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Kapitel II.4 Jugend

Victors Vater Paddy Vaughan hatte seine Familie schon sehr früh verlassen. Dessen Eltern hatten ihn seinerzeit nach dem heiligen St. Patrick, der Irland im 5. Jahrhundert gegen den erbitterten Widerstand der herrschenden keltischen Druiden und sonstigen heidnischen Priester christianisiert hatte, benannt. Und Paddy oder Pad waren allgemein übliche Kürzel für Patrick. Wenn man sich in einem Trubel von Männern befand, zum Beispiel bei einem Footballmatch, konnte man den Eindruck gewinnen, als wäre jeder zweite irische Mann nach dem heiligen St. Patrick benannt worden.

Paddy Vaughan war ein Allround-Künstler, ein echtes Schlitzohr, ein Handyman, einer, der von allem Handwerklichen etwas verstand und um keine Antwort verlegen war. Wenn er in Diskussionen verstrickt war, kam er selten in die Verlegenheit, keine Auskunft geben zu können, so als würde er wöchentlich den berühmten Stein am Blarney-Castle küssen. Diese Zeremonie sollte dem Ausführenden ja bekanntlich ewige Redseligkeit bescheren.

Paddy war nur mittelgroß, ein kleines Kraftpaket, dessen Muskeln sich von seiner Arbeit im Laufe der Jahre gestählt hatten. Um sein Äußerliches machte er sich jedoch wenig Gedanken. Im Gegenteil, er machte eigentlich immer einen verhältnismäßig ungepflegten Eindruck.

Paddy Vaughan war Mitarbeiter einer Firma, die überwiegend Wasserfilter vertrieb und einbaute. Das war ein lukratives Geschäft im Westen Irlands. Da der Boden hier fast überall aus dicken Torfschichten bestand, konnte man das Brauchwasser in den Häusern eher als braune Sauce denn als Trinkwasser bezeichnen. Nicht, dass die Wasserzusätze gesundheitsschädigend gewesen wären, das hatten viele Hauseigentümer im eigenen Interesse schon in Laboren testen lassen, das nicht. Nein, aber wer trank schon gern ein Glas Wasser, das aussah, wie abgestandene Pisse.

Paddys Firma bot ihren Kunden aber auch alle anderen Arbeiten, die in und an einem Haus so anfallen konnten, an. Dazu gehörten beispielsweise Rasenmähen, das Schneiden der Hecken, eigentlich die kompletten Gartenarbeiten. Aber auch das Freilegen bei Rohrverstopfungen, das Abdichten von Dachöffnungen bis hin zu kleinen Maurer- und Schreinerarbeiten. Damit hatte seine Firma eine echte Marktlücke erwischt. Kein Kunde brauchte sich im Vorfeld Gedanken machen, welchen Handwerker er bei einem bestimmten Problem ordern musste. Seine Firma bot grundsätzlich alles an.

Und so wurde ihr Geschäftsgebiet auf Grund der enormen Nachfrage immer größer. Zunächst kam er von seinen Arbeitseinsätzen ein, zwei Nächte nicht mehr nach Hause. Es dauerte jedoch nicht lange, bis dass er die ganze Woche im Westen Irlands unterwegs war.

Und dann kam er eines Tages auch zum Wochenende nicht mehr.

Und das kam so:

Paddy Vaughan hatte einen Auftrag in Killybegs übertragen bekommen, der länger als sonst üblich dauerte. Killybegs war der größte Fischereihafen an der Nordwestküste Irlands.

