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Kapitel II.1 Wolfsblut

Es war am Tag vor seinem 29. Geburtstag, als ihn der Brief der Regierung, genauer gesagt des „Dezernates für Renaturierung und Ansiedlung ausgestorbener Tierarten“ erreichte.

Doch zunächst alles der Reihe nach:

Seine Schwester Deirdre, die 7 Jahre jünger war als er, foppte ihn schon gelegentlich wegen der ersten grauen Härchen, die sich an seiner Schläfe abzeichneten. Nicht dass das seinem Aussehen geschadet hätte, nein, es machte ihn im Gegenteil noch attraktiver und interessanter.

Conor McGinley war 1,87 Meter groß, hatte schwarze, lockige fast bis zu den Schultern reichende Haare und grüne aufgeweckte Augen, die eine große Lebendigkeit und Lebensbejahung, ja Lebensfreude ausstrahlten. Dabei war er von schlanker Statur aber durchaus muskulös im Körperbau.

Nein, er erfüllte so gar nicht das Klischee eines Farmersohnes aus der irischen Grafschaft Connemara.

Durch seine gesamte Erscheinung, die noch veredelt wurde durch eine tiefe, sonore und eine in Streitsituationen auf alle Beteiligten beruhigende Stimme, erfüllte er alle Eigenschaften eines echten Frauenschwarms.

Sein Vater Angus McGinley betrieb eine Schafsfarm und bewirtschaftete 280 Acres exzellenten Weidelandes, was einer Größe von 112 Hektar entsprach, das durchzogen war von großen Heide- oder Torfflächen und mehreren kleinen Seen. Der größte dieser Seen war sehr tief und gefüllt mit kristallklarem Wasser, und er war außerordentlich fischreich. Eigentlich hatte der See keinen offiziellen Namen. Angus hatte ihn allerdings schon in seinen Kindheitstagen Lough Ginley getauft. Und seitdem wusste jeder Bewohner der Gegend, welcher See damit gemeint war, auch wenn der Name in keiner offiziellen Flurkarte auftauchte.

Am Ufer lag immer ein Ruderboot fest an einer Holzbohle vertäut. Diese war Teil eines kleinen Steges, den Angus vor Jahren als seine private Anlegestelle gebaut hatte. Mit diesem Boot ruderte er besonders gern an Sonntagvormittagen, nach dem Besuch des Gottesdienstes in Roundstone hinaus, um Forellen zu angeln. Keiner in der Connemara konnte fangfrischere Fische zum Mittag- oder Abendessen auf den Tisch bringen als Martha McGinley, Angus` Ehefrau.

Wenn Angus so ganz allein mit seinem Boot auf dem See ankerte und auf den Biss der Fische wartete, träumte er häufig in den Tag hinein und geriet dabei nicht selten ins Schwärmen:

„Wenn ich mein Land doch von oben sehen könnte, so wie ein Vogel, dann würde es bestimmt aussehen wie ein riesengroßer von den besten Gärtnern der Welt arrangierter Garten Eden“.

Es erfüllte Angus McGinley mit einigem Stolz aber auch mit viel Dankbarkeit, dieses wunderschöne Fleckchen Erde sein Eigen nennen zu dürfen. Dabei überwog bei ihm durchaus die Dankbarkeit, denn er nahm es absolut nicht als selbstverständlich hin, dieses Land bewirtschaften zu dürfen. Er hatte von jeher einen enormen Respekt vor dem Land und bei seinen fast schon philosophischen Überlegungen kamen

ihm häufig weitschweifige Gedanken:

„Mein Land? Was bedeutet das eigentlich konkret, mein Land? Eigentlich ist das Land für sich selbst da. Es war im Gegensatz zu mir schon immer da. Ich bin zwar der offizielle Eigentümer, aber das waren vor mir bereits abertausend Vorfahren. Eigentlich bin ich doch nur der momentane Bewirtschafter dieses Landes. Ich werde irgendwann gehen, das Land aber bleibt – es sucht sich nur einen anderen, der es dann pflegt und bewirtschaftet. Bis auch dieser wieder geht und der dann folgende zeitlich wiederum limitierte Besitzer die Pflege übernimmt. Also bin ich doch eigentlich nicht der Eigentümer des Landes sondern lediglich der temporäre Nutzer. Das Land gehört mir doch allenfalls während meiner Zeit, oder besser gesagt, ich gehöre dem Land, solange ich da bin, nicht umgekehrt.“

Je mehr und je häufiger er auf diese Weise philosophierte, verstörten ihn solche Gedanken zunächst vielleicht ein wenig, aber letztendlich wuchsen dadurch sein Respekt und seine Dankbarkeit vor dem Land an sich umso mehr. Ja, er war stolz darauf, ein Stück dieses wundervollen Landes zu besitzen, wenn es auch nur einen auf ganz Irland bezogenen verschwindend kleinen Teil ausmachte. Und dann lag es noch in der für ihn schönsten Grafschaft Irlands, in der Connemara.

