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Kapitel II.8 Glenveagh

Warten gehörte nicht zu seinen Stärken. Und so verging die Zeit an diesem Tag in der Bank wie im Scheckentempo. Das Telefon nahm er jedes Mal bereits nach dem ersten Klingelton ab. Euphorisch meldete er sich, aber seine Stimme ging immer recht schnell in seinen bürokratischen Tonfall, den er sich bei Kunden, deren Ansprüche ihn weniger herausforderten, angewöhnt hatte, über.

So reihte sich eine Enttäuschung an die andere, je mehr Telefongespräche er führte und Meggan war nicht am Apparat.

Es dauerte bis zum späten Nachmittag, bis der erlösende Anruf endlich kam.

„Hallo Victor, hier ist Meggan, rufe ich zu spät an?“

„Nein, nein. Es ist genau passend.“

„Ich bin mit meinem Vater nochmals alle Verträge durchgegangen. Wie wir das beurteilen können, ist alles so, wie wir es vorgestern Abend gemeinsam besprochen haben. Und so soll es nun auch abgeschlossen werden. Ich habe die Unterlagen schon an den entsprechenden Stellen unterschrieben. Ich könnte sie dir morgen Vormittag in dein Büro bringen. Dann könnten wir uns vielleicht auch gleich mit den Aktien beschäftigen, die geordert werden sollen. Wäre das in deinem Sinn?“

„Das wäre prima. Ich bereite alles Technische schon einmal vor, so dass wir uns sofort den infrage kommenden Aktien widmen können.“

„OK, also sehen wir uns morgen gegen zehn Uhr?“

„Das passt mir gut. Ich freue mich auf dich, Meggan.“

Am nächsten Morgen war Victor nervöser als sonst. Seine Kollegen rätselten schon, was denn wohl der Grund sein könnte. Aber nur Anne Walsh, die seit Jahren hinter der Kassentheke beschäftigt war und zu der er eine vergleichsweise gute kollegiale Beziehung unterhielt, sprach ihn an:

„Victor, ist Ihnen heute nicht gut? Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“

„Danke, Anne, aber das ist nicht nötig. Mir geht es gut. Hab` nur in den letzten Nächten nicht besonders gut geschlafen. Das ist alles. Aber danke für Ihre Fürsorge.“

Er verkroch sich in seinem Büro, erledigte einige vorbereitende Tätigkeiten und wartete, dass es endlich zehn Uhr werden würde. Von seinem Büro aus hatte er einen guten Blick auf den bankeigenen Parkplatz, der sich neben dem Hauptgebäude befand.

Von Meggan war immer noch nichts zu sehen. Nervös ging er im Büro auf und ab. Er fühlte sich wie ein Kleinkind zu Weihnachten, das auf seine Geschenke wartete und für das jede Sekunde zu einer Ewigkeit wurde.

Es dauerte schließlich bis kurz nach halb elf, bis Meggan an seiner Bürotür klopfte.

„Hallo Victor, bin ich zu spät?“

„Nein, schön, dass du da bist.“

Schön, dass du endlich da bist, verkniff er sich. Er wollte alles, nur keinen Fehler machen. Er bewegte sich schließlich auf neuem Terrain. Und er wollte alles, nur Meggan nicht verstören oder sogar verletzen.

„Hier sind die Unterlagen. Und ich soll dich herzlich von meinem Vater grüßen. Er bedankt sich nochmals bei dir, auch, weil du gestern Abend erneut für uns Zeit hattest.“

„Der gestrige Abend war für mich der bisher wichtigste oder sollte ich sagen intensivste Abend, den ich je erlebt habe. Das Gespräch mit dir hat mir unheimlich viel bedeutet. Noch die ganze Nacht habe ich darüber nachgedacht. Ich hoffe nur, ich habe nichts Falsches gesagt.“

„Keine Spur, Victor. Ich fand es auch sehr angenehm, mit dir zu sprechen. Es hat mir gut getan. Du bist ein guter Zuhörer. Ich glaube, ich könnte dir alles anvertrauen. Ich wäre mir sicher, dass du es nicht ausnutzen würdest, einige meiner Geheimnisse zu kennen. Das sagt mir meine Menschenkenntnis. Ich hoffe, ich täusche mich nicht in dir.“

„Keinesfalls. Du kannst über alles mit mir reden. Ich genieße wirklich jedes Wort mit dir. Und du kannst sicher sein, dass keines deiner Worte gegenüber anderen Menschen je über meine Lippen kommen wird. Das schwöre ich dir bei meiner Ehre.“

