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Kapitel II.6 Annäherung

Victor war in der Beratung seiner Kunden sehr erfolgreich. Immer wieder gelang es ihm, win/win-Situationen zu erzielen, so dass sowohl der Kunde als auch die Bank von den von ihm vorgeschlagenen Geschäften profitierten.

Das veranlasste Arthur òToole, Victor von administrativen Tätigkeiten weitestgehend freizustellen, damit dieser sich ausschließlich auf die Beratung der vermögenden Kunden konzentrieren konnte.

Denn schließlich hatte Victor Vaughan durch den erfolgreichen Abschluss des Lehrganges zur Beratung vermögender Kunden die Qualifikation erhalten, gerade diese anspruchsvolle Kundenklientel zu beraten.

Einer dieser potenten Kunden war der ehrwürdige Howard Lynskey, ein stattlicher Mann von 1,84 Meter Größe mit vollem nach hinten gekämmten grauen Haaren. Howard ging immer nur korrekt mit Designer-Anzug und italienischen Schuhen gekleidet aus dem Haus. Besonders auf seine Bankbesuche hatte Mr. Lynskey sich immer intensiv vorbereitet, äußerlich und innerlich.

An diesem Tag hatte er eine besondere Transaktion vor. Aus einem erfolgreichen Geschäftsabschluss hatte er 65.000 Euro frisches Geld für eine Neuanlage zur Verfügung. Dieses Geld wollte er auf den Namen seiner Tochter Meggan anlegen. Dazu rief er seinen Anlageberater an, um einen kurzfristigen Termin zu vereinbaren.

Howard hatte nun schon einige Anlagegespräche mit Victor Vaughan geführt, in deren Folge sich bereits ein großes Vertrauensverhältnis zu dem Finanzberater aufgebaut hatte.

„Hallo Victor, ich bräuchte mal wieder einen kurzfristigen Termin für ein Anlagegespräch, diesmal gemeinsam mit meiner Tochter Meggan. Wann hätten Sie Zeit für uns?“

„Guten Tag, Mr. Lynskey, schön von Ihnen zu hören. Leider habe ich während der Öffnungszeiten der Bank in den nächsten Tagen keinen freien Termin. Aber wie wäre es, wenn ich abends bei Ihnen zuhause vorbeischauen würde? Dann könnten wir in aller Ruhe und ohne Zeitlimit auf Grund eines möglichen Folgetermins die Möglichkeiten durchsprechen, die sich für Sie ergeben“, bot Victor Vaughan einem seiner wichtigsten Kunden an.

„Das ist außerordentlich zuvorkommend, Victor. Das Angebot nehme ich gern an. Wie wäre es mit morgen Abend nach Ihrem Dienstschluss?“

„Das passt mir gut, sagen wir so gegen halb sieben Uhr?“

„Schön, dann sehen wir uns morgen Abend. Meine Tochter Meggan wird dann auch zuhause sein.“

„Gut, dass ich mir nach der neuerlichen Gehaltserhöhung ein Auto leisten konnte“, dachte Victor bei sich. Er hatte sich einen gebrauchten VW Golf zugelegt, der ihn bei seinen Terminplanungen unabhängig machte von den Fahrplänen der öffentlichen Verkehrsmittel. Die Verbindungen von Letterkenny in Richtung Doochary waren eh nicht gerade berauschend.

Seit er nun mit seinem eigenen Wagen zur Bank nach Letterkenny fuhr, nahm er häufig den Weg durch die Ausläufer des Glenveagh-Nationalparks. Dazu bog Victor von der Hauptstraße in Doochary, bevor es in die Berge Richtung Dungloe ging, rechts in die R254 ab. Diese Straße konnte man allerdings nicht als solche bezeichnen. Es war eher ein befestigter Weg mit sich unendlich aneinander reihenden Schlaglöchern und einer nur sporadisch aufgebrachter Asphaltdecke. Aber gerade Straßen dieser Art machten für viele Besucher den Reiz Irlands aus. Der Weg schlängelte sich entlang des an dieser Stelle noch recht schmalen Gweebarra Rivers auf der einen und den Derryveagh-Mountains auf der anderen Seite Richtung Churchhill. Victor genoss regelmäßig die Ruhe und Abgeschiedenheit dieser landschaftlich eindrucksvollen Region. Die braunen Erdtöne der Torflandschaft und die riesigen Heideflächen wirkten beruhigend auf seine Augen. Er musste nicht befürchten, dass weitere Fahrzeuge seinen Weg kreuzten. Somit konnte Victor Vaughan die Fahrten genießen, ohne auf weiteren Verkehr achten zu müssen. Auf der rechten Seite lag wie ein großer runder Spiegel Lough Barra, ein nicht allzu tiefer See, der vom Gweebarra River durchflossen wurde. Ihm gegenüber ragte majestätisch und gewaltig der Slieve Snaght (Sliabh Sneachta), empor, von dessen Gipfel man imposante Blicke in das auf seiner gegenüberliegenden Seite steil abfallende Poison Glen, auf den Mount Errigal (An Earagail), dem höchsten Berg Donegals und auf den Atlantik hatte. Weiter in den Bergen öffnete sich das Tal, um einen faszinierenden Blick freizugeben auf Lough Veagh, an dessen Ufer auf einer kleinen Landzunge inmitten des bewirtschafteten Teils des gleichnamigen Nationalparks das Glenveagh Castle mit seinen exotischen Gärten stand. Als Victor im Vorbeifahren diesen unwiderstehlichen Anblick genoss, bereute er insgeheim, den Schlosspark lange nicht mehr besucht zu haben. Früher war er an Sonntagen häufig mit seiner Mutter über den malerischen Zufahrtsweg bis zum Schloss gewandert. In diesem Moment nahm er sich vor, den Park unbedingt mal wieder besuchen zu wollen.

Einige Meilen weiter entfernte Victor sich in einem Rechtsbogen vom Gebiet des Nationalparks in Richtung Letterkenny. Seit der Vermögensberater diese Route nahm, kam er viel entspannter zur Arbeit, als wenn er die Hauptroute über Fintown nahm.

Pünktlich um halb sieben, so wie seine Mutter es ihm gelehrt hatte, klingelte Victor am nächsten Abend an der mächtigen hölzernen Doppel-Haustür, die aufwendig mit Schnitzereien verziert war.

Das Grundstück streckte sich vom eigenen, mit weißem Kies bedeckten Zufahrtsweg hinunter bis an den Lough Swilly, einem Meeresarm des Atlantiks, der hier wie die lange Zunge einer Riesen-Moräne kilometerweit in das Land hineinragte.

Auf einem gewaltigen Steinfindling rechts vom Eingang erblickte Victor die in doppelrahmigen Kupferbuchstaben aufgebrachte Hausbezeichnung Lynskey Manor. Das eindrucksvolle Gebäude wirkte auf ihn eher wie ein Stonebuild-Castle, mit Mauern so dick wie die berühmten Stadtmauern des benachbarten Derry oder Londonderry, wie die Engländer diesen Ort nannten. Derry war einer der Hauptorte direkt hinter der nahen Grenze zu Nordirland und in der Vergangenheit immer wieder zum Schauplatz der Unruhen zwischen den republikanischen Katholiken und den britischen Protestanten geworden.

Die grauen Granitblöcke des Hauses zierten große Fensterläden, deren farngrüner Anstrich die massiven Steinmauern erfreulich auflockerten und in dieser farblichen Symbiose zu einem ausgewogenen Gesamtbild beitrugen.

Die enorme Anzahl der Schornsteine mit ihren unorthodox aussehenden terracotta farbenen Endrohren ließ darauf schließen, dass sich in fast jedem Zimmer ein offener Kamin oder Kaminofen befinden musste.

Auf dem Teil des parkähnlichen Grundstücks, das sich bis zum Lough Swilly hinunterstreckte, entdeckte Victor einen Swimmingpool, der einer ganzen Schulklasse zum Schwimmtraining ausgereicht hätte. Direkt am Wasser des Lough Swilly war ein Bootsanlegeplatz installiert worden, an dem sich ein großes Ruderboot angeleint in den leichten Wellen auf und ab wog.

Früher, als die Grenze zu Nordirland noch hermetisch abgeriegelt war, hatte sich nicht weit von Lynskey Manor ein befestigter Grenzübergang befunden. Den Bloody Sunday und andere Unruhen in Derry hatten die Lynskeys hautnah miterlebt.

Links vom Haupthaus entdeckte Victor die ebenfalls aus Granit-Steinblöcken gefertigte Garage, die sicherlich fünf ausgewachsenen Automobilen großzügigen Parkraum bot. Die oben leicht gebogenen doppeltürigen Garagentore waren aus deutscher Eiche gefertigt und gaben diesem Nebengebäude den Anstrich von Solidität und Stabilität.