Connemara, ein Land, das für Angus aussah wie sein Name klang: Endlose farbenprächtige Heide- und Torflandschaften durchzogen von kristallklaren Seen, die sich in den Tälern der Bergketten ausbreiteten. Und dann diese Twelve Bens, eine Bergkette, die jedem Besucher schon von weitem signalisierte, hier ist die Connemara, das gelobte Land. Ganz anders als der angrenzende Burren, der als eine einzige karge Stein- und Felswüste daher kam. Der Unterschied hätte nicht größer sein können, hier ein farbenfrohes Gemälde aus Frühlingsblumen und bunten Luftballons, dort ein mausgraues Blatt Zeichenpapier, das keiner für würdig empfunden hatte, mit Farben auszumalen.

Früher hatte Angus seinen Sohn Conor regelmäßig mitgenommen, wenn er zum Angeln auf seinen See hinausgefahren war. Allerdings hatte dieser ihn dann so mit Fragen überhäuft, dass er kaum zum Angeln gekommen war. Außerdem versuchte der kleine Kerl, der zu der Zeit kaum über die Reling gucken konnte, ständig die Ruder zu bewegen, mit der Folge, dass sich das Boot ständig im Kreis drehte. Angus genoss dann jede Sekunde mit seinem kleinen Sohn, saugte jeden einzelnen Moment in sich auf und versuchte die Geschehnisse für immer in eine Mindmap seines Gehirns zu brennen. Auf diese Weise hoffte Conors Vater, später, wenn er mal alt und grau sein würde, sich an diese schönen Momente des Lebens zurück erinnern zu können und jeden dieser wundervollen Augenblicke wieder und wieder aus der Mindmap hervorholen und gedanklich nochmals erleben zu dürfen.

Außerdem hatte Angus neben der enormen Arbeit auf der Farm ansonsten kaum Zeit, sich mit seinem Sohn intensiv zu beschäftigen. Ohne je etwas daran ändern zu können registrierte er bald, wie schnell Conor heranwuchs. „Time goes by so quickly“, dachte er dann bei sich.

„Wenn man die Zeit schon nicht anhalten kann, so wäre es doch vorteilhaft, ihren Lauf beeinflussen zu können. Dann würde ich die Zeit jetzt, da wir so glücklich sind, langsamer laufen lassen. Als Ausgleich könnte sich die Lebensuhr im Alter meinetwegen schneller drehen. Das wäre doch ein guter Deal. Aber was würde das wohl für Konsequenzen haben? Würde mein Sohn dann auch halb so schnell heranwachsen? Ja würde sich vielleicht sogar die ganze Welt langsamer drehen? Bräuchte die Erde dann zwei Jahre für eine Sonnenumrundung?“

Wohl wissend, dass solche Wünsche nicht erfüllbar waren, träumte er dennoch davon, dass die Zeit doch manchmal einfach stehen bliebe. Aber letztendlich war er doch froh, dass kein Mensch den Lauf der Zeit beeinflussen konnte. Welches Chaos das wohl verursachen würde, mochte er sich gar nicht ausmalen. Und er kam als frommer Christ dann immer zu dem gleichen Schluss:

„Es ist schon gut so, wie es ist. Der Herrgott wird es schon richten. Er hat in diesen Dingen mehr Erfahrungen als jeder Mensch. Schließlich macht er es schon seit Anbeginn der Zeit.“

Da er also den Lauf der Dinge eh nicht beeinflussen konnte, versuchte er umso mehr jede Sekunde seines Glücks zu genießen. In solchen Augenblicken war Angus mit sich und seinem Leben rundum zufrieden.

