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2. Sokratische Ironie in der Kommentierung: Wilhelm von Conches
ОглавлениеWilhelm von Conches, seit 1120 Lehrer an der Kathedralschule in Chartres, war nicht nur mit den antiken Grammatikern vertraut – er verfasste etwa Glossen zu Priscian –, sondern hatte auch für einen Gelehrten des 12. Jahrhunderts beachtliche Kenntnisse der platonischen Philosophie: Er kommentierte die ‘Consolatio Philosophiae’ des Boethius, die Chalcidius-Übersetzung von Platons ‘Timaios’ und schrieb weitere ‘Glosae super Platonem’. Seine eigenen naturphilosophischen Werke, die ‘Philosophia’ und das ‘Dragmaticon Philosophiae’, beide in Dialogform verfasst, sind stark platonisch beeinflusst. Seine Lehre von der platonischen Konzeption der Weltseele zum Beispiel musste er später nach dem heftigen Widerstand von Wilhelm von Saint-Thierry und Bernhard von Clairvaux widerrufen.
In einem Kommentar zu Boethius erklärt er mehrere Aussagen der Dichtung zu Ironie, die von ganz anderer Art sind als die bisher in Einklang mit der rhetorischen Theorie stehenden aus der Glossenliteratur. Es geht jeweils um rhetorische Fragen, zum Teil in hypothetischen Formulierungen, für die sich beim Leser notwendig eine Verneinung einstellen muss, die also das Falsche oder Absurde gegenüber einem Richtigen tentativ formulieren. So fragt der Autor die in seinem Kerker erscheinende Philosophie zu Beginn, ob sie, die Meisterin der Tugenden, etwa auch angeklagt in den Kerker geworfen sei und von falschen Anschuldigungen bedrängt werde. Diese Frage erklärt Wilhelm ebenso für ironisch, wie er im Gedicht II 7, das den Gedanken ausdrückt, der Tod mache alle gleich und Ruhm habe auch für die Größten keinen Bestand, diesen von der ironischen Frage bestätigt sieht: „Die schönen Worte der Epitaphien, die wir kennen, können wir sie noch wahrnehmen (scire), wenn wir tot sind?“17 Dies sagt er ironisch (hoc dicit ironice), denn die Toten können nichts mehr wissen.18 Jedesmal verdeutlicht er die ironische Frage mit der Beigabe des Klartexts nach einem ac si dicat, „als ob er sagte“. Wilhelm scheint hier eine neue Form der Ironie anzuwenden, die mit der sokratischen verwandt ist nach dem Muster „meinst du etwa, dass …“ und möglicherweise von dort angeregt wurde. Auch der kolloquiale investigative Stil der Satiren des Persius ist mit sokratischer Gesprächsführung im Zusammenhang gesehen worden; die ironische Frage nach der Dauer des Dichterruhms bei Wilhelm kann auch auf eine inhaltliche Reminiszenz an die Persius-Glossen zur ersten Satire (I 36 ff.) zurückgehen. Gleichwohl lag für Wilhelm auch das Verständnis der ironisch gemeinten rhetorischen Frage als sokratische Figur nahe. Es ist dies ein Ironietyp, der dem Mittelalter nie zugestanden wurde. Dass er in Kommentaren des 12. Jahrhunderts, einer Zeit intensiver Rezeption des Platonismus auftritt, hat offenbar gute Gründe.