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1.

»I am older now, but still running against the wind«, versicherten BOB SEGER & THE SILVER BULLET BAND nachdrücklich aus den Lautsprechern des Lada Niva, und der Text dieses Liedes aus dem Album Against the wind war für Hieronymus gut zu verstehen, denn von einem »Running« konnte gerade überhaupt keine Rede sein, weil Schritttempo mit dem Wechsel zu Stillstand und zurück angesagt war. Das war nicht ungewöhnlich derzeit in Hamburg, wo es eigentlich fast nur drei Gründe für Staus verursachende Straßenbauarbeiten gab.

Einmal der Jahrzehnte alte Rückstau für die Sanierung maroder Straßen und Brücken. Es war schon fast soweit gekommen, dass Hieronymus vor dem Überfahren einer Brücke vorher ausgestiegen wäre, um sich von der Möglichkeit einer gefahrlosen Nutzung des Bauwerks mitsamt Fahrzeug vorher fußläufig zu überzeugen. Die vielen Schlaglöcher hingegen konnten ihn wegen seiner geländetauglichen Russenschaukel nicht erschrecken.

Zum Zweiten gab es da noch die Baumaßnahmen zur sogenannten Busbeschleunigung in Hamburg, die es ausgewählten Linien für viel investiertes öffentliches Geld ermöglichen sollten, ihren Fahrgästen bis zu fünfzehn Minuten ihrer sicherlich wertvollen Zeit im Bus einzusparen, falls sie von einer Endhaltestelle zur anderen fahren sollten, was ja die meisten schon allein der enormen Zeitersparnis wegen auf jeden Fall tun würden. Aus großer Sorge um die finanziellen Verluste wegen schwarzfahrender Mütter mit Kinderwagen hatten die Verkehrsbetriebe erst vor kurzer Zeit die individuelle Fahrscheinkontrolle vorne beim Fahrer verbindlich wieder eingeführt. Wenigstens die dadurch bedingten zeitlichen Verluste hoffte man wohl mittels der staatlich finanzierten sogenannten Busbeschleunigung wieder aufholen zu können.

Und zum Dritten gab es den Ausbau der Unfreien und Krämerstadt Hamburg zur neuen Weltmetropole des Fahrradverkehrs. Nicht nur die Autofahrer wie gerade Hieronymus und die Busbenutzer, die derzeit wegen der konzertierten Baumaßnahmen Unmengen von ihrer Lebenszeit in Verkehrsstaus vergeuden durften, konnten sich in der künftigen »Fahrradstadt Hamburg« erst recht warm anziehen, sondern zum Beispiel auch eine Stadt wie das dänische Kopenhagen, das bekannt war für seine Fahrrad freundliche Verkehrspolitik, sollte sich dann hinter Hamburg gefälligst in die zweite Reihe der europäischen Metropolen zurückziehen. Um das zu erreichen, war den Hamburger Planern nichts zu schade und nichts zu teuer. Da machte man eben eine Fahrrad-Lobbyistin zur hauptamtlichen Beraterin und riss erst kürzlich renovierte Radwege aufwändig ab, um sie mittels einfacher weißer Fahrbahnmarkierungen zur Straßenverengung am Straßenrand wieder auferstehen zu lassen. Dort häufig stehende Busse, Müllwagen oder Lieferwagen sorgten für die vorher vermisste Abwechslung für die Radler, indem sie sich sie umfahrend mitten auf die Straße in den Verkehr wagen durften.

Hieronymus war mitunter ganz gerne mit dem Fahrrad in der näheren oder weiteren Umgebung in der Stadt umhergefahren, doch seit ihm dabei in einem halben Meter Entfernung an ihm vorbei bretternde Lastwagen oder Busse (baulich beschleunigt oder nicht) die Nackenhaare unter dem Helm durcheinander wirbelten, hatte er die Lust am Radfahren eingebüßt und ließ er sein Rad zuhause im Keller vermodern.

Heute morgen war er mit etlichen Ausrufen wie: »Sch...!«, oder auch: »So ´ne Sch... wieder auch!«, im Auto auf dem Weg zu Max Mausmann, der sich seit über einer Woche in keinem Unterricht mehr hatte blicken lassen. Eine schriftliche oder telefonische Entschuldigung fehlte ebenso bisher. Obwohl Hieronymus ihm einen gewissen Schock über das gewaltsame Ableben seines Vaters durchaus zugestand - schließlich hatte er sich ja an jenem Montag noch gewundert über Max´ Anwesenheit in der Schule unmittelbar nach dem Tod seines Vaters -, kannte er das Verhältnis zwischen Vater und Sohn doch gut genug, um eine zehntägige Trauerarbeit von Max nicht für angemessen und wahrscheinlich halten zu können. Hieronymus hatte an diesem Tag erst später Unterricht und hielt es deshalb für eine gute Idee, mit Hilfe eines Besuchs in der betreuten Wohngemeinschaft, in der Max zuhause war, diesem am frühen Vormittag, wo er wahrscheinlich nicht auf Achse war, sondern sich noch von den Unternehmungen des Vorabends erholen musste, auf den Zahn zu fühlen, was sein derart langes unentschuldigtes Fehlen im Unterricht anbelangte.