Auf Angus` Land weideten mehr als 600 Schafe, die er sein eigen nannte. Um seine von den Schafen der benachbarten Schaffarmer unterscheiden zu können, kennzeichnete er sie auf dem Rücken mit einem blauen und einem roten Querstreifen aus wetterfester Farbe. Denn Zäune kannten die Schaffarmer in der Connemara nicht. Erstens wären diese zu teuer und zweitens wäre das Aufstellen von Zäunen bei den großen Entfernungen und dem unwegsamen Gelände zu aufwändig gewesen. Doch was noch entscheidender war, kein Farmer kannte die Grenzen seines Landes wirklich so präzise, als dass er sie durch das Aufstellen von Zäunen hätte markieren können.

Was die etablierten Schaffarmer allerdings in Rage bringen konnte war, dass einige Schafshalter überhaupt kein eigenes Land besaßen. Diese ließen ihre Schafe frei an öffentlichen und privaten Wegrändern und damit auch auf den Ländereien der ansässigen Farmer weiden. Im Volksmund nannte man dieses imaginäre Land The long green mile.

Wie Angus` Großvater seinem Neffen schon in dessen frühesten Kindertagen erzählt hatte, konnte zu den Zeiten der Besatzung Irlands durch die Briten kein irischer Farmer mehr auch nur einen Quadratmeter Land sein eigen nennen. Damals halfen sich die irischen Bauern mit Durchhalteparolen wie:

Uns gehört zwar nicht unser Land und was auf ihm wächst und uns gehört nicht die Luft, die es umgibt, aber uns gehört das Reich unter der Erde. Und so entstanden vornehmlich zu dieser Zeit die irischen Mythen und Sagen über Feen und Gnome, wie den Leprachons, die noch heute die Menschen, wenn die Geschichten an einem verregneten Tag an einem offenen Torffeuer erzählt werden, in ihren Bann ziehen. Diese Zwerge und Gnome waren in den Geschichten, die erzählt wurden, für so manchen Klamauk verantwortlich. Und so kam es, dass ein Ire, wenn er denn mal ausgesprochen ausgelassen war und selbst einen Schabernack machte es beispielsweise mit folgendem Ausspruch erklärte:

The Leprachons made me do it!

Es war ein ungeschriebenes Gesetz und deshalb gab es für Angus McGinley auch keinerlei Zweifel daran, dass sein Sohn Conor einmal die Schafszucht übernehmen und die Farm weiter führen würde. Das zeichnete sich auch in den ganzen Jahren des Heranwachsens seines Sohnes sehr deutlich ab. Denn Conor hatte sich schon als Kind sehr geschickt im Umgang mit den Schafen angestellt, so als wäre es die einfachste Sache der Welt.

Doch Conors noch größere Begabung und Leidenschaft waren die Zucht, die Ausbildung und das Arbeiten mit Hütehunden. Angus hatte vor Jahren einen Bordercollie-Rüden und zwei Weibchen von einem anerkannten Züchter in Schottland gekauft, mit denen er eine eigene Zucht aufgebaut hatte. Den Rüden hatte Angus nach dem Urvater aller Bordercollies benannt, Hump.

Die beiden weiblichen Tiere bekamen die Namen Lesley und Lara. Bei der Zucht achtete Angus peinlich genau darauf, dass die Collieweibchen niemals mehr als einmal im Jahr schwanger wurden. Damit wollte er eine Überzüchtung seiner Welpen verhindern und für eine höchstmögliche Qualität und vor allem Gesundheit und Widerstandskraft der jungen Tiere sorgen.

Schon wenige Jahre später war Angus McGinley in der gesamten Connemara bekannt für seine ausgezeichnete Bordercollie-Zucht. Die Nachkommen seiner Zuchttiere waren allesamt hervorragende Arbeitstiere und bei den Schäfern und Schaffarmern äußerst begehrte Hütehunde.

Und in den letzten Jahren hatte Conor die Tiere allesamt allein ausgebildet. Denn seitdem sein Vater gesehen hatte, wie geschickt Conor sich bei der Ausbildung der Tiere verhielt, hatte er sich nicht mehr in das Training eingeschaltet. Conor verbrachte für die Ausbildung der Collies mehr Zeit als für irgendeine andere Tätigkeit. Selbst die Schule drohte dadurch manchmal vernachlässigt zu werden. Aber Conors Mutter Margret sorgte dann schnell und resolut dafür, dass er die Rückstände in der Schule schnell wieder aufholte. Schließlich wusste sie, dass nur herausragende Abschlussergebnisse der letzten Schulklasse dazu berechtigten, ein College zu besuchen.