„Ich sagte ja schon, dass ich dir vertraue“, erwiderte Meggan und fuhr fort:

„Hattest du schon Zeit und Gelegenheit, nach passenden Aktien zu schauen?“

"Ich habe mir heute Vormittag bereits einige Papiere für dich angesehen, deren Kursentwicklung recherchiert und einige Notizen zu den möglichen Kurschancen gemacht. Das würde ich gern zu Anfang mit dir durchgehen. Wäre das in deinem Sinne?“

„Ja, gern. Ich habe mir eh noch überhaupt keine Gedanken gemacht“, meinte Meggan.

Von nun an war Victor in seinem Element. Mit stetig wachsender Begeisterung, ja fast euphorisch erklärte er Meggan die Möglichkeiten und Alternativen, die er für sie heraus gesucht hatte. Meggan hatte zwar erhebliche Schwierigkeiten, sachlich und fachlich alles unter einen Hut zu bringen, jedoch überzeugte sie allein der enthusiastische Vortrag Victors von der Richtigkeit seiner Vorschläge. Schnell orderten sie die ersten Papiere und waren sich einig, die Entwicklung gemeinsam zu verfolgen und bei Bedarf zur einen oder anderen Seite zu reagieren.

„Victor, das war beeindruckend. Nie habe ich jemanden gesehen, der mit einer solchen Leidenschaft sein Business vertritt und mit einer solchen Überzeugung seine Klienten auf die Reise mitnimmt. Herzlichen Dank und herzlichen Glückwunsch, das war absolut imponierend und ergreifend. Da merkt man, dass du dein Geschäft verstehst. Ich könnte gar nicht mehr Nein sagen.“

„Entschuldigung, ich wollte dich nicht überfallen. Aber wenn es um Börsengeschäfte geht, bin ich wirklich manchmal nicht zu bremsen. Ich hoffe, ich habe dich nicht allzu sehr bedrängen mit meinen Vorschlägen.“

„Nein, keineswegs. Im Gegenteil, ich hatte schon befürchtet, dass ich mich mehr hätte beteiligen müssen, ohne etwas von der Materie zu verstehen. So ist es mir bedeutend lieber. Ich sagte ja bereits, ich vertraue dir.“

„Das ehrt mich, Meggan, danke.“

„Ich habe gerade auf die Uhr gesehen. Es ist bereits nach zwölf. Wie wäre es, Victor, dürfte ich dich als kleine Gegenleistung vielleicht zum Lunch einladen. Denn bei mir zuhause bleibt die Küche heute kalt. Also, wie wär` s?“

„Sehr gern“, war Victor überrascht „hast du einen Vorschlag, wo wir hingehen könnten?“

„Da gibt es ein kleines Speiselokal namens Quiet Moment an der Ecke der Upper Main Street. Das scheint mir ganz nett zu sein.“

„Gut, das kenne ich zwar noch nicht, aber warum sollten wir das nicht ausprobieren“, antwortete Victor in überschwänglicher Vorfreude.

Das kleine Lokal war relativ neu und der äußere nette und saubere Eindruck täuschte nicht. Es war im englischen Stil eingerichtet und mit Mahagonitischen und mit in dunkelgrünem Samt bezogenen Sesseln und Stühlen ausgestattet. Mehrere Ebenen, die durch zwei oder drei Stufen miteinander verbunden waren, lockerten die Atmosphäre angenehm auf und brachten zusätzliche Diskretion in die einzelnen Bereiche.

Meggan und Victor ergatterten einen kleinen Tisch mit zwei Sesseln in einer Ecke der oberen Ebene, so dass sie sich relativ ungestört von anderen Gästen unterhalten konnten.

Beide bestellten sich ein Gericht von der Tageskarte, das neben dem Hauptgang die Tagessuppe und ein Dessert beinhaltete. Victor nahm statt des süßen Desserts eine Tasse schwarzen Tee. Während des gesamten Essens hatten sie sich angeregt unterhalten über die Themen der letzten Tage und die gerade abgeschlossenen Geschäfte. Victor genoss es, so ungezwungen und quasi allein mit Meggan in dem Lokal zu sitzen. Manchmal ertappte er sich dabei, dass er sie sekundenlang anstarrte und bewunderte. Dann wurde er regelmäßig ein wenig rot auf den Wangen, und musste sich zwingen, Meggan nicht mit seinen Blicken aufzusaugen. So sehr war er von ihrer Schönheit und ihrer Wortgewandtheit fasziniert.