In den ersten beiden Parkboxen, deren Türen offen standen, fiel Victor der schneeweiße Jaguar auf, ein Mark II von 1968, der offensichtlich nur bei Sonnenschein auf den öffentlichen Strassen von Donegal bewegt wurde. Der Oldtimer sah nämlich aus, als käme er gerade aus der Lackierstrasse. Die Chromteile blitzten in der tief stehenden Sonne und reflektierten das Sonnenlicht als weiße Laserstrahlen in den Kosmos.

In der zweiten Garage erblickte er einen metallic-schwarzen Mercedes-Benz S-Klasse der neuesten Baureihe.

Vor dem dritten verschlossenen Garagentor parkte ein schwarzer Range-Rover Geländewagen mit getönten Seitenscheiben.

Neben dem Garagengebäude stand ein silberfarbener Audi TT, offensichtlich das Fahrzeug von Meggan. Das entnahm Victor der Tatsache, dass das Cabriodach geöffnet war und der Zündschlüssel noch steckte. Typisch Frauen, dachte Victor, obwohl er eigentlich gar nicht so recht wusste, wie Frauen so tickten. Aber ein paar Klischees hatte er in den Pausengesprächen von seinen Arbeitskolleginnen und -kollegen ja doch schon aufgeschnappt.

Kurz nach seinem Klingeln öffnete ihm Michael Doherty, Howard Lynskeys Sekretär, die Tür.

„Guten Abend Mr. Vaughan, Mr. Lynskey und seine Tochter erwarten Sie bereits in der Bibliothek. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“

Victor betrat die Eingangshalle, die einer Kathedrale glich, mit zwei sich gegenüberliegenden konkav verlaufenden Treppenaufgängen, die im ersten Obergeschoss auf einer Empore mündeten, die allein so groß war, wie der Dubliner Dom.

In der Mitte des Raumes hing an einer Messingkette ein zwölf-flammiger Leuchter von einem Meter Durchmesser, verziert mit unzähligen in Waterford geschliffenen Glaslüstern, der die Eingangsdiele in ein samtwarmes Licht tauchte. Waterford war weltbekannt für seine Glashandarbeiten. Sogar die großen Glasschalen der Wimbledon-Sieger stammten aus dieser Stadt an der Südküste Irlands.

Ohne eine Antwort abzuwarten und ohne darauf zu achten, ob Victor Vaughan ihm auch folgte, ging Michael Doherty mit forschen Schritten voran. Dabei konnte man seinen Gang weniger als Laufen beschreiben. Victor hatte das Gefühl, als schwebe der Privatsekretär über dem Boden. Michael Doherty machte auf den Bankangestellten auf den ersten Blick einen recht unsympathischen Eindruck. Victor schätzte ihn auf fünfundsechzig bis achtundsechzig Jahre. Ein Mann von kleiner Statur, vielleicht um die 1,70 Meter groß, sehr schmächtig und mit einer Vollglatze. Eine Nickelbrille mit runden Gläsern verlieh dem Sekretär etwas Pseudo-Intellektuelles.

Aber wahrscheinlich schätze Victor ihn auch ganz falsch ein und Michael Doherty war die Liebenswürdigkeit in Person überhaupt. Victor wusste es nicht, er hielt den Privatsekretär aber zumindest für undurchsichtig.

Am Ende eines langen Ganges erreichten die beiden Männer die Bibliothek, deren Doppeltür fast raumhoch bis zur Decke reichte.

Auf dem Weg dorthin fiel Victor auf, dass neben den am Außenmauerwerk angebrachten farngrünen Fensterläden auch auf der Innenseite hölzerne Fensterläden angebracht waren. Diese waren in einem altweißen Farbton gestrichen und sahen in geöffnetem Zustand aus, als ob lebensgroße Engel links und rechts der Fenster ihre Flügel ausbreiteten.

In der Bibliothek erwarteten ihn bereits Howard Lynskey und seine Tochter Meggan. Die Stirnwand des Raumes dominierte ein mannshoher offener Kamin, der von exklusiven Marmorsäulen eingerahmt wurde. Darüber gab ein überdimensional großer Spiegel dem Raum noch eine zusätzliche Weite. Vor dem Kamin, in dem ein süß duftendes Torffeuer loderte, stand ein kniehoher, massiver Eichentisch, an dem zu beiden Seiten jeweils eine Couch im alten englischen Stil platziert worden war. Howard Lynskey und seine Tochter saßen sich auf je einer dieser mächtigen Couches gegenüber. Vor ihnen stand auf dem Eichentisch je eine Tasse mit intensiv duftendem schwarzem Darjeling-Tee. In einer kleinen barocken Porzellanschale lagen einige hausgemachte backfrische Scones. Daneben eine Glasschale mit Butter, ein Glas mit Himbeer-Marmelade und ein Glasschälchen mit clotted cream. Auf einem Porzellanstöfchen stand eine bauchrunde Teekanne aus feinstem China.

Die Mitte des Tisches schmückte eine hochwertige Waterford-Glasvase mit einem Strauß gelber Tulpen, deren Stiele soweit gekürzt waren, dass sich auch die Blüten der Blumen innerhalb der Vase befanden.

Auf dem Sims des Kamins entdeckte Victor einige schon leicht vergilbte Schwarzweißfotos in aufwändig gedrechselten Messingrahmen, auf denen offensichtlich einige der Vorfahren der Lynskey-Familie abgebildet waren. Eine alte französische Kaminuhr zierte die Mitte des Marmorsimses.

Rechts und links der Marmorsäulen standen schmiedeeiserne Kerzenständer, in denen dicke weiße Kerzenstumpen brannten und dem Raum eine angenehme, heimelige Atmosphäre verliehen.

Eine überdimensionale Wanduhr stand in der linken Ecke neben dem Eingang, deren Schlag sich anhörte wie die Glocken der St. Patricks Kathedrale in Dublin.

Die Wände waren ansonsten bis zur Decke ausgekleidet mit Buchregalen, die prall gefüllt waren mit historischen Büchern, die jedem Antiquariat zum Ruhm gereicht hätten.

Auffallend war auch das zahlreich herumstehende antike Porzellan, von dem Victor nur das mit dem blauen Zwiebelmuster kannte, und ihm damit seine Herkunft aus Meißen bekundete.

„Guten Abend, Victor“ begrüßte Howard Lynskey seinen Vermögensberater. „Schön, dass Sie Zeit für uns haben. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie ihren wohlverdienten Feierabend opfern, um uns zu beraten.“

„Das mache ich gern für Sie, Mr. Lynskey. Oh Entschuldigung und natürlich auch für Sie, Ms. Lynskey. Ich hoffe, ich kann Ihnen behilflich sein. Worum geht es denn konkret?“

„Also Victor, ich habe aus einem aktuellen Geschäftsabschluss 65.000 Euro zu erwarten. Die möchte ich gern auf den Namen meiner Tochter anlegen. Was können Sie uns da empfehlen?“

„Das kommt ganz darauf an, wie risikofreudig und wie langfristig Sie das Geld anlegen möchten. Aus Ihren bisherigen Anlagen weiß ich, dass Ihnen beides wichtig ist, Rendite aber auch die Sicherheit des Geldes. Trifft das dieses Mal auch zu?“

„Durchaus, Victor. Sie können davon ausgehen, dass der Betrag langfristig angelegt werden kann. Über liquide Mittel verfügen wir noch auf anderen Konten und aus weiteren kurzfristigeren Geldanlagen.“

„Gut, ich könnte mir vorstellen, dass wir den Betrag splitten und in unterschiedlichen Anlageformen festlegen. Den Hauptanteil könnten wir beispielsweise in Aktienfonds anlegen. Das hätte den Vorteil, dass die Fondsgesellschaft ja bereits das Risiko streut. Trotzdem würden Sie aber von einem Boom an der Börse partizipieren. Die Gewinnerwartungen wären zwar nicht so hoch, als ob Sie auf eine florierende Aktiengesellschaft setzen würden, dafür halten wir aber das Risiko in Grenzen. Denn eines ist immer so am Markt: Weniger Risiko steht gleichbedeutend für weniger Rendite. Einen weiteren geringeren Anteil des Geldes könnten wir direkt an der Börse einsetzen. Dabei würde ich Ihnen allerdings empfehlen, auf europäische Standardwerte zu setzen. Das ist weniger risikofreudig als am Neuen Markt zu investieren. Bei einer Hausse an der Börse zählen Sie aber voll zu den Gewinnern. Das bedeutet für Sie, etwas mehr Risiko als bei den Fonds, aber auch mehr Gewinnchancen. Und da Sie das Geld ja langfristig anlegen wollen, könnten Sie sogar eine kleine Flaute mit Niedrigkursen an der Börse durchstehen. Die Dividenden der Aktiengesellschaften fließen Ihnen in jedem Fall zu“, riet Victor.

