Читать книгу Die Rache der Wölfe - Gerd Albers - Страница 4
ОглавлениеKapitel I Prolog
Schon von weitem sah er das gelb-blau-weiße Absperrband mit der Aufschrift „Garda – Line“, das vom morgendlichen Sturm in weitem Bogen von den Befestigungspfosten weggeweht wurde und mit lautem Getöse, das sich anhörte wie das Geschnatter von hundert Gänsen während der Fütterung, vor sich hin flatterte.
Liam Hutton war Chief Inspector und Leiter der Garda Letterkenny, den aber alle Kollegen kurz und knapp „Chief Hutton“ oder nur „Chief“ nannten. Vor drei Jahren hatte er sich aus Tipperary nach hier oben in die nord-westlichste Grafschaft Irlands, dem County Donegal versetzen lassen, nachdem seine Frau Kathleen herausgefunden hatte, dass er seit einigen Monaten eine Beziehung zu seiner Kollegin Elaine Hynes unterhielt.
Doch sie hatten sich ausgesprochen und suchten hier oben einen Neuanfang. Liam und Kathleen Hutton hatten zwei Kinder im Alter von nunmehr zehn und dreizehn Jahren, die natürlich nicht begeistert waren vom Umzug in den hohen Norden. Schließlich ließen sie alle Freunde, ja ihr ganzes altes Leben zurück. Außerdem scheuten sie die Umstellung in einer neuen Schule mit all ihren Problemen und Eingewöhnungsschwierigkeiten. Aber schließlich erklärten ihnen die Eltern den Umzug mit den besseren beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten ihres Vaters in Donegal. Die wahren Hintergründe für den Umzug in den Nordwesten Irlands hatten die Kinder gottlob nie mitbekommen.
Liam war neununddreißig Jahre alt, 1,85 Meter groß und schlank und hatte einen durchtrainierten Körper. Dreimal die Woche joggte er immer die gleiche zehn Meilen-Strecke am Lough Swilly entlang. Darüber hinaus ging er wöchentlich einmal ins Gym. Für ihn war es wichtig, als Polizeibeamter fit zu sein. Er hielt es nicht nur für einen entscheidenden Vorteil, physisch fitter als die Kerle zu sein, die er gelegentlich zu jagen hatte, die körperliche Fitness gab ihm auch das Gefühl einer psychischen Überlegenheit.
Die Ehe von Elaine Hynes hatte die Eskapade mit ihm nicht überstanden. Wie Liam Hutton später erfahren hatte, lebte Elaine heute mit einem drei Jahre jüngeren Mann als sie außerhalb von Tipperary. Sie arbeitete weiterhin an ihrer alten Dienststelle. Liam hatte aber keinerlei Kontakt mehr zu ihr. Das war ein Teil der Vereinbarung mit seiner Frau gewesen. Diese Zusage an seine Frau bereitete ihm aber auch keinerlei Probleme, schließlich war die Sache mit Elaine für ihn nur eine kurze Affäre gewesen, quasi aus dem Affekt heraus und ohne Tiefengrund.
Eigentlich war er froh gewesen, als alles vorbei war. Er liebte seine Familie. Und so war er dankbar für die zweite Chance, die ihm seine Frau gegeben hatte.
In den letzten drei Jahren hatten sie sich gut hier oben eingelebt. Letterkenny wurde von vielen als die heimliche Hauptstadt des County Donegal bezeichnet. Aus dem gälischen Namen der Stadt „Leitir Ceannain“ leitete sich die Bedeutung „Hillside of the O`Cannons“, also „Hang der O`Cannons“, den lokalen Clanführern in vornormannischer Zeit ab. Die eigentliche Hauptstadt des County war allerdings die gleichnamige Stadt Donegal-Town. Donegal-Town wiederum war eher die Verwaltungs- und Wohlfühlstadt, die begünstigt durch ihre Lage am Ende der Donegal Bay und durch ihre historischen Gebäude und geschichtsträchtige Vergangenheit einen hohen Wohnwert besaß. Donegal-Town war einfach die schönere Stadt. Aber Letterkenny war sowohl die Einkaufsstadt als auch das industrielle Zentrum des County Donegal.