Conors Mutter hatte zwar mit Angus nie konkret über eine derartige Möglichkeit gesprochen, Conor auf ein College zu schicken, für sie war aber gar nicht so selbstverständlich, dass ihr Sohn einmal die Schafszucht und damit die Farm übernehmen würde. Woher Margret das ahnte oder gar wusste, konnte sie ebenfalls nicht sagen. Es war einfach nur so ein Gefühl, der mütterliche Instinkt.

Mütter und Söhne, eine einmalige, unerklärbare, gar mysteriöse Beziehung. Keine Bindung konnte für Margret McGinley intensiver, stärker, nachhaltiger, eindringlicher, selbstverständlicher, natürlicher und klarer sein.

Ohne Worte. Alles klar.

Auch Conor hatte nie mit seiner Mutter darüber gesprochen. Sie wusste es einfach.

Angus wäre selbst im Traum nicht eingefallen, jemals einen Gedanken daran zu verschwenden, seinen Sohn auf ein College zu entsenden. Und somit war eine derartige Eventualität auch gar nicht auf seinem Radarschirm. Denn in der Connemara war es schon immer so gewesen, dass der älteste Sohn einmal die Farm des Vaters übernahm. Warum sollte er also darüber großartig nachdenken?

Große Teile der Connemara gehörten zur sogenannten An Ghaeltacht. So nannte man die Bezirke, in denen noch die alte irische Sprache, also gälisch, die allgemeine Umgangssprache war.

Das war letztlich auch der Grund, warum Conor bis zur Einschulung in der kleinen Dorfschule fast noch kein Wort englisch sprach. Er verstand zwar ein paar Brocken, aber eigentlich war Englisch die erste Fremdsprache, die er erlernen musste. Aber in dieser Beziehung war Conor in bester Gesellschaft mit all` seinen Freunden. Insofern hatten weder er noch einer seiner Freunde einen großartigen Vorteil oder gar Nachteil in der Schule. Nur die Lehrer hatten demzufolge einen erheblichen Mehraufwand, den Kindern zunächst einmal die allgemeine Landessprache beizubringen.

Die ersten sechs Jahre besuchte Conor die Primary School in Roundstone. Schon während dieser Zeit fiel ihm das Lernen leicht, und er gehörte in jedem Schuljahr zu den Klassenbesten.

Da es die nach fünf Schuljahren auf die Primary School aufbauende Secondary School in Roundstone nicht gab, musste Conor ab der siebten Klasse täglich mit dem Schulbus nach Clifden, der Hauptstadt der Connemara fahren.

Aber das empfanden er und seine Klassenkameraden nicht so sehr als besonderen Aufwand sondern mehr als ein großes Erlebnis. Endlich für einige Stunden außerhalb des Kindheitsäquators, das war für Conor McGinley gleichbedeutend mit einem Meilenstein in der Evolution. Bis dahin war er nie aus Roundstone heraus gekommen. Er hatte aber auch gar nichts vermisst. Conor kannte einfach nichts anderes. Und was man nicht kannte, vermisste man auch nicht. So einfach war das. Er hatte viele Freunde, mit denen er sich nach Schulschluss treffen konnte. Und das war mehr, als manch Anderer in seinem gesamten Leben erfuhr.

Außerdem hatte Conor ja noch seine Hunde. Auf die freute er sich schon sehnsüchtig in der Schule. Täglich hatte er bereits im Voraus einen festen Plan, was er seinen Bordercolliewelpen am Nachmittag beibringen wollte.

Jeder Farmer in der näheren Umgebung kannte inzwischen Conor, den Sohn des Angus, der ein magisches Händchen zu haben schien für die Ausbildung der Collies. Das brachte ihm schon in diesen jungen Jahren eine enorme Hochachtung ein, die jedoch gepaart war mit der Skepsis einiger Farmer. War es ihnen doch teilweise suspekt, wie ein so junger Bursche bereits eine solche Empathie für die Hunde entwickeln konnte, so dass diese ihm quasi blind vertrauten. Denn Conor verstand es, seinen Hunden die umfangreichen Aufgaben eines Hütehundes und die hohe Anzahl an Befehlen und Kommandos vollkommen ohne Gewaltanwendung beizubringen. Die komplette Ausbildung verlief vollkommen spielerisch. Ja, es war für Conor ein Spiel, schöner als alle anderen Spiele, die er kannte.