„Natürlich können Sie auch einen gewissen Teil des Geldes als Notgroschen auf ein Festgeld- oder Tagesgeldkonto bei unserer Bank anlegen“, fuhr Victor weiter fort. „Das bringt zwar im Augenblick nicht die größte Rendite, Sie könnten aber bei Bedarf jederzeit darauf zurückgreifen, unabhängig von den Entwicklungen an der Börse.“

„Das hört sich aufwändig aber durchaus interessant an, Victor. Wie muss ich mir das konkret vorstellen?“, fragte Howard Lynskey.

„Also, mein konkreter Vorschlag wäre folgender: Sie legen 40.000 Euro an in Fonds einer Aktienfondsgesellschaft, 20.000 Euro investieren wir direkt an der Börse in Aktien von Standardgesellschaften und legen die restlichen 5.000 Euro auf ein Festgeldkonto bei der Bank of Ireland an.“ empfahl Victor.

„Und wie muss ich mir das vorstellen mit den Fonds und den Aktien? Werden die einmal gekauft und liegen dann für eine gewisse Zeit fest?“, fragte Howard Lynskey nach.

„Nein, nein, Mr. Lynskey. Ganz und gar nicht. Sie können zu jeder Zeit umschichten. Das bedeutet, dass Sie die Fonds jederzeit am Markt wieder absetzen können, natürlich zu den zum Zeitpunkt des Verkaufs gehandelten Kurswerten. Diese können höher oder niedriger als beim Kauf der Papiere sein, je nachdem wie die allgemeine Kursentwicklung an der Börse war. Nach dem Verkauf der Papiere könnten Sie dann eine Neuanlage wählen, die zum Verkaufszeitpunkt am attraktivsten erscheint. Das könnten dann zum Beispiel Immobilienfonds sein, wenn diese zu dem Zeitpunkt attraktiver wären. Auch das Aktienpaket von 20.000 Euro können Sie zu jeder Zeit verändern. Das wäre beispielsweise eine gute Übung für Ihre Tochter, sich mit den Entwicklungen an der Börse und den Auswirkungsindikatoren zu beschäftigen. Im Laufe der Zeit wird sie Erfahrungen sammeln und in Entscheidungen über An- und Verkäufe der Aktien umsetzen. Bei den ersten Schritten will ich ihr gern behilflich sein“, bot Victor an.

„Das ist ja großartig. Was sagst du dazu, Meggan?“, fragte Howard seine Tochter.

„Du weißt, Vater, dass ich mich bisher nicht mit finanziellen Dingen beschäftigt habe. Für mich als Laie hört sich das zunächst sehr kompliziert aber auch interessant an. Und wenn mir Mr. Vaughan in der ersten Zeit zur Seite stehen würde, sähe ich darin eine große Chance, erste Erfahrungen mit den Möglichkeiten der Geldanlage zu sammeln“, erwiderte Howards Tochter.

Meggan hatte sich bisher kaum um Geldangelegenheiten gekümmert. Besser, sie hatte sich nicht darum kümmern müssen. Für sie war immer gesorgt worden. Das Geld war einfach immer da, wenn sie es brauchte. Bisher hatte sich ausschließlich ihr Vater mit diesen für Meggan administrativen Aufgaben gewidmet. Nie hatte sie sich in der Vergangenheit über diese für sie eher langweiligen Finanzthemen Gedanken gemacht.

Meggan war in der Beziehung vollkommen sorgenfrei aufgewachsen. Das kam ihr nicht zuletzt während der Schulzeit zugute. Unbelastet von finanziellen Zwängen und Nöten konnte sie sich voll auf die Schule konzentrieren. Ihre Lernergebnisse waren dementsprechend überdurchschnittlich gut. Nach Abschluss der Schule war auch Meggan Lynskey, wie vor ihr schon ihr Vater, zum Trinity College in Dublin gegangen. Dort studierte sie sieben Semester Medizin, bis vor einigen Jahren ihre Mutter plötzlich gestorben war. Helen Lynskey war an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Und bevor die Krankheit überhaupt diagnostiziert und erkannt worden war, war es bereits zu spät. Die Metastasen hatten sich bereits auf weitere Organe ausgebreitet. Nach der Diagnose ging dann auch alles sehr schnell. Kaum drei Monate später starb Meggans Mutter bereits. Damals konnte sie ihren Vater, der auch nach so vielen Ehejahren seine Frau immer noch abgöttisch liebte und an ihr hing, nicht in seinem Schmerz und seiner Trauer allein lassen. Zu dem für ihren Vater so schmerzlichen Zeitpunkt beschloss Meggan, ein Semester mit dem Medizinstudium auszusetzen, um nach einem halben Jahr dann wieder einzusteigen. Dabei war es bisher geblieben. Irgendwie hatte sie die Kurve nicht wieder erwischt, nach Dublin zurück zu gehen und das Studium fortzusetzen.

Ein Grund mochte auch gewesen sein, dass sie es genoss, endlich mal für eine längere Zeit sesshaft zu sein. Meggans Vater war nämlich Zeit seines Lebens im auswärtigen Dienst tätig gewesen. Von diesen Auslandsaufenthalten hatte er viele seiner Exponate mitgebracht. Die Uhren, das Porzellan und einige Skulpturen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen schmückten jetzt Lynskey –Manor.

Nach seiner Zeit im auswärtigen Dienst nutzte Howard seine dort geknüpften umfangreichen Kontakte für den Handel mit Waren aller Art. Das war für ihn ein lukratives Geschäft ohne geringstes Risiko. Er fungierte sozusagen nur als Vermittler zwischen Nachfrage und Angebot und erzielte dabei ausgesprochen lukrative Margen.

Häufig hatten Meggan und ihre Mutter Howard Lynskey bei seinen Auslandsaufenthalten begleitet, so dass Howards Tochter den Großteil ihrer Kindheit in den unterschiedlichsten Ländern verbracht hatte.

Das hatte neben den vielen Unannehmlichkeiten durchaus auch Vorteile gehabt. So fiel es Meggan leicht, fremde Sprachen zu erlernen oder sich neuen Situationen zu stellen. Sie war zwar nicht extrovertiert, aber man konnte sie absolut als kontaktfreudig bezeichnen.

Während ihres Studiums in Dublin war sie eine intensive Beziehung eingegangen mit ihrem damaligen Studienkollegen Brendan McGee. Für Meggan war es schon eine ernste Sache gewesen und sie hätte sich durchaus ein Leben mit Brendan nach dem Studium vorstellen können. Beide waren unzertrennlich gewesen. Brendan studierte ebenfalls Medizin, war aber bereits einige Semester länger am College als Meggan. Bis dann eines Tages seine Examina anstanden. Brendan erklärte Meggan kurz und knapp und ohne große Emotionen, dass ihre Beziehung ein Fehler war, und dass er seine Zeit nun für die Vorbereitung auf die Klausuren benötige und dass Schluss sei.

Einfach so.

Von Jetzt auf Gleich.

Ohne große Worte.

Als sei es das Normalste der Welt.

Beziehungen werden geboren, Beziehungen werden aufgelöst.

Schluss - Aus - Ende.

Es hatte nie wieder einen Kontakt zu Brendan gegeben.

Keinen Brief, keine Mail, keine SMS, kein Anruf.

Kurz darauf war dann auch die Nachricht vom Tod ihrer Mutter gekommen. Zwei Trennungen von zwei lieben Menschen. Das war auch für Meggan zuviel gewesen und hätte sie fast aus der Bahn geworfen. Damals war sie froh über die Frage ihres Vaters, ob sie ihm für einige Zeit beistehen könne. Doch daraus waren nun schon mehr als 2 Jahre geworden.

„Also gut“, fuhr Meggan weiter fort „wenn Sie mich bei meinen ersten Entscheidungen unterstützen, wie Sie angeboten haben, wäre ich einverstanden. Schließlich möchte ich dich, Vater, nicht enttäuschen bei meinen ersten monetären Gehversuchen.“

„Dann ist ja alles geklärt. Was ist jetzt konkret zu tun, Victor?“, fragte Howard Lynskey.

„Ich werde morgen die entsprechenden Verträge vorbereiten und die notwendigen Konten und Depots auf Namen Ihrer Tochter einrichten. Ich würde, falls es Ihnen auskommt, morgen Abend erneut zu Ihnen kommen, um die Verträge und sonstigen Unterlagen von Ihrer Tochter unterschreiben zu lassen.“

„Ich bin morgen Abend zwar nicht im Haus, ich glaube aber, dass ich nicht gebraucht werde. Reicht es aus, wenn meine Tochter Meggan anwesend ist?“

„Ja, ich benötige die Unterschriften lediglich von Ihnen, Meggan. Ist es Ihnen recht, wenn ich morgen Abend noch mal reinschaue?“

„Klar, gleiche Zeit?“

„Abgemacht, ich freue mich“, bestätigte Victor.

