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5.

»Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!« Diese Aufforderung des italienischen Philosophen und Dichters Dante Alighieri in seiner »Göttlichen Komödie« lässt den irrtümlichen Eindruck entstehen, dass er bereits gewusst hat, was Unterricht in einer achten Klasse einer Hamburger Stadtteilschule bedeutet. Aber wenn dem tatsächlich so gewesen wäre, dann hätte er diesem Phänomen in seiner Schilderung des »Inferno« sicher einen ganzen Höllenkreis gewidmet. Hieronymus aber hatte das Phänomen kennen lernen dürfen und befand die übrigen Kreise der Hölle in Dantes »Inferno« seitdem als recht gemütliche Orte. Er hatte den Auftrag, die 8a im Fach Gesellschaft zu unterrichten, was aber nur bedeutete, die vier Wochenstunden einigermaßen heil an Körper und Seele zu überleben. Da fiel eine vorübergehende Taubheit seines Gehörs nach einer Doppelstunde überhaupt nicht ins Gewicht.

Eigentlich waren die Unterrichtsthemen, festgelegt durch den sogenannten Rahmenplan, welcher zur Zeit ein »Verfallsdatum« von knapp einem Jahr aufwies, ja unter anderem die ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklungen des Neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland, aber das sahen die lieben, voll pubertierenden Schülerinnen und Schüler ganz anders als der Rahmenplan und ihr Lehrer, denn sie waren vor allem an ihrer eigenen ökonomischen und sozialen Entwicklung in gelegentlicher und lockerer politischer Kooperation mit Mitschülern, aber meist eher in Konkurrenz zueinander interessiert.

Zum zweiten Mal heute fiel Hieronymus eine Zeile aus BOB DYLANs All Along the Watchtower ein:

»There must be some way out of here!«

Ansonsten versprach er sich nur das Schlimmstmögliche von der bald anstehenden Klassenarbeit. Er würde seine Benotungsansprüche wieder einmal in den Keller bringen müssen, denn da eine Klassenarbeit, bei der mehr als ein Drittel der Ergebnisse »unter dem Strich« lagen, von der Schulleitung genehmigt werden musste, würde eine Beibehaltung seines geplanten und ohnehin schon niedrigst angesetzten Bewertungsmaßstabes zur Folge haben können, dass die Arbeit eben nicht genehmigt werden würde und daraufhin zu wiederholen sei. Hieronymus vermochte aber keinen Grund für die Annahme zu sehen, dass eine Wiederholung außer zu mehr Arbeit für ihn und zu einem Proteststurm der Klasse zu einem besseren Ergebnis führen würde.

Die Schüler wussten nichts, kannten nichts und konnten nichts. Natürlich nur bezogen auf die Unterrichtsinhalte, bezogen auf aktuelle Serien und die Werbung im Privat- und Bezahlfernsehen oder im Netz, auf Themen und Meinungen in den sozialen Netzwerken und überhaupt jeden öffentlichen Klatsch und Tratsch, waren sie dagegen hochinformiert und topfit.

Doch Hieronymus überlebte den »Winter« dieser fünften und sechsten Stunde in der 8a am Montag wie üblich auch diesmal. Er durfte sogar Alfredo begrüßen, der kurz einmal hereinschaute, aber sich nach einer Viertelstunde wieder trollte, nachdem er die Klasse nach Kräften »aufgemischt« hatte. Angeblich ging er zu einer besonderen Maßnahme der Schule zur Betreuung für Schüler wie ihn, was Hieronymus aber aktuell nicht überprüfen konnte, weil er nicht über eine Teilnahme Alfredos an dieser Maßnahme informiert worden war, die Maßnahme sowieso nur vom Hörensagen kannte und deswegen auch nicht wusste, wen er wo und wann deswegen nach dem Unterricht darauf hätte ansprechen können.