Nun sagte man Bordercollies ja nach, dass sie die intelligenteste Hunderasse der Welt sei. Vielleicht trafen aber Adjektive wissbegierig, neugierig, nervös und eifrig eher den Charakter der Tiere. Und bei ihren umfangreichen Übungen ließen sie auch keinen Deut nach. Stundenlang konnten, ja besser wollten die kleinen Racker gefordert werden. Ohne eine Aufgabe zu haben, wären die Collies niemals glücklich geworden, sie wären sogar psychisch erkrankt, das wusste Conor. Und so legten die jungen Hütehunde eine Ausdauer an den Tag, dass es sogar Conor schon manchmal zu viel wurde.

Vor allem das Hüten lag in ihren Genen. Dabei war es für sie vollkommen nebensächlich, was oder wen sie hüten sollten. Conor verglich den Wissensdurst der Collies häufig mit dem junger i-Männchen an ihrem ersten Schultag. Und diese Erkenntnis machte er sich zunutze.

Conor McGinley trainierte mit dem Collie-Nachwuchs bereits im Welpenalter, nach dem Motto: Früh übt sich, wer ein Meister werden will. Dabei ließ er die Ausführung der Kommandos statt an Schafen zunächst an Enten ausführen. Er steckte dann einen Parcours aus aufeinanderfolgenden Holzpfählen ab, um die herum seine Colliewelpen die Entengruppe lotsen musste. Das sah nicht nur lustig aus, das machte auch einen Heidenspaß, sowohl ihm als auch den kleinen Collies. Das war spielendes Lernen. Und Conor registrierte mit Wohlwollen, dass den kleinen Welpen diese Art des Trainings nicht als Ausbildung oder gar Arbeit vorkam, nein, die kleinen Hunde waren heiß darauf, mit ihm zu spielen. Kaum konnten sie sein Kommen aus der Schule erwarten. Wenn er in den Feldweg zur Farm einbog, begrüßten ihn die Hunde schon von weitem mit lautem Gebell und freudigen, erwartungsfrohen Sprüngen. Dabei drehten sich die Collies häufig mehrfach um ihre eigene Achse als Ausdruck ihrer Freude und Erwartung dessen, was sie jetzt gemeinsam mit Conor Neues einstudieren würden.

Nach Abschluss der Ausbildung reichten bereits Flötkommandos aus, um die Collies anzuweisen, bestimmte Befehle und Aktionen auszuführen.

An den ausgewachsenen Bordercollies faszinierte Conor am meisten diese charakteristische geduckte Gangart der Hunde, wenn sie im Hüteeinsatz waren. Dann waren sie in ihrem Element und voll konzentriert auf ihre Aufgabe. Nichts auf der Welt konnte sie in diesen Situationen in ihrer Konzentration auf den Schäfer und Fixiertheit auf die Schafe stören oder aus der Ruhe bringen. Und Conor erkannte schon recht früh, dass ein Collie der Spitzenklasse eines haben musste und das bezeichnete der Kenner mit: The Eye. Er musste Das Auge haben, mit dem er quasi ein zu hütendes Schaf minutenlang fixieren konnte, manche behaupteten sogar hypnotisieren konnte.

Und wer einmal einen von Conor ausgebildeten Bordercollie-Alpharüden bei seiner Arbeit gesehen hatte, wie er mit eleganten und geschmeidigen Bewegungen nur mit auf den Schafen fixiertem Blick in seiner geduckten Hütehaltung durch feuchte Wiesen und durch Tümpel streifte, der erkannte sofort die enorme Ähnlichkeit dieser Tiere mit ihren wilden Vorfahren, den Wölfen.

Conor liebte seine Bordercollies, aber die Wölfe in ihrer Wildheit hatten ihn von jeher fasziniert. Die Vorfahren aller Hunde, deren Sozialverhalten und Instinkte er als übersinnlich, rätselhaft, geheimnisvoll, ja esoterisch und transzendent bezeichnete, zogen ihn seit jeher in seinen Bann.

Einmal mit Wölfen, den Hunden aller Hunde zu arbeiten und ihre Lebens- und Verhaltensweisen im Rudel näher erforschen zu können, das entwickelte sich für Conor zu einem Traum, ja fast zu einer Sucht.

Und so verwunderte es nicht, dass die benachbarten Farmer von ihm behaupteten:

„In seinen Adern fließt Wolfsblut!“

Und wenn man in Conors funkelnde Augen sah, grün wie leuchtende Smaragde, hätte das auch kaum jemand angezweifelt.

