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1. Die Ironie in der rhetorischen Tradition des Mittelalters: ein Überblick
ОглавлениеFür Ironie als Kommunikations- und Redemodus wie auch als literarische Strategie war im Mittelalter die Überlieferung aus der Antike maßgeblich. Augustin hatte im Eingang seiner Tropenlehre für das Bibelverständnis klargestellt, dass die Fähigkeit zum Gebrauch ironischer Redeweise wie anderer Tropen nicht nur durch den Rhetorikunterricht und zum ,Schmuck‘ (ornatus) gefeilter Rede vermittelt werden müsse, da sie durchaus auch der Alltagssprache zu Gebote stünde: „Dennoch werden nahezu alle diese Tropen, die, wie man sagt, durch eine der Freien Künste gelernt werden, auch in den Reden derer gefunden, die keine Grammatiklehrer gehört haben und sich mit der Umgangssprache, die das Volk gebraucht, begnügen […]. Denn die Redeweise des Volkes umfasst sogar jene Tropen, die deswegen umso bemerkenswerter sind, weil sie das Gegenteil von dem bezeichnen, was gesagt wird“, also Ironie und Antiphrase.1 Aber jeder, der im Mittelalter lesen und schreiben konnte, hatte diese Fähigkeiten in der Lateinschule sozusagen professionell kennengelernt und erworben in den Anfangsgründen des Grammatik- und Rhetorikunterrichts. Dort hatten auch der Tropus und die rhetorische Figur der Ironie einen festen Platz. Zu Recht ist festgestellt worden, dass die rhetorischen Lehren von der Ironie in breitem Strom ins Mittelalter gelangten und durch die Jahrhunderte bis weit in die Neuzeit Geltung hatten; die Monographie ‘Ironia’ von Dilwyn Knox (1989) hat dies materialreich dargestellt.2 Hier sind daher nur die wichtigsten Merkmale ironischer Redeweise bei der Übernahme durch die einflussreichen Autoren der normativen Texte des Mittelalters kurz zu charakterisieren, um die Bedingungen von Verständnis und Gebrauch der Ironie in den literarischen Traditionen zu gewichten. Denn trotz der anscheinend wörtlichen Rezeption beginnt rasch auch die Arbeit an den übernommenen Definitionen.
Wenn die Ironie auch ein alltagssprachliches Phänomen ist, das zu seiner Verwendung nicht der Lehrvermittlung bedarf, so ist ihre begriffliche Benennung und Analyse für das Mittelalter doch wie eine Gebrauchsanleitung mit der Adaptation der antiken Sprachlehre in Grammatik und Rhetorik untrennbar verbunden. Direkte Quelle für die Erklärung der Ironie war weniger die klassische römische Rhetorik (Cicero, Quintilian)3 als vielmehr, in einer Verengung des breiteren Ironiediskurses der Antike, Donat4, der Lehrer des Hieronymus, dessen Lehrbücher den Unterricht in der mittelalterlichen Schule bestimmten und auch für Isidor von Sevilla und Beda Venerabilis im Frühmittelalter die Hauptquelle für die Erklärung der Ironie darstellten. Die Tropen- und Figurenlehre, das heißt die doktrinale Vermittlung des sogenannten Redeschmucks (ornatus), dieser drei Autoren waren für das Ironieverständnis mittelalterlicher Autoren lange Zeit die dominante Informationsquelle; hinzu kam die Cicero fälschlich zugeschriebene ‘Rhetorica ad Herennium’, die für das Phänomen jedoch den Begriff permutatio statt ironia verwendete.5 Erst im Lauf des Mittelalters wurden diese Grundinformationen durch neue Akzente oder die Erweiterung der Beschreibungsaspekte ergänzt. Da Dilwyn Knox die rhetorische Tradition von der Antike bis in die Renaissance ausführlich nach systematischen Gesichtspunkten erörtert hat,6 reicht hier ein kurzer Überblick über die historischen Stufen der Aneignung der antiken stilistischen Lehre und über ihre Hauptaspekte aus; damit ist eine Orientierung über die jeweilige Antikekenntnis für die zur Analyse ausgewählten Textcorpora gegeben.
Wie schon bei Quintilian und nach ihm bei Donat7 ist im Grammatikteil der Enzyklopädie Isidors von Sevilla – er beginnt die ‘Etymologiae’ mit den Trivium-Disziplinen – Ironie unter die Formen des uneigentlichen Sprechens, des alieniloquium bzw. der Allegorie, neben sechs weiteren Hauptspezies eingeordnet.8 Sprachlicher Ausdruck und Sinn haben eine gegensätzliche Bedeutung, was nur durch die Intonation als Ironiesignal deutlich wird (z. B. laudando deridere). Mit Zweckbestimmung und Beispiel aus Vergils ‘Aeneis’ (I 140) wird der Tropus erläutert.