Den »Pieper« für die Schülertoilette behielt Hieronymus tunlichst in der Hosentasche und rückte ihn nur heraus, nachdem sich ein Schüler, der die Toilette während der Unterrichtszeit aufsuchen wollte, einigermaßen ordentlich in die dafür zur Dokumentation ausliegende Liste eingetragen hatte. Anderenfalls wäre der »Pieper« am Anfang der Stunde bereits verschwunden gewesen und die ganze Unterrichtszeit von Hand zu Hand gegangen, wenn die Schüler zu zweit oder in größeren Gruppen das Bedürfnis nach einem ausführlichen Plausch auf der heimeligen Toilette verspürt hätten. Aber auch so musste Hieronymus zwischendurch eine Gruppe von

Schülern, die sich im Treppenhaus vor dem Klassenraum versammelt hatten, ziemlich energisch wieder zum Unterricht in den Klassenraum komplimentieren.

Natürlich gab es auch einige Schüler, die heute keinen Tag zum »Austicken« hatten, sondern nahezu die ganze Zeit konzentriert arbeiteten, Hieronymus gelegentlich um Hilfe bei ihren Aufgaben baten und nur kurz und vorübergehend in ein Gesprächsgeplänkel mit anderen abglitten. Andere aber verspürten das plötzliche, ununterdrückbare Bedürfnis laut zu singen oder sich bei Mitschülern auf den Tisch zu setzen. Hier im Neubau gab es keinen eigenen Gruppenraum als abgegrenztes Territorium einer Klasse mehr, so dass sich lernwillige Schüler ebensowenig darin vom Rest der Klasse absondern konnten wie solche, die möglichst unbeobachtet vom Lehrer ihren unterrichtsfremden Beschäftigungen nachgehen wollten. Der einzige Differenzierungsraum der ganzen Etage war für Wochen schon ausgebucht.

Es war auch wieder kaum zu glauben, was sich alles nach Meinung der Lieben als Wurfgeschoss eignete; da konnte schon mal eine Schere quer durchs Klassenzimmer fliegen. Der immer wieder aufs Neue anschwellende Lärmpegel in der Klasse machte zwar anscheinend den Schülern nichts aus, sorgte aber wieder dafür, dass Hieronymus für einige anschließende Stunden in seiner Hörfähigkeit eingeschränkt war. Dass der Hausmeister während der Unterrichtszeit den Rasenmäher direkt unterhalb des Klassenzimmers knattern lassen musste, weil es natürlich nicht möglich war, solche Arbeiten am späteren Nachmittag nach Unterrichtsschluss zu erledigen, spielte eigentlich auch keine Rolle mehr.

Beinahe hätte Hieronymus sein Vorhaben vergessen, nach dem Unterricht des Tages noch die Noten für seinen Viertsemesterkurs der Oberstufe abzugeben, denn er hatte bereits den Schuleingang hinter sich gelassen und den Weg zu seinem Wagen eingeschlagen, als es ihm glücklicherweise doch wieder einfiel und er kehrt machte, um es noch zu erledigen.

Auf diese Weise kam Hieronymus an diesem Tag zum zweiten Mal an dem Motto der Schule vorbei, einem Zitat des Namensgebers, welches in Bronze gegossen neben der Eingangstür hing und schon mehrfach Opfer eines Farbattentats geworden war:

»Die Akzeptanz der Unterschiede ist Voraussetzung für die Überraschung von Gemeinsamkeiten.«

Noch niemals überrascht war Hieronymus davon gewesen, dass die Schüler generell ebenso über Unterrichtsausfall erfreut waren wie er, trotz aller Unterschiede zwischen ihnen und ihm, akzeptiert oder nicht.

Pures Glück war es dann ebenfalls, dass einer der Rechner, in die er seine Zensuren eingeben konnte, nicht besetzt war und ihm nach den zwei Stunden 8a-Inferno sogar das erforderliche Passwort für die Eingabe wieder einfiel. Allerdings hatte sich das Passwort seit fünf Jahren auch noch nie geändert. Die Noteneingabe selbst bewältigte Hieronymus mit zitternden Fingern auch noch relativ problemlos, aber der Drucker wollte ihm partout nicht die Liste ausspucken. Dabei hätte er gerne in Ruhe zuhause die Eingaben in den Rechner mit seinen Eintragungen in dem gelben Kursheft noch einmal verglichen, anstatt dies erst bei der Zeugniskonferenz am Mittwochnachmittag tun zu können.

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