„Wir danken Ihnen nochmals recht herzlich, Victor, für die unkonventionelle Art und Weise der Beratung. Das hat uns ausgesprochen gut gefallen und überzeugt. Ich werde das in jedem Fall lobend bei meinem Freund Artur òToole erwähnen“, versprach Howard Lynskey.

Da es schon spät war, wählte Victor für den Rückweg von Letterkenny nach Doochary nicht den Weg durch den Nationalpark, den er nun üblicherweise nahm, sondern fuhr über die Hauptstraßen, die R250 Richtung Fintown und hinter Fintown weiter über die R252 nach Doochary und in Doochary hinter der Gweebarra Brücke links ab in die rechte Uferstrasse bis zum Haus seiner Mutter.

Auf dem gesamten Heimweg fühlte Victor sich federleicht. Er wurde von einem Glücksgefühl übermannt, das er bisher nicht kannte. Das irritierte ihn zutiefst. War es nur die Tatsache, dass seine Arbeit anerkannt worden war?

Oder war da noch etwas anderes?

Meggan?

Noch nie war er so lange in Gegenwart eines so attraktiven Mädchens gewesen. Noch nie hatte er bis dahin irgendetwas durch die Anwesenheit einer Frau gespürt. Er hatte doch bisher nur mit seiner Mutter mehr als fünf Sätze am Stück gesprochen.

Aber an diesem Abend war alles anders gewesen.

Was war das für ein Gefühl? Victor war verwirrt. Er kannte sich nicht aus.

Er merkte nur, es war ein gutes Gefühl, geheimnisvoll aber nicht unangenehm. Nervosität überkam ihn. Oder war es Angst vor dem nächsten Abend? Nein Angst war das falsche Wort, es war eine Mischung aus Ehrfurcht, Respekt, Bammel und Vorfreude.

Meggan, Meggan – immer wieder ging ihm dieser Name durch den Kopf.

Mit ihrer ganzen Ausstrahlung hatte sie ihm gegenüber gesessen. Niemals hatte er eine ähnlich attraktive Frau gesehen. Ihre langen blonden Haare, die so gar nicht irisch aussahen, sondern eher bei Frauen mit skandinavischen Wurzeln vermutet werden konnten, hatte sie offen getragen. Sie hingen wie ein Schleier aus Samt von ihrem Kopf herab bis weit zu ihren Schulterblättern. Eine eng geschnittene Bluse über einem weißen T-Shirt betonte ihre weibliche Figur. Sie war schlank, eher sportlich mit langen makellosen Beinen. Ihr Gesicht war perfekt geschnitten und ihre blauen, wachen Augen strahlten eine wohltuende Wärme aus. Victor ertappte sich dabei, dass ihm noch nie soviel Details an einer Frau aufgefallen waren wie an diesem Abend bei Meggan.

Noch nie hatte er eine Frau wissentlich so genau beobachtet, geschweige denn, sich Einzelheiten von ihr eingeprägt. Darin hatte er auch gar keinen Grund gesehen. Was sollte das bringen?

Und nun wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Er kannte sich nicht aus.

Das hatte ihm keiner beigebracht.

Diese Lektion hatte seine Mutter vergessen, ihm beizubringen.

Auf eine derart komplizierte und spezielle Situation hatte sie ihren Sohn nicht vorbereitet.

Warum hatte sie ihm diese Belehrung nicht gegeben?

War es etwas Schlimmes?

War es etwas Verbotenes?

War es etwas, das sich zwischen ihn und seine Mutter stellen könnte?

Hatte sie ihn deshalb nicht auf eine solche Situation vorbereitet?

Wollte sie ihn aufgrund eigener schlechter Erfahrungen vor einer eigenen Beziehung bewahren, gar schützen?

Alles Fragen, auf die Victor keine Antworten hatte.

Würde er jemals die Antworten bekommen, und falls ja von wem?

Er wusste nur eins, mit seiner Mutter konnte und wollte er über seine Gefühle nicht reden. Zu groß war seine Angst, sie zu verletzen, zumindest aber zu verstören.

Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, dass sein Vater da wäre. Der hätte sicherlich ausreichend Erfahrungen in diesen Dingen gehabt, um ihm einen Rat geben zu können. Aber Victor war bisher auch ohne seinen Vater klar gekommen. Also würde er auch dieses Mal einen Weg finden.

Unkonzentriert lenkte Victor seinen Volkswagen Richtung Doochary, obwohl die engen, kurvigen Straßen, besonders als sie sich die letzten Meilen von Fintown nach Doochary durch das Gebirge zwängten, seine volle Aufmerksamkeit erfordert hätten.

Noch lange lag er an diesem Abend wach in seinem Bett.

Meggan, Meggan . . .

Er sah ihr Gesicht, ihr warmes Lächeln, hörte ihre zarte Stimme.

Meggan, Meggan. . .

An den geschäftlichen Erfolg dachte er überhaupt nicht. Das war für den Bankberater schon zur Routine geworden. Das abgeschlossene Geschäft würde ihm zwar bei Arthur òToole wieder einige Pluspunkte einbringen, war für ihn aber im Moment vollkommen nebensächlich.

Auch das Zählen von tausenden von Schafen brachte ihm in dieser Nacht keinen Schlaf.

Gerädert wachte er am nächsten Morgen auf.

Meggan, Meggan. . .

Nach einem schnellen wortkargen Frühstück mit seiner Mutter war er froh, endlich allein in seinem Wagen zu sitzen und seinen Gedanken nachgehen zu können. Er wählte wieder, ohne großartig darüber nachzudenken, wie selbstverständlich seine bevorzugte Fahrstrecke durch den Nationalpark. Doch heute hatten seine Augen für die Schönheiten der Natur keinen Platz. Zu sehr war er in Gedanken bei Meggan. Er erwischte sich sogar dabei, dass er mehrere Meilen gefahren war, ohne dass er sich daran erinnern konnte, wie er sie gefahren war. Automatisch liefen die motorischen Befehle ab. Gedankenverloren erreichte er das Gebäude der Bank of Ireland in Letterkenny.

Nachdem Victor den Computer gestartet hatte, begann er mit den Eingaben, die für die Kontoeröffnungen und Vertragsabschlüsse notwendig waren.

Es dauerte nicht lange, bis Arthur òToole die Tür seines Büros öffnete.

„Guten Morgen, Victor. Schon wieder so fleißig? Das gefällt mir.“

„Guten Morgen, Mr. òToole. Ja, ich bereite die Ergebnisse des Beratungsgespräches, das ich gestern Abend mit Mr. Lynskey und seiner Tochter Meggan geführt habe, auf.“

„Ich weiß schon. Howard Lynskey rief mich heute früh bereits an. Er ist auf dem Weg nach Dublin zu einer geschäftlichen Besprechung. Er war voll des Lobes über Ihre Vorschläge, Victor. Auch dass Sie bereit waren, das Gespräch gestern Abend bei ihm zu Hause zu führen, fand er sehr zuvorkommend und angenehm. Ich hörte, sie würden heute Abend noch mal zu den Lynskeys herausfahren, um die Verträge unterschreiben zu lassen?“

„Ja, Mr. òToole, das werde ich. Und ich denke, dass Ms. Lynskey in der nächsten Zeit häufiger in meinem Büro sein wird, um die Wertpapiere zu ordern.“

„Schön, Victor. Das haben Sie sehr gut gemacht. Ich bin stolz auf Sie. Weiter so!“

Nach diesem unerwarteten Lob ging Victor die Arbeit wie von allein von der Hand. Er vervollständigte die Eingaben in seinem Computer und erzeugte die Ausdrucke der Kontoeröffnungsunterlagen und der notwendigen Verträge. Er verstaute alles sorgfältig in seiner Aktentasche für das Gespräch am Abend mit Meggan Lynskey.

Victor Vaughan hatte an dem Tag noch einige weitere Kundengespräche, aber keine, die ihn über Gebühr gefordert hätten. Darüber war der Vermögensberater auch nicht böse. Victor wusste nämlich nicht, ob er den Kopf frei gehabt hätte für ein schwieriges und anspruchsvolles Anlagegespräch.