Normalerweise bestanden seine Jobs aus kleineren Aufgaben, die er innerhalb eines oder zweier Tage erledigen konnte. Über Mail erhielt er dann schon die Folgeaufträge aus dem Office seiner Firma. Diesmal war es anders. Er hatte den Auftrag, in Killybegs ein komplettes Dach zu renovieren. Dazu zählten die Abbrucharbeiten des alten Daches, Abbau der alten, vermoderten Balken, der Neuaufbau der Balken, die Neuverlattung, die Isolierung, die Neuabdichtung und das Eindecken mit neuen Schieferplatten, den robusten Bangor-Slates, eine in dieser Gegend Irlands übliche Dachbedeckung. Kaum noch wurden Häuser oder Cottages mit Reet gedeckt. Das hatte mehrere Gründe. Zunächst einmal gab es in ganz Irland kaum noch Reet, das abzubauen sich lohnte. Zu klein waren die Flächen, an denen es noch wuchs. Reet wurde schon seit Jahren aus Osteuropa, vorwiegend aus Polen nach Irland eingeführt. Das machte das Material sehr teuer, vor allem wegen der Transport- und späteren Lagerkosten. Auch gab es kaum noch Dachdecker, die die Kunst des Verarbeitens von Reet verstanden. Fand man sie, waren sie kaum bezahlbar. Darüber hinaus war das Eindecken sehr zeitaufwändig. Manche Haus-, vor allem Cottage-Besitzer gingen dazu über, nur die Vorderseite des Daches mit Reet einzudecken und den dem Betrachter abgewandten hinteren Teil mit Schieferschindeln zu belassen. Das machte optisch schon etwas her. Ein weiterer Grund für den rapiden Rückgang von Thatched Cottages war, dass es kaum noch Versicherungsgesellschaften gab, die die Versicherung von reetgedeckten Häusern anbot. Zu hoch war die Schadensquote und zu groß das Risiko bei Bränden. Trockene Reetdächer brannten wie Zunder und sorgten in kürzester Zeit für das komplette Abbrennen eines Cottage`. Demzufolge waren die Versicherungsprämien in fast unbezahlbare Höhen geklettert, die sich kaum noch ein Hausbesitzer leisten konnte.

Die Arbeiten an der Renovierung des Daches zogen sich für Paddy über einige Wochen hin, zumal er fast alle Tätigkeiten allein durchführen musste. Nur bei den Schwerstarbeiten bekam er sporadisch Unterstützung durch einen weiteren Mitarbeiter aus seiner Firma. Diese wechselten allerdings ständig, je nachdem, wer gerade in der Nähe war und Freiraum hatte. Die administrativen Dinge wurden allesamt im Headquarter seiner Firma mithilfe eines ausgeklügelten Personaleinsatzplanungsprogramms gesteuert.

Schlafen tat Paddy in einem billigen B&B in der Nähe seines Einsatzortes. Abends ging er meistens noch in die nahegelegene Harbour-Bar. Die Atmosphäre dort gefiel ihm. Die Harbour-Bar war der Treffpunkt der dort ansässigen Fischer. Killybegs war der größte Fischereihafen im Nordwesten Irlands. Die Fischer sprachen dieselbe Sprache wie er. Es waren raue Gesellen, die es mit der Wahrheit auch nicht immer so genau nahmen. Das war auch bei Paddy so. Nicht dass er ständig log, nein, er übertrieb nur meistens maßlos. So wie das manche Leute auch von Holländern behaupteten, wenn sie vor allem im Rudel mit Menschen anderer Nationalitäten zusammen waren. Wie sie in den Biesbossen bei Arnheim ein 14-tägiges Überlebenstraining ohne Nahrungsaufnahme und zivilisierte Unterstützung überstanden hatten oder mit hochtrabenden Worten als Falschschirmjäger mit Skiern die Zugspitze hinunter gesaust waren, waren dann nur einige Beispiele ihrer gedanklichen Kreativität.

Aber das Thema mit der Wahrheit wusste hier jeder von jedem. Und somit waren sie alle wieder auf dem gleichen Wahrheitslevel und interpretierten die Worte des anderen genau richtig. Wenn man die Länge und Menge der gefangenen Fische halbierte, kam man der Wahrheit schon ziemlich nahe. Im Gegenzug, wenn Paddy Vaughan stolz über seine Tagesleistung berichtete, konnten seine neuen Freunde recht gut das tatsächliche Ausmaß seiner getanen Arbeit einschätzen.

Paddy verdiente gutes Geld. Nicht dass er reich mit seiner Arbeit werden konnte, aber da er fast ausschließlich unterwegs war und auch an seinen Einsatzorten übernachten musste, sorgten die anfallenden Spesen für einen überdurchschnittlich guten Lohn bezogen auf andere Kollegen seiner Branche.

Aber er verbrauchte auch viel Geld. Vor allem für seine neue Lebensgefährtin.

Denn es dauerte nicht lange und er zog zu der Frau, die in der Harbour-Bar hinter dem Tresen stand.