Ohne großartig darüber nachzudenken, machte er Meggan unkontrolliert und wie von selbst gesteuert im Laufe ihrer Unterhaltung den Vorschlag, am kommenden Sonntag mit ihm den Glenveagh-Nationalpark zu besuchen.

„Hast du den Park schon einmal durchwandert?“, wollte Victor wissen.

„Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich noch niemals dort gewesen bin. Mein Vater wollte mich immer schon einmal dorthin mitnehmen, aber dabei ist es bisher auch geblieben“, entgegnete Meggan ein wenig überrascht und fügte an:

„Aber ich habe gehört, er soll wunderschön sein, vor allem zur Blütezeit.“

„Genauso ist es. Du wirst es nicht bereuen, wenn du ein wenig die Gärten und die Natur im Allgemeinen liebst. Außerdem bietet die Parkverwaltung am Sonntag ein kleines Programm an. Es werden verschiedene Raubvögel wie Falken, Uhus und Eulen, ja sogar ein Königsadler, gezeigt. Eine irische Drumband spielt vor dem Schloss und im Innenhof wird irische traditionelle Musik gespielt.“

„Das hört sich verlockend an. Ich liebe die traditionelle irische Musik. Also abgemacht. Wann und wo treffen wir uns?“

„Am besten auf dem Parkplatz am Eingang des Parks. Am einfachsten ist es, du fährst über Churchhill die R251 weiter Richtung Gweedore. Zwei Meilen hinter dem Abzweig ist der Eingang zum Park. Außerdem ist er sehr gut ausgeschildert. Wäre zwei Uhr passend für dich?“

„Zwei Uhr ist perfekt. Dann habe ich noch ausgiebig Zeit für das Mittagsessen mit meinem Vater.“

Victor konnte es noch gar nicht realisieren. War das Traum, Wunsch oder Wirklichkeit? Hatte er sich mit Meggan für den Sonntag verabredet? Und sie hatte Ja gesagt?

Den Nachmittag konnte er sich in der Bank kaum mehr auf das Wesentliche konzentrieren. Zu sehr kreisten seine Gedanken bereits um das bevorstehende Date mit Meggan.

Hoffentlich würde das Wetter mitspielen. Wenn die Sonne schien, war der Nationalpark nämlich tausendmal schöner als bei Regen.

Am nächsten Sonntag stellte er bereits um halb zwei sein Auto auf dem geräumigen Parkplatz vor dem Eingang des Glenveagh-Nationalparks ab. Nervös lief er den mit kleinen Platanen bewachsenen und durch deren Blätter überdachten Laubengang, der sich bis zum Eingang des achteckigen Besucherzentrums hinzog, auf und ab. Er hatte seit dem gemeinsamen Mittagessen in Letterkenny nicht mehr mit Meggan gesprochen. Einerseits hätte er sie gern noch einmal angerufen, allein um ihre Stimme zu hören. Anderseits hatte er viel zu sehr Angst, sie könnte bei einer solchen Gelegenheit ihre Verabredung im letzten Moment doch noch platzen lassen. Er hatte Meggan zwar als sehr zuverlässig und vertrauenswürdig kennen gelernt, aber absolut sicher war er sich in diesem Moment, da er den Laubengang auf- und abging nicht mehr, dass sie wirklich kommen würde. Aber um kurz nach 2 Uhr bog Meggans Audi TT auf den Parkplatz ein. Victor musste sich zusammenreißen, nicht übereilig auf ihr Cabrio zuzurennen. Aber er konnte sich nicht soweit bremsen, dass er nicht eiligen Schrittes auf ihr Fahrzeug zulief.