Mittags ging er kurz in das Bagels-Cafe, das an der übernächsten Straßenkreuzung lag und aß sich einen mit Käse, Bacon und Ei belegten warmen Bagel und trank dazu eine Tasse Tee. Er blätterte kurz durch die ausliegende Tageszeitung Irish Independent, aber eigentlich nur, um die Zeit totzuschlagen. Er konnte sich nicht richtig auf die Inhalte konzentrieren. Diese erschienen ihm im Augenblick eh nicht so wichtig. Irgendein Popstar war an einer Überdosis Heroin gestorben, das war die Headline des Tages. An mehr konnte er sich auch schon nicht mehr erinnern.

Der Nachmittag verging langsamer als sonst. Er erwischte sich dabei, dass er immer wieder auf die Uhr sah. Wieder erst fünfzehn Minuten vergangen, seit er das letzte Mal auf die Uhr gesehen hatte.

Überpünktlich fuhr er um zwanzig nach sechs durch das große Tor auf den Hof von Lynskey-Manor.

Diesmal öffnete auf sein Klingeln wider Erwarten nicht Howards Sekretär Michael Doherty sondern Meggan Lynskey.

Für einen Augenblick war Victor verstört und verwirrt, hatte er doch den undurchsichtigen Privatsekretär erwartet. Doch Victor Vaughan hatte sich für ihn selbst überraschend schnell wieder unter Kontrolle. Eine leichte Röte im Gesicht konnte er jedoch nicht vermeiden.

„Hallo, Mr. Vaughan, schön Sie zu sehen“, begrüßte ihn Meggan an der Tür.

„Guten Abend, Ms. Lynskey. Die Freude ist ganz auf meiner Seite.“

„Ach bitte, nennen Sie mich doch Meggan, bei Ms. Lynskey denke ich immer, dass ich gar nicht gemeint bin. Das klingt so anachronistisch, so als sei ich eine vergessene Jungfer aus dem tiefsten Mittelalter. Und ich hoffe nicht, dass ich einen so gearteten Eindruck auf Sie mache.“

„Aber nein! Also abgemacht, aber nur, wenn Sie mich Victor nennen. Entschuldigung, wenn du mich Victor nennst. Ich denke, wir werden uns in der nächsten Zeit eh etwas häufiger sehen, und da macht es die Kommunikation wesentlich einfacher, wenn alles nicht so förmlich verläuft.“

„Okay, dann wäre das besiegelt. Sehr schön“, erwiderte Meggan. „Gehen wir doch hinein. Ich habe Tee aufgesetzt. Ich hoffe, du magst schwarzen Tee. Ich hätte auch noch Blueberry-Muffins.“

„Das ist sehr freundlich. Zu einer Tasse Tee sage ich nicht nein.“

Den Weg zur Bibliothek kannte Victor nun ja bereits. Trotzdem fielen ihm viele kleine Einrichtungsdetails ins Auge, die ihm am Vorabend nicht aufgefallen waren. Alles war sehr geschmackvoll arrangiert, obwohl die einzelnen Exponate aus aller Herren Länder zusammengestellt worden waren. Trotzdem bildeten sie irgendwie eine Einheit, als wenn sie nur darauf gewartet hätten, dass Irgendjemand sie fand und zu einem großen passenden Arrangement in diesem Gebäude vereinte.

Meggan öffnete die große Doppeltür zur Bibliothek, in der die beiden bereits das Flammenspiel des offenen Feuers erwartete. Die Türen waren so schwer, dass Meggan Mühe hatte, diese komplett zu öffnen. Auf dem Tisch standen zwei Tee-Gedecke und eine antike Porzellanschale, in der die Muffins angerichtet waren. Meggan goss Tee in Victors Tasse und füllte in ihre ebenfalls frischen Tee nach. Victor Vaughan nahm den offenbar für ihn reservierten Platz ein, der sich wie schon am Vorabend direkt gegenüber dem von Meggan befand.

Der Anlageberater stellte seine Aktentasche neben sich auf die schwere Ledercouch, kramte die Unterlagen heraus und legte die umfangreichen Dokumente auf den schweren Eichentisch.

„Ich habe alles soweit vorbereitet, wie wir es gestern Abend besprochen haben. Oder hat sich im Nachhinein noch etwas geändert. Ich denke, du wirst die Ergebnisse gestern noch einmal mit deinem Vater durchgesprochen haben.“

„Nein, das haben wir nicht. Das war unseres Erachtens auch nicht notwendig. Deine Vorschläge hörten sich alle sehr schlüssig und überzeugend an. Besonders gefällt mir der Mix aus den vorgeschlagenen Anlagevarianten. Somit ist einerseits eine relativ gute Rendite gewährleistet, andererseits sind eine liquide und eine spekulative Komponente enthalten. Und daran gefällt mir wiederum besonders, dass ich dabei flexibel bin und auf die Veränderungen des Marktes reagieren kann. Aber dafür benötige ich deine Hilfe, die du ja gestern bereits angeboten hast.“

„Ich sehe, du hast alles verstanden. Das beruhigt mich und gibt mir die Gewissheit, dass ich offensichtlich alles verständlich rüber gebracht habe.“

„Doch, das war alles sehr verständlich, plausibel und nachvollziehbar. Danke nochmals dafür, Victor.“

„Das habe ich gern gemacht. Ich liebe es, Beratungsgespräche dieser Art zu führen, bei denen man ein wenig kreativ sein kann. Aber weißt Du, manchmal ist es nicht ganz einfach, den Kunden alles verständlich zu erklären. Schließlich biete ich äußerst abstrakte Dinge an: Festverzinsliche Wertpapiere, Aktien, unterschiedlichste Fonds, Termingelder, Tagesgelder und so weiter. Mein Problem ist dabei, ich kann dem Kunden nichts zeigen. Ich habe nur meine Worte. Wäre ich Verkäufer in einer Boutique, könnte ich dem Kunden die angebotene Ware zeigen. Willst du den grünen oder den roten Pullover? Welcher gefällt dir besser? Und der Kunde würde sagen, dass ihm der rote Pullover besser gefällt. Schließlich ist der Mensch ein Augentier. Was er sieht, kann er sich vorstellen. Aber wie gesagt, ich habe da nur meine Worte, mit denen ich verkaufe.“

„So habe ich das noch nie gesehen. Aber du hast Recht. Ich habe mal gehört, dass der Mensch von einem Vortrag, den er ausschließlich hört, nur etwa zehn Prozent des Inhaltes behält. Wenn der Vortag aber gleichzeitig optisch unterstützt wird, behält der gleiche Mensch bis zu sechzig Prozent des Erzählten und Gesehenen. Das ist schon erstaunlich.“

„Ja, und deshalb wird heute fast jeder Vortrag, ob in der Universität oder im Berufsalltag bei Fortbildungsmaßnahmen oder dergleichen von einer Powerpoint-Story begleitet. Das gibt dem Auditorium die optische Unterstützung und bietet dem Vortragenden den roten Faden seines Referats.“

„Das kann ich bestätigen. Zu meiner Studienzeit in Dublin benutzte die Mehrzahl der Professoren auch diese Hilfsmittel. Ich fand das sehr gut, denn dann waren sie gezwungen, einigermaßen strukturiert durch die Themen zu gehen und nicht soweit abzuschweifen. Ich fand nämlich immer sehr ätzend, wenn die Profs ins Schwafeln gerieten und nach einer halben Stunde nicht mehr so recht wussten, wo sie hergekommen waren, und was überhaupt das Thema ihres Vortrages war.“

„Was hast Du studiert, Meggan?“

„Medizin, aber nur bis zum siebten Semester.“

„Und wo?“

„Am Trinity College in Dublin.”

“Und warum nur sieben Semester, wenn ich fragen darf? Ich möchte allerdings nicht unhöflich oder neugierig wirken.”

