Nein“, sprach Georgie leiser, womit sich eine unglaubliche Spannung auf seine Worte legte. Dann weihte er sie ein in ein fürchterliches Geheimnis.

Die sieben Donner

Und ich sah einen anderen starken Engel

vom Himmel herabkommen; der war mit einer

Wolke bekleidet und ein Regenbogen auf

seinem Haupt und sein Antlitz wie die Sonne

und seine Füße wie Feuersäulen, und er hatte

in seiner Hand ein Büchlein aufgetan.

Und er setzte seinen rechten Fuß auf das

Meer und den linken Fuß auf die Erde.

Und er schrie mit großer Stimme, wie ein

Löwe brüllt. Und da er schrie, redeten

sieben Donner ihre Stimmen.

Die Offenbarung des Johannes

Kapitel 10. Vers 1–3.

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