„Hallo, Victor. Bin ich zu spät?“

„Nein, schön dass du da bist. Ich bin auch gerade erst gekommen“, schwindelte er und ergänzte:

„Hast du den Parkeingang gleich gefunden? Für mich war es ja eine kurze Anreise von Doochary aus.“

„Ja, das war kein Problem. Ich habe bei dem schönen sonnigen Wetter mein Cabriodach geöffnet. Allein der Weg hierher ist ja landschaftlich schon beeindruckend. Die vielen Seen, die Berge rundherum, alte Kirchen, verlassene Cottages, kleine von Fuchsienhecken gesäumte Sträßchen und das mit offenem Verdeck, das alles war schon traumhaft. Deshalb bin ich auch ein wenig langsamer gefahren und habe die Fahrt richtiggehend genossen. Und überall dieser Irish Broom, dieser gelb blühende Stachelginster, der gibt der ganzen Landschaft diese eindrucksvollen und typischen gelben Farbkleckse, fast wie ein in voller Blüte stehendes Rapsfeld. Ich liebe dieses Land.“

„Dann warte mal ab, bis du den Park selbst siehst. Er ist einfach grandios. Wir haben zwei Möglichkeiten: Zum einen fährt ein Shuttlebus zum Schloss und zurück, wir können aber auch wandern. Es sind circa vier Kilometer, die man aber nicht als solche wahrnimmt, weil es überall etwas zu sehen gibt. Allein die gerade blühenden Rhododendren vor den imposanten Seen- und Bergkulissen sind den Fußmarsch wert.“

„Also gut, gehen wir. Ich bin ja den ganzen Hinweg schon gefahren“, gab sich Meggan optimistisch.

„Wir können dann immer noch auf dem Rückweg den Shuttlebus nehmen“, schlug Victor als Kompromiss vor.

„So machen wir` s. Auf geht’s.“

Sie schlugen direkt hinter dem Parkplatz die sogenannte Alternativroute ein, die sich direkt am Ufer des Lough Veagh vorbei schlängelte und sich später mit der Hauptroute wieder vereinigte. Schon auf den ersten Metern wurde die beispiellose Schönheit der Landschaft deutlich. Links des Lough Veagh die in großen Teilen von Menschen angelegte blühende Vegetation und auf der gegenüberliegenden Seite die karge Wildheit der Derryveagh Mountains. Im Lough Veagh spiegelten sich die beiden Seeseiten und verschmolzen zu einer dualen Wunderwelt, deren Schönheit Meggan augenblicklich in ihren Bann zog.

„Übrigens, wusstest Du, dass man im Glenveagh Park versucht, wieder frei lebende Königsadler anzusiedeln?“

„Nein, von der Wiederansiedlung von Adlern habe ich bisher weder gehört oder gelesen. Das hört sich ja abenteuerlich an. Und, gelingt der Versuch?“, wollte Meggan wissen.

„Man weiß es noch nicht. Ursprünglich ist ein junges Königsadlerpärchen von Schottland nach hierher gebracht und an einem geheimen Ort in den Bergen des Nationalparks angesiedelt worden. Der Versuch der Wiederansiedlung von Adlern stößt naturgemäß nicht bei allen Leuten auf Begeisterung. Denke nur einmal an die Schaffarmer in dieser Gegend. Die befürchten natürlich, dass die später einmal ausgewachsenen Adler das ein oder andere Schaf reißen könnten. Und offensichtlich ist es Gegnern des Projektes gelungen, die Brutstätte der Adler ausfindig zu machen. Man erzählt, dass eines der Adlerkinder schon getötet worden sein soll. Aber konkret weiß das keiner. Die Parkverwaltung gibt da keinerlei Auskünfte, um das Projekt nicht noch weiter zu gefährden.“

„Das wäre doch jammerschade. Ich finde das toll, wenn eine Regierung oder ein Nationalpark sich um die Wiederansiedlung vom Aussterben bedrohter Tierarten kümmert. Schließlich haben die Menschen ja schon genug dafür getan, dass viele Tierarten komplett von der Erde verschwunden sind. Ich hoffe, das Projekt gelingt noch“, erwiderte Meggan.

„Ja, das hoffe ich auch. Die Farmer hier in der Gegend sind allerdings in heller Aufruhr. In Doochary geht schon das Gerücht um, es sollen sogar Wölfe in dieser Gegend angesiedelt werden. Das kann ich mir allerdings beim besten Willen nicht vorstellen.“

„Ach, warum nicht. Platz wäre hier doch im Überfluss, sogar für Wölfe. Und wilde Einsamkeit auch.“

Sie wanderten auf dem Fußweg entlang des Lough Veagh, bis vor ihnen die hohen Mauern, die die Gärten des Schlosses einfriedeten, auftauchten. Victor führte Meggan durch das große zweiflügelige Eisentor hinein in eine Wunderwelt aus exotischen Pflanzen und Bäumen. Meggan fühlte sich von der Pflanzenpracht geradezu erschlagen. So einen artenreichen Garten hatte sie nicht einmal in Dublin gesehen. Unzählige Variationen ihr unbekannter Blumen, Sträucher und Bäume kamen zum Vorschein. Bis dahin waren ihr die Wunder der Natur nie beeindruckender vorgekommen.