Darüber hinaus war Letterkenny die am schnellsten wachsende mittelgroße Stadt Irlands, was die industrielle Neuansiedlung aber auch die Entwicklung der Einwohnerzahlen anging. Und zu Zeiten eines derartigen Aufschwungs an verantwortlicher Stelle der Garda Station tätig zu sein, empfand Liam als durchaus reizvoll und mit großen beruflichen Perspektiven verbunden. Die Huttons hatten sich vor einem Jahr sogar ein kleines älteres Haus gekauft, das an der Ausfahrtstraße nach Ballybofey lag.
Der Fundort der Leiche war, wie von weitem bereits sichtbar, weiträumig abgesichert, als Liam sich mit heulender Sirene dem Tatort näherte.
An der Absperrung drängten sich schon einige Schaulustige. Das war eigentlich ungewöhnlich für einen Samstagmorgen um viertel nach sieben Uhr auf diesem eher verlassenen und einsamen Gelände. Chief Hutton fielen einige Jogger auf, die in dieser Grünzone häufiger anzutreffen waren. Einer davon war ihm schon einige Male bei seinen Läufen begegnet und sie hatten irgendwann angefangen, sich beim Entgegenkommen zu grüßen. Einige einzelne Rentner und Rentnerehepaare, die das Geschehen wohl eher als willkommene Abwechslung vom sonstigen tristen morgendlichen Spaziergang ansahen, zwängten sich ebenfalls mit ihren Hunden bis an das Absperrband, so dass dieses fast zu reißen drohte. Vor dem abgesperrten Areal waren bereits zwei Polizeiwagen abgestellt, bei denen die Türen weit offen standen und das Blaulicht noch eingeschaltet war. Dies alles gab der Szenerie eine Atmosphäre wie beim Dreh eines schlechten Kriminalfilmes.
Aber das hier war kein Film. Das hier war die nackte Realität. Liam Hutton entdeckte als erstes Sergeant Wayne McNulty, der ihn kurz zuvor verständigt hatte. Dieser versuchte verzweifelt, die Schaulustigen vom Tatort fernzuhalten. In der Nähe der Leiche sah Chief Hutton Doc Susan Morley von der Gerichtsmedizin und seinen Kollegen Sergeant Frank Shaughnessy, die sich beide über die Leiche beugten.
„Was haben wir denn, Frank?“
„Das ist eine furchtbare Sauerei, Chief. Das muss ein Irrer gewesen sein. Aber sieh es dir selbst an!“
Als Liam Hutton sich ebenfalls über die Leiche beugte, drehte sich sein noch nüchterner Magen einmal um die eigene Achse, so dass er erst einmal tief durchatmen und einen kräftigen Zug der frischen Morgenluft tanken musste.
„Morgen, Doc Morley, können Sie schon etwas sagen?“
„Morgen, Chief, schon ausgeschlafen?“
Da war er wieder, dieser makabre Humor der Gerichtsmedizinerin, an den sich Chief Hutton immer noch gewöhnen musste.
„Wir haben hier eine Frauenleiche, höchstens 23 bis 25 Jahre alt. Der Fundort ist wohl nicht gleichzeitig der Tatort. Dieser ist einige Meter weiter in die Richtung. Vieles ist zwar schon im Boden versickert aber dort, wo auch die kaum noch erkennbaren Schleifspuren beginnen, haben wir eine Menge Blut gefunden. An der Leiche befinden sich diese markanten Verbrennungsspuren. Sehen Sie hier. Diese Merkmale sind typische Hinweise dafür, dass das Opfer mit einem Elektroschocker überwältigt worden ist. Der Täter scheint also das Mädchen an der Stelle dort drüben bewegungsunfähig gemacht und hierher transportiert zu haben.
Wir haben die Stellung der Leiche noch nicht verändert. Wir haben sie so vorgefunden, wie Sie sie hier sehen.
Der Täter hat die Leiche richtiggehend drapiert.
Was ich hier sehe ist eine junge Frau, ihre schulterlangen rotblonden Haare sorgsam im Gras zu allen Seiten ausgebreitet, soweit der Sturm sie noch nicht wieder zerzaust hat. Die Leiche ist komplett entkleidet, wir haben sie vollkommen nackt vorgefunden. Die Arme und Beine sind vom Körper ausgestreckt gleichsam wie bei einem Engel, so wie er von Kindern in den Wintermonaten durch das Hin- und Herbewegen ihrer Arme und Beine in den Schnee gemalt wurde.