„Nein, nein, das ist schon OK. Wenn ich etwas nicht beantworten möchte, sage ich dir das schon. Es war so, dass zu der Zeit meine Mutter ganz plötzlich gestorben ist. Sie war an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, der zu spät erkannt worden war. Wobei es bei der Krebsart wohl ohnehin kaum bis keine Heilungschancen gibt. Ich konnte zu der Zeit meinen Vater nicht allein lassen. Er und meine Mutter haben ihr ganzes Leben sehr aneinander gehangen. Sie waren eigentlich immer zusammen, sind alles gemeinsam angegangen und haben alles in trauter Zweisamkeit aufgebaut. Und das, obwohl es für beide nicht immer einfach war, da mein Vater häufig im Ausland beschäftigt war. Aber vielleicht hat das ihr Leben auch interessant weil abwechslungsreich gemacht, und sie haben sich deswegen so prächtig verstanden. Jedenfalls hat mein Vater sehr unter dem Tod meiner Mutter gelitten. Da war es für mich eine Selbstverständlichkeit, ihm in dieser schweren Zeit beizustehen und zu unterstützen, wo ich nur konnte. Allerdings hatte ich immer vor, das Studium wieder aufzunehmen, sobald es sein Zustand erlaubt hätte.“

„Das verstehe ich gut. Wie lange ist das nun her?“

„Eigentlich wollte ich nur ein Semester aussetzen, um nicht zuviel Zeit zu verlieren. Die Pause ist aber dann doch länger geworden. Tatsache ist, dass auch ich eine Auszeit benötigt habe. Ich rede nicht gern darüber. Aber egal, vielleicht tut es mir ganz gut, mit jemandem Neutralen darüber zu sprechen. In Dublin hatte ich eine feste Beziehung zu einem Kommilitonen. Der studierte ebenfalls Medizin, war aber schon einige Semester weiter als ich. Wir hatten zwar keine gemeinsame Wohnung, er wohnte im Studentenwohnheim und ich hatte eine kleine stadtnahe Mietwohnung, die mir mein Vater besorgt hatte. Ja, was soll ich sagen, diese Beziehung hat sich offensichtlich nur einseitig als fest heraus gestellt. Sobald seine Abschlussklausuren anstanden, beendete er die Beziehung ohne großartig Gründe zu nennen. Nur dass er nun seine Zeit für die Examina benötige. Das war` s. Seitdem haben wir kein Wort mehr miteinander gesprochen, Ich weiß nicht einmal, was aus ihm geworden ist.“

„Das tut mit leid. Jetzt kann ich verstehen, dass du auch für dich die Auszeit gebraucht hast. Ich hatte bisher keine Beziehung zu einer Frau. Ich lebe allein mit meiner Mutter in einem bescheidenen Haus in der Nähe von Doochary. Das liegt zwischen Fintown und Dungloe. Doochary ist ein beschauliches Dörfchen am Gweebarra River. Schön anzuschauen vielleicht, bietet aber wenig Abwechslung. Außerdem mache ich mir nicht viel aus Pubs und Festivals. Überdies hat uns mein Vater bereits vor Jahren verlassen, so dass ich für meine Mutter und mich aufkomme. Nicht, dass du das falsch verstehst, das macht mir nichts aus. Im Gegenteil, ich habe meiner Mutter viel zu verdanken, eigentlich alles. Sie hat hartnäckig dafür gesorgt, dass ich in der Schule und auch während der Ausbildung mit Fleiß und Ausdauer meine Ziele erreiche. Von daher kann ich ihr nur dankbar sein, dass ich heute der erste Berater der Bank of Ireland in Letterkenny bin. Aber die Gelegenheit für eine Beziehung hat sich für mich nie ergeben.“

„Das kann ich ja kaum glauben. Aber ich bin mir sicher, dass du irgendwann schon die Richtige finden wirst. Und du wirst sie erkennen, sobald du sie siehst. Dann macht es Klick und alles ist anders als jemals zuvor. Sekunden werden dann zu Stunden und Minuten zu Tagen. Ja, Zeit kann grausam sein, Zeit heilt aber auch Wunden, wie man sagt.“

„Das hast du schön formuliert. Ich bin mir auch fast sicher, dass ich die richtige Partnerin bald finden werde. Nur fehlte mir halt die Erfahrung, dann alles richtig zu machen.“

„Am besten ist, du bist dann wie du bist. Das Schlimmste wäre, sich in einer neuen Beziehung zu verstellen. Dann würde ja der Andere einen vollkommen falschen Menschen kennen lernen. Ein Wesen, das du gar nicht wärst. Und irgendwann käme dann dieser richtige Mensch zum Vorschein. Das wiederum könnte ganz plötzlich in einer Katastrophe enden. Und dann gäbe es Wunden, keine körperlichen, sondern seelische, und die heilen verflucht langsam. Man sagt, dass der Mensch die gleiche Zeit für die Überwindung der seelischen Schmerzen einer Trennung benötigt, wie die Beziehung selbst gedauert hat. Na ja, das kommt sicher darauf an, wie viel Gefühle beim Scheitern einer solchen Beziehung noch vorhanden sind. Aber worüber reden wir eigentlich hier? Du hast sicher nicht ewig Zeit und willst den geschäftlichen Kram hinter dich bringen.“

„Auf keinen Fall, Meggan. Ich habe noch nie so ein anregendes Gespräch geführt. Eigentlich habe ich noch nie ein so privates Gespräch geführt. Wenn ich mit meiner Mutter rede, ist das immer über allgemeine Themen oder religiöse Dinge.“

„So, dann bist du also sehr religiös?“

„Ja, eigentlich schon. Ich kenne es auch gar nicht anders. Seit ich denken kann, gehe ich mit meiner Mutter Sonntag für Sonntag zur Kirche. Ich bin getauft, gefirmt und insofern Mitglied in der katholischen Gemeinschaft. Wir sitzen jeden Sonntag in der katholischen Kirche von Doochary auf den gleichen Plätzen. Alles läuft sehr geregelt ab, es passiert nichts Unvorhergesehenes. Ich wohne sozusagen immer noch behütet und beschützt in Mutters Schoß.“

„Das muss ja nicht unbedingt nur negativ sein, Victor. So sind dir vielleicht einige Enttäuschungen erspart geblieben. Ich hätte beispielsweise gut und gern auf meine Erfahrung in Dublin verzichten können. Das hat mir erst einmal das Vertrauen in eine Beziehung zerstört. Man wird nicht gern verletzt, schon gar nicht auf diese intensive Art und Weise. Die Wunden der Seele heilen vielleicht, sie lassen aber unauslöschbare Narben zurück. Und diese Narben sind wie Markierungen in der Schleuder eines jungen Jägers. Immer wenn er damit ein Tier erlegt hat, kommt eine Kerbe hinzu, die ihn daran erinnert. Niemals wird er je den Abschuss eines Tieres vergessen. Genauso erinnern dich die Narben auf deiner Seele an den schmerzlichen Exitus einer, ja sagen wir ruhig Liebesbeziehung. Und je mehr Kerben der Jäger in den Griff seiner Schleuder einritzt, umso instabiler wird seine Waffe, bis sie irgendwann bricht, wenn er die Gummibänder spannt. Genauso wird eines Tages die Seele brechen, wenn sie zuviel Narben erhalten hat. Und ein Mensch mit einer zerbrochenen Seele ist leer und tot. Er ist kein Mensch mehr. Alles, was einen Menschen ausmacht, ist dann nicht mehr vorhanden. Es existiert nur noch die physikalische Hülle, aber ohne Inhalt. Er kann nichts mehr geben, weil er nichts mehr zu geben hat. Man hat ihm ja bereits alles genommen.“

„Das hört sich ja sehr deprimierend an. Ich hoffe, nicht jede Beziehung endet in einem solchen Gefühlschaos. Ich jedenfalls stelle mir vor, meinem Partner niemals wehtun zu wollen. Das wäre doch auch kontraproduktiv und gegen alle Vernunft. Schließlich gibt es genug Probleme auf der Welt zu lösen, ohne dass man in der eigenen privaten Beziehung noch Krieg führen müsste. Außerdem bin ich eher harmoniebedürftig als dass ich aggressiv wäre. Ich wüsste nicht, wie ich mit einer solchen Enttäuschung, wie du sie erlebt hast, umgehen würde. Wie ich damit fertig werden würde und wie ich darauf reagieren würde.“

„Danach fragt leider kein Mensch. Und kein Mensch der Welt kann dir in einer solchen Situation helfen. Die höchste Anteilnahme und Fürsprache und alle Erklärungsversuche deiner Freunde helfen dir kein bisschen weiter. Im Gegenteil, mit jedem neuen Anlauf einer Betrachtung der gescheiterten Beziehung findest du neue Erklärungsansätze. Neue Fehlerquellen, neue Anschuldigungen, neue Eigenvorwürfe bis hin zur Selbstzerfleischung. Und das Schlimmste ist, du kannst das Geschehene nicht rückgängig machen. Und dann steigt eine Ohmacht in dir auf, die dich aushöhlt und deinen Körper von innen zersetzt wie Salzsäure ein Stück totes Fleisch. Kein gesprochenes Wort, keine getane Handlung lässt sich revidieren. Aus Liebe wird dann ganz schnell Hass, dazwischen ist nur ein schmaler Grat, wie ein Tanz auf dem Vulkan. Und das Fatale ist, der Übergang ist schleichend. Zunächst bemerkst du die Veränderung, den Wandel kaum. Dann plötzlich wird dir bewusst, es gibt keinen Ausweg mehr, keinen Weg zurück. Es geht nie zurück. Dir ist klar: Nie kann es mehr werden, wie es einmal war. Da sind sie dann wieder, die Narben, die ewig bleiben und zu bleibenden Erinnerungsstücken werden für die abgeschossenen Pfeile, die deine Seele verwundet haben. Aber auch die Seele deines Partners. Denn irgendwann schießt auch der harmoniebesessenste Mensch zurück, und wenn es aus reinem Selbstschutz ist. Das ist ein lebenserhaltender Instinkt, der in jedem Menschen fest verankert ist. Hass ist der schlechteste Wegbegleiter in einer Beziehung. Dann ist der Weg zu Ende. Wenn du soweit gekommen bist, gibt es kein Zurück mehr. Ende, Finito, Nichts geht mehr, rien ne va plus, aus und vorbei. Was abgestorben ist, ist endgültig tot. So wie bei einem neu gepflanzten Baum. Wenn der abstirbt, kannst du soviel gießen wie du willst, er wird nie wieder Blätter tragen. Er verdörrt und bricht.“

„Aber soweit würde ich es doch niemals kommen lassen. Es kann doch nicht Ziel einer Beziehung sein, sich gegenseitig zu zerfleischen“, entgegnete ein verstörter Victor Vaughan.

