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3.

Diese Gelegenheit, sich an die Neuigkeiten zu erinnern, ergab sich rascher als gedacht, nämlich schon in der nun folgenden Unterrichtsstunde Deutsch in einem Kurs aus Zehntklässlern. Nachdem man »oben« die organisatorische Differenzierung des Unterrichts nach zwei Leistungsniveaus wenigstens in den sogenannten Kernfächern vor einigen Jahren abgeschafft hatte, hatte man »unten« alsbald merken müssen, dass es weniger Schüler wurden, die am Ende von Klasse Zehn höhere Leistungsniveaus erreichten und deswegen den Weg zum Abitur in der Oberstufe antreten durften.

Da hatte wohl irgendetwas mit der sogenannten Binnendifferenzierung im Unterricht nicht so funktioniert, wie man sich das an den Schreibtischen und in den Konferenzräumen der Schulbehörde vorgestellt hatte. Wie denn auch, wenn von dort keine brauchbaren Hilfen kamen für den Anspruch, zwischen dem Leistungsniveau und Arbeitswillen von absoluten Dumpfbacken und denen von begabten und strebsamen Jugendlichen in demselben Unterricht derselben Unterrichtsstunde als Unterrichtender differenzierend aktiv sein zu können? Mit noch einigen Zwischenstufen nötiger Differenzierung, versteht sich. Klar, es gab mittlerweile Lehr- und Lernwerke mit jeweils drei Anspruchs- und Leistungsniveaus pro Aufgabenstellung für einige Fächer, aber deren Differenzierung bildete die Realität so gut und genau ab und wurde ihr damit ebenso gerecht, wie das Foto einer Schule von außen das offenbaren konnte, was in ihr vorging.

Einige Hamburger Schulen hatten deshalb die äußere Leistungsdifferenzierung in den sogenannten Kernfächern bei ihrer Organisation von Lerngruppen klammheimlich wieder eingeführt. Die Namensgebung solcher Kurse, rekrutiert aus mehreren Klassen, war noch nicht abgeschlossen, sondern eine noch offene Frage, aber für den Deutschkurs von Hieronymus hatte sich der irreführende Name »Turbokurs« eingebürgert, weil in ihm alle diejenigen Schülerinnen und Schüler aus allen Klassen des Jahrgangs lernten, die am Ende der neunten Klasse die offizielle Prognose schriftlich erhalten hatten, dass sie bei gleich bleibender Entwicklung am Ende der Klasse Zehn voraussichtlich den MSA, den »Mittleren Schulabschluss« erreichen könnten. Einen früher so bezeichneten »Realschulabschluss« oder die »Mittlere Reife« gab es offiziell nicht mehr - zur aktuellen Bildungspolitik gehörte ja auch, die Hoheit über die Sprache zu behalten. Irreführend war die Bezeichnung »Turbokurs« deshalb, weil man dann ja ebenso gut von »Turbo« sprechen könnte, wenn man bei einem Kleinwagen während der Fahrt die angezogene Handbremse löst, denn er bleibt ja trotzdem ein Kleinwagen.

Nachdem die Schüler in Hieronymus´ Kurs bereits ihre schriftlichen Prüfungen für den MSA mit mehr oder weniger Erfolg hinter sich gebracht hatten, standen ihnen zum Erreichen dieses Ziels noch die ergänzenden mündlichen Prüfungen in den drei sogenannten Kernfächern Deutsch, Englisch und Mathematik bevor. Auf die Deutschprüfungen hatte Hieronymus seine Schüler derzeit vorzubereiten. Thema der Prüfungen sollte der Roman »Das Feuerschiff« von Siegfried Lenz sein.

