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Im Spät- und Nachtdienst
ОглавлениеNach zwei Wochen ununterbrochenem Frühdienst, eigenverantwortlich auf der Station 4, bekam ich zwei Tage frei. Danach sollte ich mit anderen Kollegen zum Schießen nach Spandau fahren, damit ich dann auch zum Turmdienst eingeteilt werden konnte. Dies war eigentlich sehr früh, es war jedoch den Vorgesetzten bekannt, dass ich als ehemaliger Bereitschaftspolizist bereits gründlich im Schießen ausgebildet worden war. Ich freute mich darauf, weil ich gerne mit Schusswaffen umging und erhebliche Erfahrung hatte. Bei der Polizei hatte ich mit dem Karabiner 36, mit der Neunmillimeterpistole „Astra", mit dem leichten und dem schweren Maschinengewehr sowie mit der Maschinenpistole jeweils mehrmals im Jahr geschossen und stets die Bedingungen erfüllt. Auch beim „Labor Service“ wurden allgemein zweimal im Jahr mit einem halbautomatischen Sturmgewehr Schießübungen abgehalten.
In Spandau schossen wir mit dem „Natogewehr G 3“ zweimal jeweils zehn Schuss auf 100 und 200 Meter Entfernung. Mindestens sechs Schuss je Übung mussten im Ziel sein, was mir mühelos gelang. Am nächsten Tag fand das Pistolenschießen in einem Schießkeller der Polizei statt. Es wurde mit der Pistole „P 1“ aus 25 Metern aufgelegt und aus zehn Metern freihändig geschossen, jeweils fünf Schuss. Auch diese Schießübungen absolvierte ich erfolgreich.
Nach dem Schießen wurde ich zum Nachtdienst mit anschließendem Spätdienst eingeteilt. Der Nachtdienst war allgemein eine ruhige Angelegenheit, man musste am Tage nur genügend schlafen, um im Dienst, insbesondere auf dem Turm, wach zu bleiben. Der Dienst begann um 22.15 Uhr und endete um 6.15 Uhr, sieben Nächte hintereinander. Allgemein lösten wir schon zur vollen Stunde, um 22 und 6 Uhr ab. Wir hatten damals im Verwahrhaus II eine Belegung von über 1000 Gefangenen.
Der Nachtdienst bestand aus einem Schichtführer, zumeist einem Hauptwachmeister, und vier Bediensteten, die sich im Turmdienst abwechselten. Einer war immer auf dem Turm 5, sodass nur vier Kollegen ständig im Hause waren, bei der Turmablösung sogar nur drei. Wenn der Turm abgelöst wurde, ließ der oben befindliche Bedienstete außen einen Schlüssel an einer Schnur herunter, der Ablösende schloss auf und kam die steile Eisentreppe herauf. Der Abgelöste ging hinunter, schloss den Turm von außen wieder ab und hängte den Schlüssel an die Schnur. Dann ging er zurück ins Haus. In einem Halter stand das Gewehr mit einem Magazin, das zehn Schuss enthielt. Es war halbautomatisch, es lud also nach dem Schuss selbständig nach. Nachts dauerte der Turmdienst jeweils eine Stunde, am Tage zwei Stunden. Der Turm hatte ringsum große Schiebefenster, ein Feldtelefon und eine nicht sehr wirksame Heizung. An den kalten Tagen, wie jetzt im Januar, war es hier recht ungemütlich. Ich lief häufig auf der zweimal zwei Meter großen Fläche hin und her, um nicht zu frieren und um wach zu bleiben. Das Gewehr auf dem Turm war nicht die einzige Bewaffnung. Nach dem Einschluss um 18 Uhr wurden an den Spätdienst Pistolen ausgegeben, die zuvor vom Schichtführer von der Pforte geholt worden waren, wo sie in einem Panzerschrank lagerten. Die Pistolen wurden bei der Ablösung um 22.15 Uhr vorschriftsmäßig entspannt und gesichert, mit herausgenommenem Magazin, an den Nachtdienst übergeben.