„Durch diesen Tropus wird etwas auf kluge Weise in Anklage oder im Spott gesagt, wie im Folgenden: ,Eure Häuser, Eurus – in jenem Palast mag sich Aeolus brüsten und im verschlossenen Kerker der Winde mag er seine Herrschaft ausüben.‘9 Und wieso Palast, wenn es ein Kerker ist? Denn gelöst wird [das Problem] durch die Intonation, denn ,Kerker‘ ist die [eigentliche Bedeutung der] Betonung; ,er soll sich rühmen‘ und ,Palast‘ ist Ironie, und der ganze Ausdruck wird im entgegengesetzten Sinn der Intonation angezeigt durch eine Art der Ironie, die durch Lob verspottet.“10
Der uneigentliche Ausdruck der Ironie (Tropus) wird durch den Gegensatz von Wort und Sinn, durch den klugen Gebrauch von Anklage oder Beschimpfung und durch seine performative Anzeige im Ironiesignal der Intonation bestimmt. Inhaltliches Beispiel ist Verspottung durch Lob, eine Bestimmung, die durch die ganze mittelalterliche Tradition geht und auch praktisch breite Wirkung entfaltete.11 Auch die darauf folgende Antiphrase sagt im Wort das Gegenteil von dem, was gemeint ist; von der Ironie unterscheide sie sich dadurch, dass sie allein in den Wörtern, nicht durch die Intonation signalisiert werde.12 Auch der Sarkasmus gehört in diese Reihe der Allegoriespezies und bezeichnet als eine Abart der Ironie feindseligen Spott (inrisio).13 Bedas vielbenutztes Lehrbuch ‘De schematibus et tropis’ übernimmt diese Ironiedefinitionen.14 Die antiken Beispiele ersetzt Beda jedoch durch biblische. Mit dem Bibelbericht vom Opferwettstreit mit den Baalspriestern lässt er den Propheten Elias ironisch raten: „Ruft mit lauterer Stimme – denn Baal ist ein Gott, und vielleicht redet er und ist irgendwo eingekehrt oder schläft –, damit er aufwache.“15 Auch bei der Antiphrase und dem Sarkasmus zitiert Beda Schriftzitate, die in der Bibelauslegung danach immer wieder als ironische verstanden wurden: Christus fragt den Verräter Judas bei seiner Gefangennahme im Garten Gethsemane: „Freund, wozu bist du gekommen?“ (Mt. 26, 50), und die Verhöhnung der Juden gegenüber dem Gekreuzigten lautet: „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten; wenn er König Israels ist, soll er jetzt vom Kreuz herabsteigen, und wir glauben ihm“ (Mt. 27, 42).16
Eine Reihe von Donatkommentaren der Karolingerzeit transportiert dieselben Definitionen. Einige eigene Überlegungen finden sich bei Sedulius Scotus, der nicht nur feststellt, dass außer den sieben Unterarten der Allegorie noch weitere zu nennen seien, zum Beispiel die Metapher und Metonymie, sondern auch der Allegorie einen eigenen Bereich reserviert17 (hier der Schrifthermeneutik). Auch die letzte Unterart, den astysmos bzw. antismos, der eine besonders geschliffene feine Art ist, versteht er als einen Tropus, der ein großes Potential an ironischen Redeformen aufzuweisen hat: multiplex in uituperationibus atque cauillationibus ironicis.18
Mit der Poetik des Gervasius von Melkley von 1215 / 16, der immer noch Donats Erklärung der Ironie übernimmt, werden vor allem die Beispiele ausgewechselt durch neue antike Textstellen, hier besonders durch Martial und Statius.19 Zudem werden in einer neuen Systematik der Figuren die Allegoriearten unter contrarietas gestellt. Unter dem Gegenbegriff von similitudo und idemptitas finden sich jetzt Astismos und Aenigma sowie Paroimia, die früheren Unterarten der Allegorie, wieder.20 Noch bis ins Spätmittelalter und darüber hinaus rekapitulieren die rhetorischen Handbücher und Lexika die Ironieerklärungen, wie sie aus Donat adaptiert worden waren.21