Neben der Zucht und der Ausbildung der Hütehunde hatte Conor ein weiteres Hobby, die Musik. Wenn er stundenlang mit seinen Hunden draußen bei den Schafen war, nahm er immer eine Tin-Whistle, diese markante irische Flöte mit und übte fleißig. Da er äußerst begabt war, erreichte er schnell eine enorme Motorik und Spielqualität. Später spielte er auch auf weiteren Flöten wie Querflöte oder Low-Whistle. Wenn er selbst musizierte, spielte er ausschließlich traditionelle irische Musik. Die Reels, Jigs, Slip-Jigs oder Slow Air ertönten überall, wo er sich gerade aufhielt.

Genauso gern wie er selbst Musik spielte konsumierte er auch die Musik. Und niemals ging er ohne seine Kopfhörer und MP3-Player aus dem Haus. Doch wenn er Musik hörte, dann bevorzugte er kurioserweise Rockmusik – hard and heavy. Das bedeutete für Conor jedoch keinen Gegensatz. Ganz im Gegenteil, für ihn ergänzten sich die beiden Stilrichtungen eher als dass sie sich gegeneinander ausschlossen. Und in vielen Rockstücken waren ja auch Elemente aus der traditionellen irischen Musik verarbeitet.

Die aktuellen Musikrichtungen interessierten ihn dabei weniger, niemals würde er sich einen Rap oder Popsong anhören. Er bevorzugte gute, handgemachte, ehrliche Rockmusik, vor allem den progressive Rock.

Und es gab gleich mehrere Bands, die er gut fand. Dazu gehörten beispielsweise Marillion, Yes, Rush, Arena, Steven Wilson, Pink Floyd und viele weitere Bands dieser Stilrichtung. Und natürlich Deep Purple und alles, was daraus hervorgegangen war wie Whitesnake, Rainbow oder Dio. Also war es auch nicht weiter verwunderlich, dass einer seiner Lieblingssänger für eine ganze Zeit Ronnie James Dio war. Vor allem der Song Lock up the Wolves ging ihm lange Zeit nicht mehr aus dem Ohr. Den hörte er so oft, dass es die anderen Familienmitglieder schon fast nervte. Außer seiner Schwester Deirdre,. die teilte die Liebe zur Rockmusik und zu Dio.

Deirdre erfüllte im Gegensatz zu Conor alle Klischees eines irischen Mädchens. Sie war 9 Jahre jünger als Conor und hatte langes, rotes Haar, das in glockenförmigen Locken auf ihre wohlgeformten Schultern herunter fiel. Sie war ebenfalls groß und schlank mit einer ausgesprochen weiblichen Figur. Ihre Beine waren prädestiniert für das Tanzen. Und das war auch Deirdres liebstes Hobby, der traditionelle irische Stepptanz. Ja, man konnte durchaus sagen, dass sie der Star der örtlichen Tanzgruppe war. Sie hatte schon viele Preise gewonnen bei den Dance-Competitions der näheren Umgebung.

Zweimal in der Woche trainierte die Connemara Dance Company, wie sich Deirdres Tanzgruppe nannte, in der Lounge von McCarrys Bar in Roundstone.

Um jedoch noch vollkommener zu werden und die diffizilen und mit unglaublicher Schnelligkeit aufeinanderfolgenden Tanzschritte perfekt zu beherrschen, hatte sich Deirdre in einem der in der Nähe des Farmhauses gelegenen Ställe einen eigenen Übungsraum eingerichtet.

Dazu hatte sie gemeinsam mit ihrem Bruder einen Teil des Stalles komplett leer geräumt. Der Steinboden, der aus ungeschliffenen Granitsteinen bestand, war mit Holzbohlen begradigt und komplett mit großen Holzplanken ausgelegt worden. Die Stirnwand hatten beide mit einem wandfüllenden Spiegel verkleidet, der Deirdre ermöglichte, sich bei ihren Trainingseinheiten zu beobachten und falsche Schritte besser zu erkennen und korrigieren zu können.

Eine gute Musikanlage mit Verstärker, CD-Player und großen Lautsprecherboxen komplettierte ihren Übungsraum.

Dieser Raum war ihre eigene Welt, ihr Refugium, in das sie sich auch gern zurückziehen konnte, wenn sie mal für sich allein sein wollte. Die freien Wände hatte sie dekoriert mit großflächigen Plakaten von Tanz-Wettbewerben, an denen sie im Laufe der Jahre teilgenommen hatte.