Als ich um 3 Uhr vom Turm kam, sah ich, dass auf der Station 6 die Fahne geworfen worden war. Ich ging an die Zellentür, schaltete das Licht an und fragte den Gefangenen durch den Spion schauend, was er wolle. Er klagte über starke Bauchschmerzen und bat um ein Medikament. Ich sagte das dem Schichtführer, der den Sanitäter, der gerade im Zuchthaus war, benachrichtigte. Dieser kam dann auch und ging mit mir und einem zweiten Kollegen zur Zelle des betreffenden Gefangenen. Der Kollege hatte zuvor seinen Pistolengurt abgeschnallt und schloss die Zellentür auf. Ich stand zur Absicherung auf dem gegenüberliegenden Gang mit der Hand auf der Pistolentasche. Diese Methode wurde allgemein immer so angewandt, damit keine unliebsamen Überraschungen auftreten konnten. Der Sanitäter gab dem Gefangenen ein Zäpfchen. Es gab sehr viel ärztliche Medikamentenverordnungen für Gefangene, die von den Krankenpflegern zusammen mit einem Sanitätskalfaktor anhand einer Verordnungsliste nachmittags vor dem Einschluss verteilt wurden. Bei Medikamenten zur Beruhigung, zum Beispiel Valium, welches nur wenige Gefangene bekamen, wurde es dem Gefangenen regelrecht in den Mund geworfen und überprüft, ob er es wirklich geschluckt hatte. Es bestand nämlich die Gefahr, dass er das Valium sammelte, entweder um es in größerer Menge auf einmal einzunehmen oder an andere Gefangene gegen Tabak zu verkaufen, denn Tabak konnte man damals im Vollzug durchaus als Währung bezeichnen.
Weitere Meldungen durch Gefangene waren in dieser Nacht nicht zu verzeichnen. Um 6 Uhr machten wir in allen Zellen das Licht an, indem wir von Zelle zu Zelle gingen, den Lichtaußenschalter anknipsten und gleichzeitig beim Durchschauen feststellten, ob alle noch vorhanden waren. Nicht alle Bediensteten blickten in die Zelle, manche traten nämlich nur mit dem Stiefel gegen die Tür, um die Insassen aufzuwecken. Diese Methode war bei den Gefangenen nicht sehr beliebt und natürlich auch nicht der betreffende Bedienstete.
Am Sonnabendmorgen waren die sieben Nächte geschafft und wir hatten nun frei bis Montag um 14.15 Uhr, zu Beginn der sieben Spätdienstnachmittage.
Der Spätdienst lief auch nach vorgegebenen Regeln ab. Die arbeitenden Gefangenen in den Betrieben kamen schon kurz nach 15 Uhr zurück. Sie hatten regelmäßig nach Abzug der Mittagspause nur einen Sechs-Stunden-Arbeitstag. Andere hatten jedoch zum Teil längere Arbeitstage, wie beispielsweise die Küchenarbeiter, die Heizer und verschiedene Kalfaktoren, z. B. der beim Krankenrevier, bei der Zentrale und bei der Arbeitsverwaltung. Sie bekamen auch etwas mehr Entlohnung, heute Entgelt genannt.
Es bestand und besteht für alle Strafgefangenen damals wie heute Arbeitspflicht, damit sie auf die Zeit nach der Entlassung vorbereitet sind und etwas Geld zur Verfügung haben. Die Entlohnung damals betrug je nach Qualität der geleisteten Arbeit, etwa 0,80 – 2 DM am Tag. In einzelnen Fällen, bei besonders guten Leistungen oder Mehrarbeit, konnte es auch mehr sein.
Von der Entlohnung wurde eine Rücklage gebildet, die für die ersten vier Wochen nach der Entlassung als Überbrückungsgeld dienen sollte. Etwa zwei Drittel durften als Hausgeld für den Einkauf genutzt werden. Bei einer erreichten Entlohnung von 60 DM durfte der Gefangene für 40 DM einkaufen. Überwiegend wurde Tabak und Pulverkaffee gekauft und sofern möglich, noch Süßigkeiten. Der Einkauf wurde einmal monatlich in einem großen Raum im Verwahrhaus von einem Einzelhändler vorgenommen.