In Isidors Rhetorikbuch der ‘Etymologiae’ kam noch eine zweite Bestimmung der Ironie nach Donat zum Zuge, die nicht den Bedeutungsgegensatz von Gesagtem und Gemeintem zum Kriterium für Ironie macht, sondern die Haltung des Ironikers: die Täuschung (simulatio), die freilich durchschaut werden will, also – im Gegensatz zur Lüge – auf Evidenz angelegt ist;22 Beispiel ist auch hier Lob als Tadel oder Tadel als Lob: „Für beides ist ein Beispiel, wenn man Catilina einen Liebhaber der Republik, Scipio einen Feind der Republik nennt.“23
Eine Schwierigkeit in den Ironiedefinitionen schon der Antike und so auch des Mittelalters ergab sich bei der Festlegung dessen, was man unter ‘Gegensatz’ verstehen wollte; denn schon in den antiken Texten, aber auch bei Isidor und besonders bei den hochmittelalterlichen Autoren war bewusst, dass es verschiedene Arten von Gegensätzen gab, die bereits Aristoteles systematisch beschrieben hatte: erstens den konträren Gegensatz (gut – schlecht), zweitens den kontradiktorischen (gut – nicht gut), drittens den relativen (doppelt – halb; Vater – Sohn), viertens den privativen (bzw. possessiven) (Sehen – Blindheit).24 Für die Ironie heißt das, dass sie durchaus auch in verschiedenen Arten und verschiedenen Stärkegraden (bis hin zu einer Skalierung) von Gegensätzen ausgedrückt werden konnte. Die zum Teil vorsichtigen Formulierungen in der antiken Theorie und bei mittelalterlichen Autoren dokumentierten die Bewusstheit des Problems. Cicero zum Beispiel sagt sowohl contrarium als auch abschwächend: cum alia dicuntur ac sentias;25 Isidor nennt den Gegensatz auch: diversum quam dicit intellegi cupit.26 Robert Kilwardby erklärt in seinem Donat-Kommentar von 1240 genau die engere und die weitere Bedeutung von ‘Gegensatz‘ (contrarietas). Die weitere umfasst alle Arten des Gegensatzes, die engere nur den konträren Gegensatz.27 Bei der Ironie, sagt Kilwardby, handele es sich um den weiteren Bedeutungsumfang: „Man muss also sagen, dass, wenn er [Donat] sagt: ,Ironie entsteht durch das Gegenteil‘, man Gegenteil allgemein als Gegensatz verstehen muss, weil die Figur durch Übertragung von jeder Art Gegenteil auf sein Gegenteil entsteht.“28 Der weitere Gegensatzbegriff, wie er ausführlicher erst in der Frühen Neuzeit diskutiert wurde,29 war dem Mittelalter also gleichwohl bekannt und ließ insbesondere der Gedankenfigur der Ironie großen Spielraum (wie dem Rezipienten späterer Zeiten Interpretationsprobleme).
Neue Überlegungen zur Ironie finden sich in der lebendigen Rhetorik des 13. Jahrhunderts. Boncompagno da Signa, der vor allem in Bologna wirkende Rhetoriklehrer, stellt – in einer Zeit des erstarkenden literarischen Ironiegebrauchs – verschiedene bis dahin weniger beachtete Aspekte der Ironie heraus. Er reflektiert die Möglichkeit, in der verdeckten Redeform der Ironie seine Entrüstung zu verbergen, was besonders den Klugen gelingt, während weniger Vorsichtige diese Fähigkeit nicht besitzen.30 Für die Ironie in Briefen sieht Boncompagno das besondere Problem, sie ohne sichtbare Ironiesignale, wie sie in der Face-to-face-Kommunikation durch Intonation, Mimik und Gestik gegeben werden, richtig und umsichtig zu formulieren.31 Er betont dann die stark beschämende Wirkung (maior pudor) dieser Redestrategie für die Personen, auf die sich die Ironie bezieht; selbst der Dümmste bemerke die Bloßstellung sehr wohl, nämlich wenn an ihm etwas gelobt wird, was nicht zutrifft; und Boncompagno belegt dies mit einer ganzen Beispielreihe, um daraus den Schluss zu ziehen: „In unaussprechlichen Schmerz geraten Menschen mit Entsetzen, die so gelobt, vielmehr getadelt werden, weil es ja nichts anderes als ein Tadel ist, das Fehlverhalten, im Gegenteil ausgedrückt, zu empfehlen und mit Witz zu erzählen.“32