„Wie in jedem neuen Geschäft muss man auch zunächst in neue Beziehungen investieren“, dachte er sich. Und das tat Paddy Vaughan mit vollen Händen. Diese außerordentlichen Zusatzaufwendungen wiederum waren der Grund dafür, dass er für seine Familie in Doochary kaum mehr etwas erübrigen konnte. Und so war es irgendwann wie mit seinen häuslichen Besuchen. So wie seine Besuche sich im Laufe der Zeit verringerten, kamen in gleicher Regelmäßigkeit auch weniger Schecks zuhause an. Bis irgendwann gar keine Schecks mehr kamen. Man konnte sich eben auf sein Tun, oder besser gesagt auf sein Nichtstun, verlassen. Sein Handeln war für seine Familie gewissermaßen planbar.

Auf Paddy Vaughan trafen eindeutig die drei wichtigsten Lügen, die der Volksmund für die Iren bereithielt, in ihrer ganzen Komplexität und fast wörtlich zu:

1 Ich bin morgen früh um 9.00 Uhr an der Baustelle.

2 Das war mein letztes Guinness für heute.

3 Der Scheck ist unterwegs.

Mit diesen drei Grundaussagen war der Charakter von Paddy Vaughan umfassend und treffend beschrieben.

Aber es störte Victor nicht, dass plötzlich die Schecks seines Vaters ausblieben. Er durfte seine Mutter und sich nun allein ernähren.

Seine Mutter hatte noch nicht das Alter erreicht, ab dem sie hätte staatliche Unterstützung oder Rentenansprüche geltend machen können. Das machte ihm aber nichts aus. Im Gegenteil, es erfüllte ihn sogar mit einem gewissen Grat an Stolz, jetzt der Familienernährer und damit das finanzielle Oberhaupt der Rumpffamilie zu sein. Nicht dass er die häuslichen Ausgaben steuerte oder gar überwachen konnte. Diese Aufgabe beanspruchte weiterhin seine Mutter. Aber es war sein Geld, das hier verbraucht wurde, nicht das seines Vaters. Diese Situation sorgte für eine noch wesentlich intensivere Bindung und Zusammenhalt mit seiner Mutter. Zu den Zeiten, als sein Vater noch für den Unterhalt der Familie sorgte, war meistens am Ende des Geldes noch viel Monat übrig. Das war jetzt anders. Alles lief jetzt geordneter. Seine Mutter hatte es in die Hand genommen, für einen geordneten finanziellen Haushalt zu sorgen.

Endlich konnte Victor seiner Mutter etwas zurückgeben, da er doch alles von ihr bekommen hatte. Zumindest sah er das so. Dass seine Mutter ihn aber für sich vereinnahmte, das war ihm nie so bewusst geworden. Und dass er während seiner Schulzeit keine oder fast keine Freunde hatte, war ihm auch nie so recht bewusst geworden. Dass man ihn fast als vereinsamt hätte bezeichnen können, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Hatte er ein Problem, war seine Mutter da. Wollte er mit jemanden reden, war seine Mutter da. Brauchte er Nachhilfe bei den Hausaufgaben, seine Mutter war da. Brauchte er einen Ratschlag, seine Mutter half ihm.

So war es auch zu erklären, dass beide, Victor seinem Erzeuger und seine Mutter Barbara und ihrem Mann Paddy Vaughan mit keiner Träne nachtrauerten. Er kannte seinen Vater ja auch kaum. Seine kurzen Wochenendbesuche sorgten lediglich dafür, ihn als kurzfristigen Besucher zu sehen, der eigentlich eher ihren stringent geregelten normalen Tagesablauf durcheinander brachte.

Seine Mutter ging immer mehr in ihrer Rolle auf, für Victor da zu sein, ja ihn immer noch zu erziehen. Außer seinen Stunden in der Bank waren er und seine Mutter den kompletten Rest des Tages zusammen. Sie erzog ihn nach den konservativen Regeln, basierend auf Gehorsam und Achtung vor dem Alter. Barbara Vaughan legte besonderen Wert auf Zuvorkommenheit, Bescheidenheit, Freundlichkeit, Ehrlichkeit, Fleiß, körperliche Reinheit und Hilfsbereitschaft. So kam es auch, dass Victor schon in seiner Kindheit und frühen Jugend bei seinen Lehrern und den Freundinnen seiner Mutter äußerst beliebt war.