In Momenten, in denen sie gern allein sein wollte, setzte sie sich einfach auf den Holzfußboden, legte eine CD in den Player und lauschte der melancholischen irischen Musik. Besonders der Klang der Uilleann Pipes versetzte sie in eine andere Welt und ließ sie den Bezug zur Gegenwart verlieren.

Neben dem Tanz spielte sie auch ein Instrument, die Fiddle. Auf der spielte sie genau wie Conor gern die traditionelle irische Musik.

Oft musizierten beide auch gemeinsam in ihrem Übungsraum. Oder sie setzten sich einfach auf den Holzboden und hörten sich eine aktuelle CD irgendeiner Rockband an. So kam es, dass häufig auch aus diesem Raum der Dio-Song Lock Up The Wolves zu hören war.

Hier waren die beiden Geschwister vor allem vor den Kommentaren ihrer Eltern sicher, die man nicht gerade als Fans von Rockmusik bezeichnen konnte.

Trotz, oder sollte man sagen gerade wegen des Altersunterschiedes, verstanden sich Conor und Deirdre ausgezeichnet. Die gemeinsame Liebe zur Musik, das gemeinsame Musizieren, aber auch der Mangel an Alternativen in dieser einsamen Gegend schweißten beide zusammen, so dass sie in allen misslichen Situationen wie Pech und Schwefel zusammen hielten.

Das war auch der Grund, dass Deirdre zunächst sehr traurig war, als sie erfuhr, dass Conor nach Dublin gehen würde.

Denn nach seinem Schulabschluss sollte Conor McGinley am Trinity College in Dublin Biologie und Zoologie studieren.

Und das hatte er zum großen Teil seinem damaligen Klassenlehrer Anthony Farrell zu verdanken.

Diesem war Conors Liebe und Neigung zu der Natur und den Tieren, vor allem den Hunden nicht entgangen. Und so war Conors Klassenlehrer eines Abends zu Angus McGinley ins Haus gekommen und hatte gesagt:

„Angus, ich weiß, dass dein Sohn Conor einmal deine Farm übernehmen soll. Das kann er ja auch. Aber meines Erachtens ist die Zeit dazu noch nicht reif. Nicht deine Zeit, sondern Conors Zeit. Ich bitte dich, lass ihn zunächst Biologie und Zoologie studieren. Er ist in naturwissenschaftlichen Fächern äußerst begabt, vor allem, wenn es um die Lehre der Pflanzen und Tiere geht. Ich weiß, dass deine Pläne anders aussehen, aber handle bitte zunächst im Interesse deines Sohnes. Ignoriere nicht einfach seine ungeheure Begabung. Du siehst es doch selbst am besten, welchen Erfolg er durch seine Leidenschaft, Hartnäckigkeit und Fleiß mit der Zucht und Ausbildung der Hütehunde erzielt. Du weißt, er kann sich in die Tiere hineinversetzen. Diese Empathie ist es, die ihn bei den Hunden so beliebt macht. Er versteht ihre Sprache. Er spricht ihre Sprache. Es wird euch allen zugute kommen. Am Trinity College in Dublin würde er ausgezeichnete Studienbedingungen vorfinden. Ich würde mich dort gern für ihn einsetzen.“

„Ich bin kein Krösus, sondern ein einfacher Schaffarmer im Westen Irlands. Ich weiß nicht, ob es fair gegenüber der Familie wäre, unsere Ersparnisse für das Studium eines unserer Kinder aufs Spiel zu setzen. Was ist, wenn plötzlich ein paar schlechte Jahre kommen? Schließlich sind wir zu sehr abhängig vom Wetter und den sonstigen Launen der Natur. Wovon sollen wir dann leben?“

„Riskiere es, Angus. Ansonsten würdest du es irgendwann sowieso bereuen, wenn du deinem einzigen Sohn nicht diese Chance ermöglicht hättest. Alles wird gut gehen. Er wird dich und deine Familie stolz machen, dessen bin ich mir sicher.“

Dem hatte Angus nicht viel entgegen zu setzen gehabt. Auch seine Frau Martha hatte keine Einwände, ganz im Gegenteil. Fast hatte es den Eindruck, als hätte sie bereits vorher mit Anthony Farrell einen Komplott geschlossen und sein Besuch bei Angus wäre eine abgekartete Sache gewesen. Wie dem auch war, der Erfolg hatte wieder einmal die Mittel geheiligt.