In einem weiteren Abschnitt des Ironiekapitels des ‘Boncompagnus’ bringt Boncompagno mehrere krasse Beispiele von Wort- und Handlungsironie, die gleichfalls in die Richtung einer starken Beschämung weisen; sie vollziehen sich im Modus des Geschenkrituals. So schickt ein Vater seinem Sohn, der sein Studium vernachlässigt, Talg zu mit der Bemerkung, er habe gehört, dass er beim Studium so viel Talg verbraucht hätte, dass in der Stadt nichts mehr zu kaufen sei. Ein anderer schickte seinem dem Spiel hingegebenen Sohn ein Brettspiel und Würfel und befahl ihm, sein wissenschaftliches Studium eine Weile hintanzusetzen und seinen Geist im Spiel sich erholen zu lassen. Einem jungen Mann, der besonderen Wert auf seine Körperpflege legte, das heißt Spiegel, Kamm und Schminke nach Art der Frauen benutzte – „wie es heute ziemlich viele tun“ –, schenkte sein Vater einen Armreif, einen Spiegel und einen Schminktopf und begleitete dies mit dem Kommentar, er möge doch Frauenaufgaben erfüllen, da er selbst ja, nachdem jener sich in eine Frau verwandelt habe, ihn ehrenvoll verheiraten wolle. Ähnlich, sagt Boncompagno, wurde einem Studenten, der Kithara spielte, ein solches Instrument geschenkt, und er folgert: „Solche tadelnden Handlungen durchbohren wie ein scharfes Schwert die Herzen derer, die sich nicht nach der Norm verhalten, außer wenn die Getadelten etwa unzugänglich sind.“33 Boncompagno gibt damit Beispiele für eine ironische Pädagogik – allerdings gegenüber den schon erwachsenen Söhnen –, die für das Mittelalter durchaus rar sind.34
Auch über den schwierigen Grenzbereich zwischen Lob, Schmeichelei und den sich leicht einstellenden Ironieverdacht wird reflektiert, wenn Briefschreiber darauf achten sollen, eher Zurückhaltung zu üben und auf Angemessenheit Wert zu legen – so fordern es die ‘Aurea Gemma Gallica’ und die Brieflehre von Ventura von Bergamo; insbesondere mit Superlativen sei sparsam umzugehen.35 In diesem Sinn sind auch Widmungen meist Briefe, deren nicht selten überschwengliches Lob des Empfängers den modernen Leser – aber offenbar auch den mittelalterlichen – immer wieder zweifeln lässt, ob echtes Lob oder Ironie gemeint ist.
Die in der Figur angelegte Wirkungsintention der Ironie reicht von der freundlich-witzigen bis zur sehr verletzenden bitteren, beißenden Form in ihren Effekten; das ist im Mittelalter durchweg bewusst und wird bei ihrer Anwendung in den Quellen vielfach durch Adjektive wie amara oder amarissima ironia bemerkt. Als Ausdrucksform des milderen oder schärferen Spotts – ihre lateinischen Übersetzungen sind in der Regel derisio, irrisio – geht sie daher über die bloß diskursiv oder argumentativ vorgebrachte direkte Aussage hinaus, indem sie Emotionen evoziert und Überlegenheit oder Aggression demonstriert. Diese emotionale Komponente und die durch sie gegebene Eignung der Figur für Konfliktsituationen wird seit dem 13. Jahrhundert auch theoretisch erörtert36: ihr Nutzen zum Ausdruck heftigen Spotts (vehemens derisio), „diese Figur verwenden meistens Streitende“, „Ironie heißt sie nach dem Zorn (ira)“ usf. Wiederum analysiert dieses Merkmal Robert Kilwardby im Donat-Kommentar ausführlicher: „Der Grund aber, weshalb es ersprießlicher ist [Ironie anzuwenden], ist die größere Deutlichkeit (evidentia) des Spotts, denn wenn über das Schwarze gesagt wird, dass es schwarz ist, ergibt sich daraus kein Spott. Wenn aber über es gesagt wird, dass es weiß sei, ist eine Verspottung beabsichtigt, weil eine Zusammenstellung der Gegenteile, eine Juxtaposition der Opposita den Menschen größer und besser erscheint, und so wird die Schwärze deutlicher nach ihrer Absicht herausgestellt durch die Konfrontation mit der Weiße und dadurch wird eine Verspottung über die Schwärze oder das Schwarze erreicht.“37 Kilwardby fährt fort, das gelte auch für Nicht-Lobwürdiges, wenn man es lobt. Die stärkere Kraft des Emotionalen prädestiniert die Ironie also für den Gebrauch in prekären Situationen, in denen sie zugleich ihr kaschiertes Agieren wie ihre mehr oder weniger aggressive Expressivität entfaltet.