Die fast ausschließliche Nähe zu seiner Mutter führte jedoch auch dazu, dass er kaum andere Kontakte pflegte. Er konnte sich nicht ausleben, hatte keine Möglichkeit, seine Grenzen zu erkennen und konnte damit keine eigene Persönlichkeit entwickeln. Er hatte keine Freunde, zumindest keine, die über längere Zeit mit ihm zusammen waren. Das lag aber auch daran, dass ihm jeglicher Sport zuwider war. Lediglich für das Angeln im vor der Haustür gelegenen Gweebarra River konnte er sich begeistern. Er liebte die Ruhe und Abgeschiedenheit, die er aber eher dazu nutzte, ein gutes Buch zu lesen. Das war seine eigentliche Leidenschaft. Also hockte er meistens in seinem eigenen Zimmer und vergrub sich in die literarischen Ergüsse seiner Lieblingsschriftsteller. Der Angelerfolg war ihm nicht so wichtig. Oft ging er wieder nach Haus, ohne dass er überhaupt etwas an der Angel gehabt hätte. Trotzdem erfüllte ihn das Angeln mit einem gewissen Glücksgefühl. Die einzigen Glückshormone, die von seinem Körper bis dahin überhaupt zu produzieren gefordert worden waren.

Auch deshalb konnte man ihm einen gewissen Grat an Vereinsamung nicht absprechen.

Victor allerdings sah das nicht so. Er fühlte sich wohl, allein in seinem Zimmer mit einem interessanten Buch. Er genoss es, mal kurzzeitig aus dem Einflussbereich seiner Mutter heraus zu kommen. Außerdem hatte das viele Lesen auch seine Vorteile. In der Schule war er immer einer der Besten gewesen. Ja, einige seiner Mitschüler nannten ihn gar einen Streber. Das sah er selbst jedoch vollkommen anders. Ihm machte es Spaß, Neues zu erlernen. Ihm viel es einfach leicht, Dinge zu behalten. So kam es, dass er nahezu alle Arbeiten und Tests mit Auszeichnung abschloss.

Sein guter Schulabschluss qualifizierte ihn schließlich zu seiner Ausbildung bei der Bank of Ireland in Letterkenny. Er legte auch dort einen solchen Ehrgeiz an den Tag, dass er diese Ausbildung mit Auszeichnung abschloss.

Seine Mutter war entsprechend stolz auf ihn. Hatte sie ihren Sohn doch zu dem gemacht, was er nun war und wie er nun war.

„Ich bin so stolz auf dich, Victor“, sagte seine Mutter zu ihm. „Zur Belohnung werden wir dir einen Original Tweed-Blazer kaufen. Den benötigst du nun dringend für die Bank“.

Dazu fuhren sie in die Tweed-Manufaktur John Molloy in Ardara. Victor gefiel das Tweed-Sacko in Rostrot am besten. Doch seine Mutter favorisierte die traditionellen Erdtöne. So erhielt er schließlich ein Tweed-Sacko in einem farngrün-, erdbraun-, dunkelgrauem Karomuster. Denn niemals hätte er sich gegen die Entscheidungen seiner Mutter gestellt. Und mit der Zeit gefiel ihm schließlich auch sein erdfarbenes Tweed-Sacko. Besonders modebewusst war er eh nicht. Dazu kaufte er sich eine dunkelbraune Flanellhose, ein hellgrünes Oberhemd und eine dunkelgrüne Krawatte mit braunen Querstreifen.

Er freute sich schon darauf, das erste Mal mit seinen neuen Klamotten in der Bank zu erscheinen. Er sah sehr seriös aus in seinem neuen Outfit. Es gab ihm eine zusätzliche innere Sicherheit.

Er konnte es kaum erwarten, das erste Beratungsgespräch mit einem seiner Kunden zu führen. Jeder würde ihm nun einen enormen Vertrauensvorschuss gewähren, denn er war jetzt sofort als kompetenter Bankberater zu erkennen. Und dieses Gefühl gefiel ihm. Es war ein Gefühl, das ein Prüfling haben musste, der seinen Stoff beherrscht und dem als Prüfungsfach genau das Thema gestellt wurde, für das er das ganze Wochenende gebüffelt hatte. Ein Gefühl der Sicherheit, ja sogar der Überlegenheit. Victor wusste von seiner Mutter, dass seine Kunden sehr viel Wert auf Äußerlichkeiten legten. Er würde nie auch nur eine Aktie verkaufen können, wenn sein Äußerliches, vor allem seine Kleidung nicht passend und konservativ genug wären.