Gegen 16.30 Uhr wurde das Abendbrot verteilt. Es gab wieder Schwarzbrot, in Einzelfällen Weißbrot, Margarine, etwas Wurst oder Käse, manchmal auch Fleischsalat, eine Büchse Ölsardinen oder Heringsfilet. Bei Fischaustausch für Gefangene, die keinen Fisch mochten, gab es eine kleine Büchse Wurst. Auch wurde zweimal in der Woche Obst ausgegeben. Als Getränk gab es Kaffee, zuweilen wurde auch Tee ausgeschenkt. Gegen 17.30 Uhr wurde das Essbesteck aus den Zellen genommen und in die vorgesehenen Stofftaschen an der Zellenaußentür eingesteckt. Dann sagten wir gute Nacht, verschlossen die Tür zweimal und schoben den Riegel vor. Das war der Nachtverschluss. Um 22 Uhr wurde das Licht ausgeschaltet, indem an jeder Tür der Lichtschalter ausgeknipst werden musste. Normalerweise machte das noch der Spätdienst, jedoch konnte es auch sein, dass der Nachtdienst übernahm, wenn dieser schon etwas früher kam. Die offizielle Ablösung war 22.15 Uhr. Allgemein wurde das aber sehr locker gehandhabt, es kam immer auf die betreffenden Kollegen an. Wir hatten einen Bediensteten, ein Altgedienter, der kam prinzipiell erst um 22.15 Uhr oder nachmittags um 14.15 Uhr, obwohl er den kürzesten Weg hatte. Er wohnte nämlich in einer Beamtenwohnung direkt vor der Anstalt. Da war nichts zu machen. Der war ebenso.
Meine erste Spätdienstwoche ging gut vorbei, ohne wesentliche Störungen durch die Gefangenen. Allerdings blieb es nicht aus, dass wir bei zu lautstarken Aktivitäten in den Dreimannzellen oder durch die Fenster nach draußen einschreiten mussten. Wir gingen dann an die Zellentüren und ermahnten die Insassen zur Ruhe. Im Wiederholungsfall schlossen wir auch auf und drohten dem Betreffenden, dass er die Nacht im „Bunker", das heißt in der Absonderungszelle, verbringen müsse, wenn nicht sofort Ruhe eintrete. Das war allgemein sehr wirksam. Nach dem Spätdienst hatte ich zwei Tage frei und ging dann in den Zwischendienst. Danach hatte ich ein freies Wochenende und ging wieder in den Frühdienst. So wiederholte sich der Dienstplan, der für alle Bediensteten sichtbar in der Dienstzuteilung für jeweils einen Monat im Voraus ausgehängt wurde.
Der Dienstablauf im Strafvollzug bereite mir allgemein keine Schwierigkeiten. Auch nicht auf der neuen Station 7, die ich jetzt zumindest vorübergehend übernehmen musste. Als Neuling war das Stationswechseln ganz normal. Die dienstälteren Kollegen hatten ihre festen Stationen, die dann von den neuen zeitweise übernommen wurden, wenn sie in den Nacht- und Spätdienst gingen. Ich begann nun auch mein Umfeld, insbesondere bezogen auf die vielen Bediensteten in der Anstalt, genauer wahrzunehmen. Die Anstalt konnte man vergleichen mit einem großen Dorf oder einer Kleinstadt, zumindest von der Personenanzahl her. Wir hatten damals eine Belegung von mehr als 2000 Gefangenen und einen Personalstand von etwa 800 Bediensteten. Den größten Anteil hatte der Aufsichtsdienst, dann gab es noch den mittleren, gehobenen und höheren Verwaltungsdienst, den Werkdienst und den Krankenpflegedienst. Außerdem waren in einigen Werkbetrieben, zum Beispiel in den externen Firmen Osram und Universal, noch mehrere Fachleute tätig, die nicht zum Justizdienst gehörten. So gab es also etwa 3000 Personen, die in der Anstalt anwesend sein konnten. Die Altersstruktur im Aufsichtsdienst unseres Hauses II war so aufgebaut, dass der sogenannte Mittelbau, so zwischen 30 und 45 Jahren, relativ schwach besetzt war. Überwiegend waren Kollegen ab 50 oder unter 30 vertreten. Das Einstellungsmindestalter betrug damals 23 Jahre, das Maximalalter höchstens 40, in Sonderfällen auch 45, was aber eine Verbeamtung nicht mehr zuließ.
Natürlich hatten wir auch mehrere Kollegen, die Soldaten im Zweiten Weltkrieg waren. Einer jedoch hatte den Krieg als Aufseher im Zuchthaus Tegel verbracht, auch in den Bombennächten. Er erzählte uns neuen Bediensteten, insbesondere während des Nachtdienstes, auf Wunsch von seinen Erlebnissen während der Bombardements. Man konnte während der Bombardierung, insbesondere von 1944 bis 1945, davon ausgehen, dass den Piloten die Lagen der Strafanstalten bekannt waren und sie diese auch nicht mutwillig treffen wollten. So fühlten sich die Gefangenen und Bediensteten relativ sicher.