Die Todesursache ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein einziger Schnitt durch die Kehle. Tatwaffe könnte ein großes scharfes Messer sein.“
„Können Sie schon etwas über den Tathergang und den Todeszeitpunkt sagen?“, wollte Chief Hutton wissen.
„Die Lebertemperatur lag bei einunddreißig Komma zwei acht Grad. Wenn wir bei diesen Außentemperaturen von etwa einem Grad Temperaturverlust pro Stunde ausgehen, liegt mit der üblichen Ungenauigkeit einer Vor-Ort-Bestimmung der Todeszeitpunkt etwa vier bis sechs Stunden zurück, also so zwischen ein und drei Uhr nachts. Sehen Sie die Einritzungen auf der nackten Brust? Ich würde sagen, beim ersten Betrachten könnte es sich dabei um Buchstaben handeln. Wenn Sie mich fragen, handelt es sich zwischen den beiden Brüsten, quasi als Einrahmung um ein W und bei dem Buchstaben auf der Bauchdecke darunter um ein geschwungenes R. Alle Einritzungen sind dem Opfer allerdings post mortem zugefügt worden, wahrscheinlich mit der Spitze des Messers. In ihrem Haar befindet sich dieses Schleifenband, gebunden in der Form eines Schmetterlings, das der Mörder offensichtlich aus der Bluse des Opfers herausgerissen hat.
Die weiteren Kleidungsstücke liegen ein Stück weit entfernt, offensichtlich dort, wo er das Mädchen mit dem Elektroschocker bewegungsunfähig, anschließend ermordet und danach nach hierher geschleift hat. Ach ja, der Slip des Mädchens fehlt, oder wir haben ihn noch nicht gefunden. Vielleicht hat sie aber auch keinen getragen, wer weiß. Wahrscheinlicher ist aber, dass der Täter es als eine Art Trophäe mitgenommen hat.“
„Was glauben Sie, Doc, ist sie vergewaltigt worden?“, wollte Chief Hutton wissen.
„Wie ich das auf den ersten Blick sehen kann, ist sie nicht vergewaltigt worden. Ich habe, so wie ich es bis jetzt feststellen konnte, keine Anzeichen von Geschlechtsverkehr entdeckt.
Bei den drüben ausgezogenen Kleidungstücken finden Sie auch ihre Handtasche der Toten, die wir aber noch nicht untersucht haben. Ich kann Ihnen also noch nicht sagen, wie das Mädchen heißt.“
„Danke, Doc, da kümmere ich mich sofort drum.“
„Noch eins, Chief, mir kommt es fast so vor, als habe der Mörder diesen Ort speziell für seine Tat ausgewählt: Eine saftige grüne Wiese unter einer erhabenen Gruppe prachtvoller, Schutz bietender Laubbäume, die einen verwunschenen Teich umschließen. Das alles wirkt wie ein prächtiger, ruhiger Park. Schön und einsam. Der Täter konnte relativ sicher sein, dass er hier ungestört bleiben würde. Die weitere Spurensuche wird dadurch erschwert, dass der intensive Regen und der starke Wind nahezu alle Spuren verwischt haben. Wir haben bisher keine brauchbaren Fußspuren entdeckt, nur die Schleifspuren vom vermeintlichen Tatort dort drüben zum Fundort der Leiche hier. Der Täter beabsichtigte ganz offensichtlich, dass alle Details der Leiche und des Tatortes zu der engelhaften Inszenierung passen. So als habe er sich den Ablauf und die Inszenierung schon im Vorfeld genauso vorgestellt, ja erträumt.“
„Das ist ja schon eine ganze Menge. Danke Doc. Aber sagen Sie mir, welcher Wahnsinnige macht denn so etwas und was bedeuten die Buchstaben auf der Brust des Mädchens?“, wollte Liam wissen.
„Ja, Chief, das ist dann wohl eher Ihr Job. Alle Einzelheiten bekommen Sie nach der Obduktion in spätestens zwei Tagen“, war der knappe Kommentar von Susan Morley. Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.