„Das plant auch keiner von Anfang an. Das ergibt sich manchmal von allein. Die größte Katastrophe ist es, wenn eine Liebe einseitig ist. Der nicht liebende Partner leidet ja nicht unter dem, was er dem Anderen antut. Ihm tun die Beleidigungen und Unterdrückungen auch nicht weh. Aber der andere Teil geht daran zugrunde. Er hofft doch insgeheim immer noch darauf, dass sich etwas ändert. Er hofft, dass allein seine tiefe Liebe alles wieder ins Lot bringen kann. Dabei gibt er sich nur selbst auf. Am Ende verliert derjenige, der liebt und nicht derjenige, der den Partner nicht liebt.“

„Das hört sich unfair an, ja grausam.“

„Das ist grausam. Grausamer als alle körperlichen Schmerzen, die man sich vorstellen kann. Und wie gesagt, diese Wunden heilen nie wieder. Und wenn sie heilen, dann ganz langsam. Und wie gesagt, die Narben bleiben immer zurück. Aber ich möchte dich nicht verschrecken, Victor. Und ich möchte mich auch nicht so altklug anhören, als ob ich das alles schon mehrfach erlebt hätte. Aber glaube mir, eine Erfahrung dieser selbstzerstörenden Art reicht aus, um Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen. Man kann nie sicher sein, ob eine Beziehung hält. Da gibt es einfach zu viele Einflussfaktoren, innere wie äußere. Die Frage ist ja nicht so sehr, ob eine Beziehung zerbricht, sondern wie sie zerbricht. Menschen, die hassen, sind grausam. Und dieser Hass ist anschließend der Auslöser, dass sich Menschen, deren Beziehung gescheitert ist, zerfleischen. Man darf sich gegenseitig nicht verletzen, das ist wichtig. Ich kenne aber auch den anderen Fall am Beispiel meiner Eltern, die eine vorbildliche Beziehung vorgelebt haben. Daher weiß ich, dass gegenseitiger Respekt und Ehrlichkeit die Basis für eine über Jahre funktionierende Partnerschaft sein können.“

„Welche Ansprüche würdest du denn an deinen künftigen Partner stellen?“

„Keine besonderen. Ich erwarte nicht den Prinzen, der mich aus dem Dornröschenschlaf erweckt und ein Leben lang in Zuckerwatte einhüllt. Ganz im Gegenteil. Vertrauen ist wichtig. Ich muss meinem Partner vertrauen können. In allen Situationen des Lebens. Und wie ich vorhin schon sagte, Respekt und Ehrlichkeit. Wie hieß es doch in dem Film Lovestory: Liebe heißt, niemals um Verzeihung bitten zu müssen. Das klingt abgedroschen, trifft aber durchaus den wahren Kern.“

„Das hört sich alles kompliziert an. Ist eine Beziehung wirklich so schwierig?“, wollte Victor wissen.

„Eine funktionierende oder gar glückliche Beziehung ist, glaube ich, die komplizierteste und komplexeste Herausforderung des Lebens überhaupt, da es ständig Streufeuer abzuwehren gilt, die von allen Seiten auf das gemeinsame Schiff abgegeben werden. Und am gefährlichsten sind die selbst abgefeuerten Kanonenkugeln. Meistens gehen diese Schüsse nach hinten los, sprich, dann feuern die Kanonen in das eigene Schiff hinein. Das sind die sichersten Treffer, um ein Schiff zum Sinken zu bringen. Irgendwann ist der Zeitpunkt erreicht, dass man weder den gegenseitigen Respekt aufrechterhalten hat noch ehrlich miteinander umgeht. Man lebt nur noch in einer Wolke aus Halbwahrheiten, Ausflüchten, Irreführungen, Lügen und Unwahrheiten, die zu Zweifeln führen. Wie sagte Schiller schon so treffend: Der Zweifel ist ein übler Wurm. Und Würmer breiten sich rasend schnell aus, wie eine Epidemie, ein neuer Virus, für den es noch keinen Impfstoff gibt. Und das mit einer Geschwindigkeit wie die berühmten Körner auf dem Schachbrett, die sich pro Feld jeweils potenzieren.“

„Ist das nicht alles sehr philosophisch und abstrakt dargestellt?“

„Vielleicht hast du Recht. Außerdem sind wir, oder besser gesagt bin ich, weit von unserem eigentlichen Thema abgeschweift. Entschuldigung, Victor. Das war nicht meine Absicht.“

„Nein, nein. Das war sehr interessant, Meggan. Ich höre dir gern zu. Auch wenn es ein eher trauriges Thema war. Oder besser gesagt, ein Thema, bei dem in diesem Fall alles traurig oder besser ausgedrückt verheerend geendet hat. Aber ich bin mir sicher, unter anderen Vorzeichen oder besseren Umständen könnte man das gleiche Thema vollkommen diametral darstellen. Man soll ja bekanntlich die Hoffnung niemals aufgeben. Ich will damit nicht sagen, man soll seine Beziehungen so oft wechseln, bis man glaubt, die Richtige oder den Richtigen gefunden zu haben. Wie bei einer Speise, die man das erste Mal versucht zu kochen und dabei solange probiert und immer wieder neue Gewürze hinzufügt, bis sie einem schmeckt. Man muss aber auch an dem Gelingen einer Beziehung arbeiten und zwar täglich, stündlich, minütlich. Nichts ist unzweifelhaft und nichts bleibt selbstverständlich. Alles will erarbeitet sein. Glück ist kein Dauerauftrag, der monatlich ausgeführt wird und verlässlich immer zum gleichen Termin zur Verfügung gestellt wird. Für sein Glück muss man kämpfen. Nichts kommt von allein. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Ich für meinen Teil würde in einer Beziehung alles tun, damit sie langfristig harmonisch und respektvoll, ja glücklich verläuft.“

„Das glaube ich dir aufs Wort, Victor. So, wie ich dich in der kurzen Zeit kennengelernt habe. Aber es sind immer zwei Menschen, um die es geht. Und das passt manchmal nicht zusammen. Zwei Individuen, die sich jahrelang nur um sich allein kümmern mussten. Es gab keine Angelegenheit, die mit einem weiteren Menschen hätte abgesprochen werden müssen oder in der man sich hätte einigen müssen. Es gab keine Gegenargumente, nur der eigene Wille zählte. Und von dieser Freiheit musst du jetzt etwas aufgeben. Das ist für manche Menschen nicht einfach, für einige sogar unmöglich. Dabei bedenken diese Menschen nicht, dass sie ein Vielfaches an anderen Werten hinzu gewinnen. Nichts auf der Welt macht mehr Spaß, als es mit einem Partner zu teilen. Geteilte Freude heißt doppelte Freude – geteiltes Leid ist halbes Leid. Dieses Sprichwort stimmt immer noch und wird auch ewig gelten. Aber wir leben einfach in einer materialistischen Welt. Alles wird in Dollar, Euro oder Pfund umgerechnet. Dabei kann man die Dinge, die am wichtigsten sind, nicht für Geld kaufen. Das wissen am besten die Multimillionäre dieser Welt. Und die beweisen die Wahrheit dieser These tagtäglich. Die Zeitungen dieser Welt stehen voll davon.“

„Das sehe ich auch so. Aber wie sagt man doch so schön: Geld macht nicht glücklich, aber beruhigt. Ideal wäre, wenn man beides hätte. Auch solche Beispiele soll es geben. Man kann doch Visionen haben, das ist ja nicht verboten. Obwohl ein gewisser Helmut Schmidt, der meines Wissens mal deutscher Bundeskanzler war, behauptet haben soll, wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen. Aber das war sicher eher sarkastisch gemeint. Und Sarkasmus passt ja nun absolut nicht zu unserem aktuellen Gesprächsthema.“