Victor Vaughan war inzwischen 29 Jahre alt. Er hatte in den letzten Monaten etwas zugenommen. Nicht dass er als dick zu bezeichnen gewesen wäre, aber ein erster kleiner Bauchansatz war erkennbar. Die mangelnde Bewegung dürfte ihren Anteil dazu beigetragen haben. Auch waren die ersten Ansätze von Geheimratsecken zu erkennen. Das gab ihm jedoch gegenüber seinen Kunden ein noch seriöseres Aussehen und erleichterte die Verkaufsabschlüsse in seinen Beratungsgesprächen.

Nach seinem erfolgreichen Abschluss des Lehrganges zur Beratung vermögender Kunden, hatte Arthur dafür gesorgt, dass Victor eine kleine Lohnerhöhung bekommen hatte. Das fiel dem Bankdirektor relativ leicht, denn Victors Verkaufszahlen waren ausgesprochen gut. Und von guten Abschlusszahlen seiner Mitarbeiter partizipierte auch Arthur òToole. Denn von jedem Verkauf eines gebührenpflichtigen Abschlusses erhielt er als Filialdirektor einen kleinen Anteil. Und das addierte sich im Laufe eines Monats oder Jahres zu einem nicht unerheblichen Einkommensanteil.

Durch Abschlussprovisionen für Versicherungen und Bausparverträgen summierte sich auch für Victor ein erkleckliches Einkommen, so dass Arthur ihn eines Tages fragte:

„Victor, wäre es für Sie nicht einfacher, sich eine Wohnung in Letterkenny zu suchen, das würde Ihnen doch die lästigen täglichen Fahrten nach Doochary ersparen. Ich habe da durchaus Beziehungen und könnte Ihnen bei der Suche nach einer passenden Wohnung behilflich sein. Schließlich ist Letterkenny gegenüber Doochary schon fast eine Weltstadt und kann Ihnen einen entsprechend höheren Freizeitwert bieten. Auch für den Ausbau Ihrer sozialen Kontakte bietet Letterkenny sicherlich bessere Möglichkeiten als Doochary, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Doch Victor antwortete: „Danke, Mr. ÒToole, aber ich kann meine Mutter jetzt nicht im Stich lassen. Seit mein Vater sie verlassen hat, fühle ich mich für sie verantwortlich. Vielleicht in ein paar Monaten.“

Victor hasste Pubbesuche. Ihn nervte das unkontrollierte Stimmengewirr. Der allgemeine Smalltalk über banale Unwichtigkeiten war ihm zuwider. Ja, er hielt es sogar für echte Zeitverschwendung. Gespräche ohne konkrete Inhalte, ohne ein Ziel zu führen. Und Ziele brauchte er. Er brauchte Leitplanken in seinem Leben, an denen er sich orientieren konnte. Zuhause gab seine Mutter ihm die Ziele vor. In der Bank war es sein Filialleiter Arthur òToole, der ihm seine Verkaufsziele vorgab. Damit konnte er etwas anfangen. Das gab ihm Sicherheit.