Drei der Schüler hatten Hieronymus zu Beginn der Doppelstunde mitgeteilt, dass sie seinen Unterricht sofort verlassen müssten, weil sie bei der Kollegin Sittmann, der Abteilungsleiterin der Mittelstufe, noch eine Klassenarbeit nachzuschreiben hätten. Weil Hieronymus diesbezüglich nicht vorab informiert worden war, hatte er versucht, die Aussage der Schüler bestätigt zu bekommen, bevor er sie entließ, aber Anke Sittmann hatte er in ihrem Büro nicht vorgefunden, und niemand, den er getroffen hatte, hatte ihm sagen können, wo sie abgeblieben war. Demnach war ihm nichts anderes übrig geblieben, als den drei Schülern zu vertrauen und darauf, die entsprechende Information der Kollegin wenigstens im Nachhinein zu bekommen (was tatsächlich eintreten würde).

Nachdem die Schüler etwa zehn Minuten nach Beginn des Unterrichts bereits zur Ruhe gekommen waren - es gab ja immer so viel, was man sich noch zu sagen oder zu fragen oder zu kommentieren hatte, waren dann schließlich die meisten von ihnen mit den Arbeitsmaterialien zu dem Roman beschäftigt, die ihnen Hieronymus in der vorangegangenen Woche gegeben hatte. Einige lasen aber offensichtlich noch die Erzählung selbst, obwohl das bereits Aufgabe über die Märzferien gewesen war. Andere wiederum waren mit den Arbeitsmaterialien bereits fertig, für diese vor allem hatte Hieronymus vor der Stunde ergänzendes Material erstellt. Er hoffte, in den folgenden Stunden dann mit möglichst allen Schülern deren Ergebnisse zu den Materialien besprechen zu können. Insoweit »business as usual« für Hieronymus.

Was ihn jedoch plötzlich innerlich zusammenfahren ließ, war die jetzt erst registrierte Tatsache, dass Max anwesend war. Dessen notorische Verspätungen beschränkten sich zwar inzwischen zumeist auf die erste Stunde eines Tages und kamen nicht mehr so oft noch in der zweiten oder einer noch späteren Stunde vor, aber dennoch erstaunte seine heutige Anwesenheit Hieronymus. Max wurde von den meisten so genannt, auch von Hieronymus, einige Freunde nannten ihn auch Leo nach seinem zweiten Vornamen und andere, die ihn aus Gewohnheit mobbten oder einfach nur nicht leiden konnten, nannten ihn »Mäuschen«, denn er hieß mit vollem Namen Maximilian Leonard Mausmann und war der Sohn aus zweiter Ehe dessen, von dessen Ableben Hieronymus soeben zwischen Tür und Angel erfahren hatte. Max sah mindestens zwei Jahre älter aus als seine Mitschüler im Jahrgang, war aber in Wirklichkeit nur ein gutes Jahr älter als der Durchschnitt und hatte bereits eine bewegte Schulkarriere hinter sich. Da Hieronymus sein Klassenlehrer in der 10e war, wusste er davon.

Eigentlich hatte Hieronymus nach der chaotischen Todesbotschaft von kurz zuvor annehmen dürfen, dass der Sohn des Ermordeten nicht gerade heute das Bedürfnis verspüren könnte, am Unterricht teilzunehmen. Andererseits wusste Hieronymus aber auch, dass Max nicht mehr zuhause, sondern in einer betreuten Wohngemeinschaft lebte. Konnte es daher sein, dass Max vom Tod seines Vaters noch gar nicht erfahren hatte? Sollte Hieronymus ihn darauf ansprechen, ihm kondulieren oder lieber noch nicht? Wie würde Max hier in der Unterrichtssituation auf die Nachricht reagieren, wie würde sich Hieronymus richtig verhalten können im Falle, dass Max es noch nicht wusste bisher? Er war vielleicht heute ein bisschen blasser im Gesicht als sonst ohnehin immer, aber das konnte ja auch Folge eines exzessiven Wochenendes sein.