„Wow, Victor, so stelle ich mir den Garten Eden vor. Ich kann mich gar nicht satt sehen an den vielen Pflanzen und Blüten.“

„Ja, das ist schon bezaubernd schön. Aber es macht auch sicher viel Arbeit.“

Der Weg öffnete sich zu einer tiefgrünen Rasenfläche, dessen Pflegezustand dem Rasen von Wimbledon alle Ehre gemacht hätte. Die Grünfläche wurde umsäumt von mittleren und hohen exotischen Bäumen aus allen Kontinenten der Erde. Die früheren Besitzer des Schlosses hatten über Jahre den Park in dieser Form angelegt. Das hier durch den Golfstrom beeinflusste milde Klima nahe der Atlantikküste wirkte sich positiv auf das Wachstum der empfindlichen Pflanzen aus. Alles gedieh prächtig. Und da es auch im Winter keinen oder kaum Frost gab, überlebten hier sogar tropische und subtropische Pflanzen.

Durch ein weiteres Eisentor erreichten Sie das Schloss. Es war kein riesiges Schloss wie beispielsweise Chàteaux de Versailles, dafür sah es aber auf den ersten Blick aus wie ein Traumschloss aus einer anderen Welt. Es lag auf einer kleinen Landzunge direkt am Lough Veagh. Seine Terrasse schien fast in den See hineinzuwachsen. Direkt am Seeufer war ein Badepool aus Granitblöcken erstellt worden, aus dem man in den See hätte springen können. Flankiert wurde der Pool von einem Anlegeplatz für Boote.

Den Eingang zum Schloss erreichte man durch einen großen Steinbogen. Victor und Meggan gingen durch das kleine Wäldchen um das Schloss herum und erreichten den hinteren Zugang, der einen eigenen Innenhof besaß. Hier befand sich in einem Seitenarm des Schlosses ein gemütliches Cafe. In dem heimeligen Innenhof vor dem Cafe spielte eine Gruppe von Musikern voller Enthusiasmus traditionelle irische Musik. Zur Gruppe gehörte ein Tin-Whistle-Spieler, ein junges Mädchen spielte die Low-Whistle und Querflöte. Zwei weitere Männer spielten Fiddle, eine Frau die Uilleann Pipes, den irischen Dudelsack, und ein anderer Mann schlug die Bohdran, die irische Trommel.

Unter den angenehmen Schatten werfenden Bäumen nahmen Victor und Meggan Platz. Beide genossen es, der Musik zu lauschen. Sie erfreuten sich an dem frisch gebrühten Tee und naschten vom Kuchen, den Victor aus dem Cafe besorgt hatte.

Nachdem beide sich eine Weile im Cafe ausgeruht hatten, gingen sie weiter in den eigentlichen Schlossgarten. Diesen erreichten sie über einen Durchgang durch ein quer zum Hauptschloss gebautes, vorgelagertes Gebäude. Der langgezogene Torbogen mündete in einem großen, atriumartigen Gewächshaus aus dunkelgrünen Eisenstäben, das mit filigranen Verzierungen und Verschnörkelungen ornamentiert war. Den Mittelpunkt bildete ein kreisrundes Glashaus, dessen Dach sich wie eine übergroße Zwiebel einer russischen Kirche aus Glas und Eisen emporreckte. Dieses Glaskuppeldach war von stattlicher Höhe. Vom Boden bis zur Decken waren es einige Meter. An diesem runden Hauptteil des Gewächshauses schloss sich ein flacherer, rechteckiger Seitenarm an. In diesem waren Pflanzen zu bewundern, die man nur in Wintergärten halten konnte. Von hier aus hatte man schon einen fantastischen Blick auf den dahinter liegenden Freiluftgarten. Die Sicht auf diesen Vorzeigegarten wurde dadurch begünstigt, dass das Geländeniveau nach hinten hin leicht anstieg. Hier blühte und summte alles. Meggan bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu. Tausend Farben stürzten gleichzeitig auf ihre Augen ein, so dass sie vor lauter optischem Überfluss kaum noch etwas aufnehmen konnte. Sie gingen durch die schmalen Wege des Gartens und nahmen die unzähligen Farb- und Dufteindrücke in sich auf. In der linken Ecke des Gartens stand der Falkner mit seinen Greifvögeln. Auf seinem Arm trug er den wunderschönen, majestätischen Königsadler. Nie zuvor hatte Meggan ein imposanteres Tier gesehen, das mit jeder Feder seinen royalen Charakter ausstrahlte. Der Falkner bot Meggan sogar an, das Tier auf ihren Arm zu setzen. Doch da traute sie sich doch nicht. Dazu war ihr Respekt vor dem König der Lüfte doch ein bisschen zu groß. Auch die weiteren auf ihren Stangen sitzenden Greifvögel, vor allem der weiße Uhu, waren überaus eindrucksvoll.