„Nein, aber da wir gerade bei dem Thema Geld sind: Sollten wir vielleicht doch zunächst die geschäftlichen Aufgaben erledigen?“

„Ja, du hast Recht. Ich habe alles unterschriftsreif vorbereitet. Du kannst es gleich unterzeichnen, wenn du möchtest. Ich kann dir aber auch alles dalassen, damit du es mit deinem Vater noch einmal durchsehen kannst.“

„Das wäre mir ganz lieb. Schließlich hat er das Geld verdient, um das es hier geht. Er kommt heute Abend erst spät zurück. Aber morgen werde ich sicher im Laufe des Tages mit ihm sprechen können. Kann ich dich in der Bank anrufen, wenn alles geklärt ist?“

„Selbstverständlich, ich würde mich freuen. Hier, ich gebe dir meine Visitenkarte. Darauf stehen sowohl meine Durchwahlnummer als auch meine Handynummer und meine Email-Adresse. So kannst du mich jederzeit erreichen. Übrigens auch, wenn du mal keine dienstliche Frage hast.“

„Das ist ein charmantes Angebot. Da werde ich bestimmt mal drauf zurückkommen. Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr gelangweilt und deine Zeit über Gebühr in Anspruch genommen. Ich jedenfalls habe unser Gespräch sehr genossen. Ich liebe es, über Gott und die Welt zu philosophieren.“

„Ich habe es auch sehr genossen. Noch nie habe ich mit einem anderen Menschen über ein solches Thema diskutiert. Im Gegenteil, ich habe noch niemals mit einem anderen Menschen als meiner Mutter überhaupt solange diskutiert. Das heißt, mit meiner Mutter hat es noch nie eine Diskussion gegeben. Denn zu einer Diskussion gehört ja ein Meinungsaustausch, dabei stand ihre Meinung im Vorfeld immer schon als unumstößlich fest. Wie die Unwiderlegbarkeit des katholischen Glaubens. Amen, so sei es.“

„Sei nicht so hart in der Beurteilung deiner Mutter. Sie hat es bestimmt immer nur gut mit dir gemeint.“

„Dessen bin ich mir sicher. Nur ihre Methoden sind manchmal nicht einfach zu verstehen. Und manchmal nimmt sie mir einfach die Luft zum Atmen. Aber ich will mich nicht beklagen. Nachdem mein Vater uns verlassen hat, hat sie es nicht immer einfach gehabt. Gerade in einem kleinen Dorf, in dem jeder jeden kennt, ist es für eine alleinstehende Mutter nicht einfach, mit allen Menschen klarzukommen. Das ist unter normalen Umständen schon nicht einfach.“

„Das kann ich nachvollziehen. Sorry Victor, es ist doch recht spät geworden. Ich danke dir noch einmal recht herzlich und melde mich im Laufe des morgigen Tages.“

„Darauf freue ich mich.“

Victor wurde von Meggan noch bis zur Haustür begleitet. Er setzte sich in seinen VW Golf und winkte ihr noch kurz zu, bevor er über den knirschenden Kies durch das Einfahrtstor der Hauptstraße zusteuerte.

In Letterkenny steuerte er zunächst auf den großen Parkplatz vor McDonalds zu. Nicht dass er noch Hunger verspürte, ganz im Gegenteil. Aber er war einfach zu aufgewühlt und zu zerstreut, um gleich weiter nach Haus fahren zu können. Er stieg aus dem Wagen, überquerte die Haupt-Verkehrsstraße und ging die nächste Querstrasse links hinauf zur Main Street. Diese schlug er rechts ein und bummelte sie einmal bis zum Gerichtsgebäude entlang. Dann überquerte er die Strasse und ging auf der entgegengesetzten Seite den gleichen Weg wieder zurück. Er setzte sich noch kurz in seinen Wagen und dachte über das Gespräch nach.

Und dann kam es wieder: Meggan, Meggan…

Nachdem er sich einigermaßen gefangen hatte, startete er seinen Golf und fuhr heimwärts.

Es folgte wiederum eine schlaflose Nacht: Meggan, Meggan…

Aber eigentlich wollte er auch gar nicht einschlafen. Zu schön waren die Erinnerungen an den bisher glücklichsten Tag seines Lebens.

Einerseits ärgerte er sich im Hinblick auf den nächsten Tag, anderseits, und das überwog dieses Gefühl bei weitem, spielten seine Emotionen verrückt. Ein warmes Gefühl umhüllte ihn, wie er es noch niemals zuvor erlebt hatte. Warm aber innerlich aufgewühlt. Victors Gefühle wurden wie im Schleudergang durcheinandergewirbelt.

Damit musste er erst einmal klarkommen.

Damit hatte er keine Erfahrungen.

Das war Neuland für ihn.

Victor Vaughan wurde auf große Entdeckungsfahrt geschickt, ohne ihm eine Seekarte dafür gegeben zu haben. Ohne Orientierungsbojen und Rettungsanker im unendlichen, rauen Ozean ihm unbekannter Gefühle.

Gerädert, aber trotzdem voller Elan wachte Victor am nächsten Morgen auf. Seine Mutter hatte ihm bereits das Frühstück auf dem Tisch serviert. Als ob sie etwas geahnt hätte, hatte sie ihm heute ausnahmsweise das Full Irish Breakfast zubereitet. Normalerweise bevorzugte Barbara Vaughan das konventionelle Frühstück bestehend aus Toastbrot, Soda-Brot, Schinken, Käse, Konfitüre, dazu viel Tee. Aber sie hatte gemerkt, dass Victor in den letzten Tagen körperlich arg ramponiert aussah. Sie registrierte auch, dass er nun schon einige Tage bis spät in die Abendstunden für seine Bank unterwegs gewesen war und er seine Verpflegung daher doch sehr vernachlässigt hatte. Deshalb hatte sie ihm heute Morgen das kalorienreiche irische Frühstück zubereitet. Auf seinem Teller fand Victor zwei Scheiben gebratenen Baconschinken mit zwei Spiegeleiern vor, dazu zwei schwarze und zwei weiße Puddings (Beutelwurst) eingerahmt von hellen Bohnen in einer süßen Tomatencremesauce. Zwei kleine Bratwürstchen, geröstete Pilze und geschmorte Tomaten komplettierten das üppige und fettreiche Mahl. Dazu gab es einige Scheiben Toastbrot mit Butter und Orangenmarmelade und eine Kanne Tee.

Nach diesem Frühstück fühlte sich Victor stark genug für den Tag. Durch den unerwarteten Kalorienschub war alle Müdigkeit wie weggeblasen.

Er fuhr rechtzeitig von zu Hause fort, um sich auf der Fahrt nicht so beeilen zu müssen. Er wollte noch einige Momente allein sein, um sich das Gespräch des gestrigen Abends noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen. Seine Vorstellung war, dieses wunderbare Gespräch noch einmal gedanklich mit Meggan zu führen, noch einmal jeden Augenblick des gestrigen Abends Revue passieren zu lassen und zu genießen.

Dazu hielt er auf der Anhöhe, von der aus man den fantastischen Blick auf Lough Veagh hatte, an und stieg aus. Er ging einige Meter auf dem von den hohen Bergen der Derryveagh Mountains umgebenen Wanderweg Richtung See und Schloss. Als er das Plätschern des großen Wasserfalls zu seiner Linken hörte, erschrak er und machte schnurstracks kehrt. Fast hätte er die Zeit vergessen, so vertieft war er in die Ereignisse des gestrigen Abends versunken.

Wie gern hätte er sich noch weiter diesen Gedanken hingegeben. Einfach schwelgen in den Erinnerungen an das schönste Gespräch, das er je geführt hatte, ja, den schönsten Abend, an den er sich erinnern konnte. Nie hatte das Leben mehr Sinn gemacht, als gestern. Nie hatte ihn jemand so ernst genommen wie gestern. Nie hatte er so ein ernsthaftes Gespräch geführt wie gestern. Nie hatte er einen Abend mit einem wichtigerem Menschen verbracht. Nie hatte er eine begehrenswertere Frau gesehen. Auch konnte er sich nicht vorstellen, dass es eine solche auf der ganzen Welt noch einmal geben könnte.

Er hatte bisher zwar keinerlei Erfahrungen gesammelt. Aber dessen war er sich absolut sicher.

Auf alle banalen Gegebenheiten hat meine Mutter mich vorbereitet, warum nur nicht auf diese, dachte Victor?

Doch je mehr er darüber nachdachte, umso weniger fand er eine Erklärung.

Sollte das Versäumnis seiner Mutter etwa einen ihm nicht bekannten Grund haben?

Die Rache der Wölfe

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