Hieronymus vermochte es aber im Moment nicht, seine Überlegungen länger fortzusetzen oder ihnen sogar eine Entscheidung für sein Verhalten abzuringen, denn plötzlich ging die Tür zum Klassenraum auf und Lukas Lee Lennox, genannt Luke, betrat die Arena. Für diesen war das Anklopfen an eine Tür von außen vor dem Betreten eines Raumes eine völlig fremde Verhaltensform und so setzte er seinen Weg durch die Klasse zu einem Regal an der hinteren Wand auch zielstrebig, aber ohne Eile und wortlos fort, wie es ihm als einem »Jedi-Ritter« ja auch gebührte. Er fand auf seinem lässigen Gang durch den Raum sogar noch die Zeit, sich kurz im Schritt seiner hellgrauen Jogginghose zu kratzen, obwohl ihn die mittig unter dem Bauch hängende Gürteltasche dabei etwas behinderte. Eigentlich überflüssig zu ergänzen, dass er jegliches Klischee noch zusätzlich damit bediente, dass seinen Kopf über dem T-Shirt mit einer schwer zu entziffernden Textbotschaft eine Baseballkappe mit dem Schirm im Nacken zierte.

Es war auffallend still geworden in der Klasse, nur die leise vor sich hin quietschenden Gummisohlen von Lukes Converse-Ersatz-Latschen ergaben das beinahe einzige Geräusch. Einige Schüler sahen Hieronymus erwartungsvoll an, aber der dachte an:

»There are many here among us who feel that life is but a joke« von BOB DYLAN in All Along the Watchtower.

Ihm war ohnehin schon klar, dass wieder einmal ein NvG, ein »Normen verdeutlichendes Gespräch«, mit Luke fällig war. Glücklicherweise gehörte Luke ja nicht in Hieronymus´ Klasse 10e, und auch deshalb beschloss dieser in diesem Moment, besagtes Gespräch nicht gerade jetzt unmittelbar anzustreben, sondern später bei einer anderen Gelegenheit, zum Beispiel bei der nachfolgenden Pausenaufsicht im Hof. Außerdem versprach sich Hieronymus von diesem NvG nicht wirklich viel. Luke würde ihm aufmerksam zuhören, jedenfalls die ersten zehn Sekunden lang, danach würde sein Blick abschweifen, seine Augen, in denen nichts an Ausdruck zu finden sein würde, würden sich ein interessanteres Ziel suchen, an das sie sich heften konnten. Abschließend würde er in seiner reduzierten Sprache beteuern, dass er es künftig besser machen wolle, um bereits nach wenigen Schritten, die er sich danach würde entfernen dürfen, das Vorgefallene und das soeben erst Versprochene wieder zu vergessen.

Nachdem Luke den Klassenraum mit seinen Sachen aus dem Regal, die zu holen er entweder beschlossen hatte oder von einer anderen Lehrkraft beauftragt worden war, ebenso stringent wie unantastbar als »Jedi-Ritter«, der gerne auch wirklich »Skywalker« anstatt nur Kollinghoff heißen würde, wieder verlassen hatte, blieb von der Unterrichtsstunde sowohl zeitlich als auch von der Arbeitsdisziplin her nicht mehr viel übrig. Allerdings hatte Hieronymus, der durch den Klassenraum pendelte, um den Schülern bei ihren Aufgaben zu helfen, aber auch um sie in ihrem Tun zu kontrollieren, mit Mina, einer Schülerin »mit Migrationshintergrund«, wie es inzwischen politisch korrekt hieß, dabei war sie eigentlich lediglich in Afghanistan geboren worden, noch ein sehr erfreuliches Gespräch über Doktor Caspari, einen der Protagonisten aus dem »Feuerschiff«. Mina fand dessen Charakter in seiner verzweifelten Widersprüchlichkeit, wie sie es nannte, viel authentischer und damit überzeugender als Kapitän Freytag, dessen gradlinige Prinzipientreue sie »Sturheit« nannte. Hieronymus versprach sich daher eine interessante Fortsetzung ihres Gesprächs in der mündlichen Prüfung in einigen Wochen und das sagte er Mina auch, die daraufhin strahlte, als könne sie sich auf diese Prüfung jetzt sogar ein bisschen freuen.

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