Über eine kleine Treppe zog sich der Weg weiter durch einzelne Themengärten wie beispielsweise einem japanischen Garten oder einem Steingarten wieder hinab zum Ufer des Lough Veagh, wo der Außengarten sich mit dem kleinen Wäldchen, der seitlich des Schlosses angelegt war, vereinte.

An dieser Stelle hatten die Ranger eine rechteckige, aus Holzbohlen gefertigte Beobachtungsstation aufgestellt, von der aus man witterungsgeschützt den See und die dahinter liegenden hohen Berge betrachten konnte. Von der rechten Seite aus waren Meggan und Victor zum Schloss hin gewandert, zur linken Seite führte der Weg weiter am See entlang in die Berge der Derryveagh Mountains.

„Meggan, diesen Weg, der hier vom Hauptweg abzweigt, sollten wir unbedingt noch gehen. Es ist ein kurzer Abstecher, nicht mehr als eine Meile, der sich hoch am Berghang entlang zieht und einen fantastischen Blick auf das Schloss, den dahinter liegenden See und die Berge bietet. Du siehst quasi alles aus der Vogelperspektive.“

„Ich kann deiner Begeisterung nicht widerstehen. Natürlich gehen wir da hoch. Komm schon! Keine Müdigkeit vortäuschen!“

Übermütig stiegen sie den Berg hinauf. Der Anstieg war doch etwas anstrengender, als Meggan vermutet hatte. Mehrmals blieben sie stehen, um ein wenig zu verschnaufen. Nach kurzer Zeit erreichten sie den höchsten Punkt des Rundweges und waren erleichtert, als sie auf der dort stehenden Bank Platz nehmen konnten. Dieser Felsen bot einen überwältigenden Ausblick über den gesamten Park, das Schloss, den See und die Berge. Alle Aufstiegsmühen hatten sich gelohnt und waren bereits vergessen. Es war ein grandioser Anblick voller Farbenpracht. Zu ihrer Linken ergoss sich in der Ferne ein Wasserfall in den Lough Veagh. Hier oben waren sie ganz allein, fern ab aller Zivilisation, an einem Ort voller natürlicher Schönheit, Reinheit und unendlicher Weite.

Meggan wandte sich zu Victor, nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn kurz auf seinen Mund.

„Danke, Victor, für den wundervollen Tag. Nie hätte ich es mir so märchenhaft vorgestellt. Kaum vorstellbar, dass wir uns im Norden Irlands befinden. Man würde es nicht glauben, wenn man es nicht mit eigenen Augen sehen würde.“

Victor war vollkommen perplex. Er konnte nicht sofort antworten. Zu sehr war er überrascht worden von ihrem Kuss. Der erste Kuss seines Lebens! Wenn man die vielen Küsse seiner Mutter mal außer Betracht ließ. Aber dieser Kuss war anders. Ganz anders. Ein nicht enden wollendes Kribbeln lief ihm den Rücken hinunter. Ein nie vorher erlebtes Gefühl von erotischer Hitze und Aufgewühltheit, so als würde sein Herz schlagartig das Blut in doppelter Geschwindigkeit durch seine Adern pumpen.

So ließen sie noch einen Moment die Eindrücke auf sich einwirken, Meggan die optischen und Victor die emotionalen.

Nach einer Weile wagte er wieder zu sprechen, ohne zu wissen, ob es ihm tatsächlich gelingen würde, oder ob ihm seine Stimme nicht doch den Dienst versagen würde.