Und so kam es, dass Conor tatsächlich nach seinem Schulabschluss zum Trinity College nach Dublin wechselte und Biologie und Zoologie studierte.

Er war damit der einzige seiner Schulklasse, der nach Abschluss der Secondary School überhaupt aus der Connemara herauskam.

Nun war natürlich vieles vorzubereiten für das große Abenteuer Dublin. Die größte Stadt, die Conor bis dahin je gesehen hatte, war Galway gewesen. Dort war er einige Male mit seinem Vater zum Markt gefahren, um Schafe zu verkaufen oder neue Muttertiere zur Auffrischung einzukaufen. Die Fahrten nach Galway hatte Conor immer genossen. Der Schafsmarkt wurde nämlich abgerundet und komplettiert durch alle möglichen Stände und Attraktionen. Die Galway-Fair war weit über die Grenzen hinaus bekannt. Es war ein richtiger Jahrmarkt und Anziehungspunkt für Jung und Alt. Sogar ein paar kleinere Karussells waren aufgebaut und erfreuten die Kleinsten. Alles wurde hier angeboten von Kleintieren wie Schafen über Schnürsenkel und Kochtöpfen bis hin zu Obst und Gemüse. Noch nie hatte Conor eine solche Menschenmasse auf einer solch` kleinen Fläche gesehen. Damals konnte er sich gar nicht vorstellen, wo diese Leute überhaupt alle hergekommen waren.

Und dann hatte er immer gedacht: Kann es noch eine größere und schönere Stadt geben als Galway?

Und nun würde er in Dublin studieren. Er hatte keine Vorstellungskraft, was ihn dort erwarten würde.

„Wir werden morgen gemeinsam mit dem Bus Eirann nach Galway fahren, um dich einzukleiden, Conor. Mit dem, was in deinem Kleiderschrank hängt, kannst du nicht nach Dublin fahren. Ich möchte nicht, dass gesagt wird: Da kommt der Bauernsohn aus der wilden Connemara, auch wenn das ja eigentlich der Wahrheit entspricht“, sagte seine Mutter zu ihm.

Deirdre, die in der Nähe war, schaltete sich sofort ein:

„Toll, kann ich mit euch fahren? Ich war noch nie in Galway und habe schon soviel davon gehört.“

„OK, kann ja nicht schaden, wenn wir die Meinung einer jungen Dame dabei haben. Aber was sagt dein Bruder dazu? Er wird dann wohl kaum seinen Geschmack durchsetzen können. Gegen die Argumente zweier Frauen hat er keine Chance.“

„Damit kann ich leben, Mutter. Mir ist das eh egal, was ihr für mich aussucht. Ich kann eben alles tragen“, konterte Conor.

„Ha, ha, noch nicht einmal in Dublin angekommen und schon hochnäsig und großspurig.“

Conor wusste, dass der Kommentar seiner Mutter humorvoll gemeint war.

Das Kleiderthema war für ihn ohnehin nur ein Nebenkriegsschauplatz. Er war in seinem bisherigen Leben auch mit zwei Jeans und drei Sweatshirts klar gekommen. Er hatte eh nie verstanden, warum Frauen einen ganzen Kleiderschrank voll benötigten, wo man doch jeweils nur eine Garnitur anziehen konnte.

Für ihn musste Kleidung nur eines, nämlich zweckmäßig sein. Und zweckmäßig interpretierte er als bequem. Das war sein Hauptanspruch an seine Kleidung.

Seine Gedanken kreisten eher um die zu erwartenden persönlichen Veränderungen, die sich für ihn in ganz anderen Dimensionen abspielten.

War das Studium die richtige Entscheidung? Was würde ihn in Dublin erwarten? Würde er sich mit den Studienkollegen verstehen? Wie käme er ohne seine Familie klar in der großen Stadt? Würde er die Herausforderungen des Studiums schaffen? Würde er mit seinem Geld klar kommen? Würde er seinen Vater nicht enttäuschen? Wie würde das Studium seine gesamte Lebensplanung beeinflussen? Würde er jemals in die geliebte Connemara zurückkehren?

Fragen über Fragen, auf die er keine Antworten hatte und deren Lösungen wohl erst die Zukunft ergeben würde.

Die Rache der Wölfe

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