Max war erst im vorletzten Jahr während des ersten Schulhalbjahres der neunten Klasse in Hieronymus´ Klasse gekommen. Nicht wirklich freiwillig, gerne und wohl auch nur auf Betreiben des Herrn Schulinspektors Dr. Mausmann hatte Max Mausmann sein bisheriges Gymnasium in Harvestehude hinter sich gelassen und hatte seine schulische Karriere an der Peter-Ustinov-Schule fortsetzen müssen. Natürlich hatte Hieronymus keine wirkliche Auskunft über die Gründe und Hintergründe dieses Schulwechsels bekommen, auch die Schülerakte von Max, die Hieronymus als sein neuer Klassenlehrer natürlich zu Rate hatte ziehen wollen, gab diesbezüglich nichts her außer der allgemein gehaltenen, inhaltsleeren behördlichen »Verfügung betreffend einen Schulwechsel aus pädagogischen Gründen«. Aber inoffiziell hatte Hieronymus dann davon erfahren, dass Max an seiner alten Schule »Probleme mit Drogen« gehabt habe und in diesem diffusen Zusammenhang dort auch in die Beschaffungskriminalität geraten sein solle. Die Versetzung nicht nur in eine andere Schulform, vom Gymnasium an eine Stadtteilschule, sondern zudem in einen anderen, ziemlich entfernten Stadtteil von Hamburg, sollte also wohl eine Art von Bewährungsstrafe sein, wie Hieronymus es positiv zu deuten versuchte. Vielleicht war es aber auch eher eine Schutzmaßnahme für ein altes ehrwürdiges Hamburger Gymnasium in einem »besseren« Stadtteil vor einem Außenseiter im Einklang mit den Interessen von dessen Erziehungsberechtigten, die im selben Stadtteil ansässig waren.

Während der ersten Wochen an seiner neuen Schule hatte sich Max völlig in sich zurückgezogen, saß in der letzten Reihe in der Klasse ohne direkten Nachbarn, wenn er überhaupt anwesend war, denn er fehlte oft, kam öfter noch zu spät zur Schule und äußerte sich praktisch nur dann, wenn er speziell angesprochen wurde. Etwa zur gleichen Zeit wie der Schulwechsel fand wohl auch der Auszug aus der elterlichen Wohnung und der Einzug in eine Wohnung statt, die vom »Rauhen Haus« in Hamburg-Horn betreut wurde. Weil Max Mausmann sicher nicht im pekuniären Sinn als bedürftig für eine solche Unterstützung gelten konnte, nahm Hieronymus an, dass ihre Verwirklichung durch ein entsprechend angepasstes, großzügiges Spenderverhalten seiner Erziehungsberechtigten für die Stiftung begünstigt worden sein dürfte. Seither war mehr als ein Jahr vergangen, und Max war nicht wieder auffällig geworden. Mit der Zeit wurden dann auch seine Fehlzeiten geringer und näherten sich dem für viele Jugendliche normal hohen Niveau an. Wirklich redselig oder gar geschwätzig war er nicht geworden, aber inzwischen beteiligte er sich am Unterricht und war auch ein von den meisten Mitschülern anerkanntes Mitglied der Klasse geworden, so dass Hieronymus erwartete, dass er das zehnte Schuljahr mit einem Mittleren Schulabschluss würde beenden können. Und genau das, so befürchtete Hieronymus, wäre aktuell gefährdet, wenn Max jetzt nach dem Tod seines Vaters und damit dem Fehlen von dessen autoritärer Führung aus dem Ruder liefe und wieder anfangen würde, seine Schulausbildung zu vernachlässigen oder sogar ganz schleifen zu lassen.

Natürlich hätte Hieronymus nicht erst zehn Tage warten dürfen, bevor er auf Max´ Fehlen endlich reagierte, aber einerseits musste es ja erst einmal richtig zu ihm durchdringen, denn schließlich sah er seine Klasse ja nicht täglich, und manche Kollegen nahmen es mit den Fehlzeitenmeldungen nicht so genau oder erledigten diese nicht so zeitnah wie erforderlich, und andererseits gab es ja noch andere Schülerinnen und Schüler, um die sich Hieronymus zu kümmern hatte, sowie andere Zeit kostende Aufgaben und Verpflichtungen. Einige Versuche, Max telefonisch zu erreichen, waren zwischenzeitlich leider gescheitert. Seine Handynummer funktionierte nicht, und an dem Anschluss der WG teilte man ihm immer nur höflich mit, er sei leider gerade nicht da. Max hatte am Ende der neunten Klasse den Ersten Schulabschluss gerade so eben geschafft, vorwiegend wohl, ohne sich dafür anstrengen zu müssen, weil er noch von seinem vom Gymnasium mitgebrachten Potential zehren konnte, aber Hieronymus traute ihm mehr als das zu, eigentlich sogar eine Fortsetzung der Schule bis zum Abitur mittels eines entsprechend qualifizierten Mittleren Abschlusses. Zudem glaubte Hieronymus, zu Max inzwischen einen gewissen Zugang gefunden zu haben. Zwar war ihr Verhältnis zueinander noch nicht völlig entspannt oder gar persönlich, schließlich war Hieronymus als Max´ Klassenlehrer ja auch Repräsentant des Systems Schule, jenes Systems also, das Max aus dessen Sicht in der Vergangenheit übel mitgespielt hatte, da machte sich Hieronymus keine Illusionen, aber auch im Vergleich zu den Mitschülern konnte man normal bis offen miteinander umgehen.

Entsprechend motiviert, aber gleichzeitig frustriert wegen der Verkehrsbedingungen und deswegen wie ein Rohrspatz lauthals vor sich hin schimpfend, bewegte sich Hieronymus in seinem Auto durch die Stadt in südöstlicher Richtung auf Hamburg-Horn zu, um wieder einmal mit einem Hausbesuch zu versuchen, eines seiner (schwarzen) Schäfchen auf den rechten Weg zurück zu führen, wohl wissend, dass das »Schäfchen« nicht immer brav gewesen war, für sein Alter schon zu viele schlechte Erfahrungen im Leben hatte machen müssen und deshalb bereits seelisch ziemlich verhärtet sein musste. Wenn da bloß nicht ein Stau den anderen ablösen würde!

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