„Meggan, das war der schönste Augenblick meines Lebens. Nie hatte ich ein größeres Gefühl des Glücks und der inneren Zufriedenheit wie jetzt in diesem Moment. Ich wünschte, der Tag würde nie zu Ende gehen.“

„Ich fühle mich auch wohl mit dir, Victor. Du strahlst eine große innere Ruhe aus. Das gefällt mir. Und du bist ehrlich und nicht aufdringlich. Das gefällt mir ebenfalls.“

„Glaubst Du, wir könnten so etwas wie heute mal wiederholen?“, fragte er vorsichtig.

„Natürlich, mir hat der Tag bisher außerordentlich gut gefallen. Ich wusste ja gar nicht, wie schön das Fleckchen Erde ist, auf dem wir wohnen. Hast du noch mehr von diesen Geheimtipps?“

„Aber klar. Donegal ist voll von landschaftlichen Reizen. Das nächste Mal schleppe ich dich zum Slieve League, den höchsten Seeklippen Europas. Vom sogenannten One Man`s Path fallen die Klippen nahezu sechshundert Meter steil in den Atlantik. Da muss man schon schwindelfrei sein, und vor allem gutes Schuhwerk anhaben.“

„Da bin ich dabei. Abenteuer, wir kommen“, rief Meggan euphorisch ins Tal hinein. In diesem Moment hatten beide den Eindruck, als kämen ihre Worte als Echo zurück.

Meggan nahm Victors Hand, und so gingen sie wie ein frisch verliebtes Pärchen den Wanderweg hinab, der wieder in dem Teil des Garten mündete, den beide zu allererst besichtigt hatten. Es dauerte nicht lange, bis sie die Stelle erreicht hatten, von der aus der Shuttlebus in Richtung Parkplatz abfuhr. Hier warteten schon einige Fahrgäste auf das Eintreffen des Busses, der auch nicht lange auf sich warten ließ. Victor und Meggan nahmen nebeneinander Platz und ließen sich händchenhaltend zum Parkeingang fahren.

Zu aufgewühlt war Victor, um jetzt klar denken zu können. Gefühle überwältigten ihn, die ihm bisher vollkommen unbekannt geblieben waren. Meggan bewunderte derweil an ihm seine innere Ruhe. Wobei, im Moment fühlte sich Victor alles andere als innerlich ruhig. Ein Vulkan tobte in ihm, dessen Magma gegen die Wände seiner Venen und Arterien presste und kurz vor dem Ausbruch stand. Er hoffte, seine Aufgewühltheit vor Meggan weitestgehend verbergen zu können und versuchte sich wenigstens einigermaßen zur Ruhe zu zwingen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Meggan sich würde verabschieden müssen.

Schweigend gingen sie zum Parkplatz. Victor begleitete Meggan zu ihrem Auto und ertappte sich dabei, dass er ihre Hand wohl ein wenig zu fest in seiner drückte. Gerade so, als wolle er sie nie wieder loslassen. Aber Meggan schien das nicht aufzufallen und sträubte sich auch nicht weiter dagegen.

„Also, Victor, nochmals vielen Dank für den schönen Nachmittag. Ich fahre jetzt besser, sonst wird es noch zu spät. Mein Vater würde sich Sorgen machen, wenn ich unabgesprochen nicht zum Abendessen erscheinen würde.“

„Das verstehe ich. Meine Mutter würde das auch nicht verstehen, wenn ich unabgemeldet nicht erscheinen würde. Da verlässt sie sich einfach auf mich. Und so etwas ist bisher auch nie vorgekommen, dass ich sie versetzt habe.“

Meggan kam noch einmal auf Victor zu, küsste ihn schnell auf seine Lippen und sprang in ihr Cabrio. Winkend verließ sie den Parkplatz und Victor blieb allein zurück.

Er konnte noch nicht gleich fahren. Er setzte sich zunächst auf die Bank am Rande des Sees und ließ den Tag wie einen schönen Film an seinem inneren Auge vorbei laufen.

Sollte sie ihn wirklich so mögen, wie er sie bereits mochte?

Sollte diese Bekanntschaft, oder sollte er schon Beziehung sagen, wirklich eine Zukunft haben?

Machte sie sich genau so viele Gedanken über ihn wie er über sie?

Er wusste, er würde hier und heute keine Antworten finden. Aber er war glücklich, wie nie zuvor in seinem Leben. Da war ein Mensch, der nicht seine Mutter war, der ihn offensichtlich mochte.

Und er war diesem Menschen mit Leib und Seele verfallen, das wusste Victor seit diesem Augenblick.

Die Rache der Wölfe

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