Es fiel ihm einfacher, sich nur auf einen Gesprächspartner zu konzentrieren, wie das in seinen Beratungsgesprächen der Fall war. Ganz selten nur, und eigentlich auch nur dann, wenn Arthur òToole die Mitarbeiter der Bank nach einem guten Geschäftsabschluss zu einem Guinness einlud, ging er mit in ein Pub. Und das auch mehr gezwungenermaßen. Er konnte sich nicht immer ausschließen. Das wäre seiner Karriere sicherlich nicht förderlich gewesen. Arthur liebte nämlich seine abendlichen Pubbesuche. Nicht dass er ein Trinker gewesen wäre. Nein, aber er hatte sich an diesen täglichen Rhythmus einfach gewöhnt. Wenn die Bank um vier Uhr geschlossen wurde, ging er regelmäßig um halb fünf Uhr noch mal auf ein, zwei Guinness und einen Single Malt in seine Stammkneipe, der McCarrys Bar. Auch wenn Arthur seine Mitarbeiter auf ein Guinness einlud, gingen sie zu McCarrys. Dieses Pub wurde vorzugsweise von seriösen Geschäftsleuten frequentiert. Arthurs Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fanden McCarrys dagegen eher zu konservativ und damit langweilig. Und nach einem langweiligen Tag in der Bank brauchten sie nicht noch ein langweiliges Pub mit langweiligen Gästen nach Feierabend. Daher gingen die meisten von ihnen nach den ersten ein, zwei Anstands-Guinness weiter in den neu eröffneten Voodoo-Club. Hier spielte im wahrsten Sinne des Wortes die Musik. Mittwochs, freitags, samstags und sonntags sogar live. Inzwischen war der Club zu einem wahren Anziehungspunkt für Insider geworden. Hier wurde noch echte handgemachte Rockmusik gespielt.

Victor ging meistens nicht mit in den Voodoo-Club. Um sich von der Truppe abzusetzen, nutzte er immer wieder fadenscheinige Ausreden. Einmal hatte seine Mutter eine Grippe-Erkrankung, das andere Mal musste er noch der Nachbarin bei der Steuererklärung helfen. Victor fühlte sich einfach nicht wohl in Pubs wie dem Voodoo-Club. Es war ihm zu laut. Er liebte eher das bilaterale Gespräch. Menschenansammlungen waren ihm von jeher suspekt. Dann wurde er unsicher, ja sogar ängstlich. So kam es auch, dass seine Kollegen kaum Kontakt zu ihm pflegten. Nicht, dass er unbeliebt war. Das konnte man nicht sagen. Dafür war er zu hilfsbereit seinen Kollegen gegenüber, falls sie mal ein Problem hatten. Victor war im Gegenteil in Problemsituationen ein gesuchter Lösungspartner. Zumal er nie diese Hilfsdienste zu seinem Vorteil auszunutzen versuchte. Als echten Teamplayer konnte man ihn wiederum auch nicht bezeichnen, eher als einen Einzelkämpfer. Wobei das Wort „Kämpfer“ ihn nicht richtig beschrieb. Eher war er ein introvertiertes, vollkommen auf seine Mutter fixiertes Einzelkind, dem niemals eine Chance gegeben worden war, sich von dieser abzunabeln. Deshalb würde er es in einer Gruppe immer schwer haben, sich zu artikulieren. Seine Kollegen interpretierten sein Verhalten allerdings eher in die Richtung, als dass er Distanz zu ihnen aufbauen wolle. Distanz, die ein künftiger Vorgesetzter benötigte, um seine Ziele durchzusetzen.

In Problemsituationen war Victor dagegen durchaus bereit, seine Ideen und sein Wissen zur Lösung einzubringen. Das machte ihn zwar nicht unbedingt loyaler gegenüber seinen Arbeitskollegen, aber es brachte ihm ein großes Vertrauen bei Arthur òToole ein.

Und Victors bestandene Prüfung mit dem Zertifikat, vermögende Kunden beraten zu dürfen, tat ihr Übriges dazu.

Arthur war stolz und glücklich zugleich, endlich wieder einen qualifizierten Berater in seinem Team zu haben, der das Standing der Bank of Ireland in Letterkenny auch in der Außenwirkung und im Vergleich zu seinen Mitbewerbern weiter nach oben bringen würde. Schließlich beinhaltete diese neue Beratungsqualität die Aussicht, die vorgegeben Ziele nicht nur zu erreichen, sondern vielleicht sogar zu übertreffen. Und das wiederum würde sein Ansehen bei den Vorgesetzten in der Dubliner Zentrale enorm anheben und seinen Stellenwert im Kreis der weiteren Filialdirektoren steigern.

Mochte Victor von den übrigen Mitarbeitern nur als ein komischer Kauz bezeichnet werden, solange er die vorgegebenen Ziele übererfüllte, sollte Arthur das Recht sein.

Der Bankdirektor jedenfalls erwartete noch sehr viel von Victor. Und er hoffte inständig, dass Victor diesem Erwartungsdruck auch würde standhalten können.

Die Rache der Wölfe

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