Einmal jedoch schlug eine Bombe im Zuchthaus ein, das konnte man noch lange an der helleren Färbung der Klinkersteine an einem Hausflügel erkennen. Es soll ganz furchtbar gewesen sein. Es kamen mehrere Gefangene in ihren Zellen ums Leben, weil sie ja unter Verschluss waren und nicht flüchten konnten. Die Bediensteten hätten dann zahlreiche Gefangene ausgeschlossen, weil auch die nicht getroffenen Zellen zum Teil sehr verqualmt waren. Das Haus sei erfüllt gewesen von schrecklichen Angst- und Schmerzensschreien. Es gab auch einige verletzte Bedienstete, jedoch keine Toten. Mehrere Gefangene hätten dann die Gelegenheit zur Flucht wahrgenommen.
Ehemaliger Soldat war auch der Kollege Fritze Klischureck, unverkennbar aus Ostpreußen. Er war sehr freundlich und hatte eine sehr harte rechte Hand, offensichtlich durch eine Verwundung. Fritze kam nicht umhin, bei Gesprächen über den Krieg die deutschen Soldaten ausdrücklich zu loben. Sie seien die besten der Welt gewesen. Er selbst war im Krieg Unteroffizier bei der Artillerie. Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft Ende 1946 habe er gleich im Aufsichtsdienst in Tegel anfangen können. Er hatte auch eine Dienstwohnung und neben der Anstalt einen kleinen Pachtgarten bekommen.
Fritze erzählte, es sei alles sehr knapp gewesen und die Aufseher seien regelmäßig an der Pforte kontrolliert worden, um Diebstähle von Lebensmitteln oder Kohlen zu verhindern. Die Anstalt habe damals unter Aufsicht der französischen Militärverwaltung gestanden und die soll sehr genau und streng gewesen sein. Das Erdreich in seinem Garten sei leider sehr unfruchtbar gewesen und er habe es unbedingt besser düngen wollen. Im Frühjahr 1947 habe er dann mehrmals von den Kalfaktoren im Haus I in zwei große Milchkannen Fäkalien einfüllen lassen, wenn morgens die Kübel aus den Zellen genommen und in der Spülzelle entleert wurden. Damit sei er unbeanstandet durch die Pforte gekommen, weil niemand die übelriechenden Milchkannen kontrollieren wollte. Ich weiß noch heute, wie er lachend vor mir stand, mit seinen Händen einen Abstand von etwa einem halben Meter anzeigte und sagte: „Du kannst mir jlauben, mien Jung, solche Jurken hatte ich!"
Wenn Fritze noch leben würde, wäre er jetzt etwa 100 Jahre alt, das wird wohl nicht geklappt haben. Ich muss jedoch noch manchmal an ihn denken, insbesondere wenn ich Gurken in meinem Garten anbaue. Diese werden mit Sicherheit keinen halben Meter lang sein. Ich werde jedoch nicht auf Fritzes Methode zurückgreifen.
Dann hatten wir einen Aufsichtsdienstleiter, den nannten sie „Ziegenlehmann“. Den Namen Lehmann gab es im Hause schon viermal, deshalb musste man ihn unterscheiden können. Warum aber „Ziegenlehmann“? Er wohnte bis Ende der fünfziger Jahre in einer Dienstwohnung vor der Anstalt mit einem kleinen Garten, in welchem er einen Stall mit zwei Ziegen hatte. Gegen Mittag habe er sich regelmäßig abgemeldet, um nach Hause zum Essen zu gehen. Es wurde dann beobachtet, dass er auf der an seinen Garten grenzenden Wiese seine Ziegen hütete.
Es gab noch viele andere Kollegen, die ihre Eigenheiten hatten, das blieb nicht aus. Die Einstellung zu den Gefangenen war zumeist kritisch und distanziert. Viele empfanden die Freiheitsstrafen oft als zu gering. Der größere Teil von ihnen war sogar für die Todesstrafe.
Es gab aber auch damals schon einige, die der Meinung waren, man müsse mehr Gespräche mit den Gefangenen führen und sie möglichst therapieren. Diese Bediensteten fanden bei ihren Kollegen nicht viel Zustimmung. Für die Entwicklung der Behandlung im Strafvollzug war diese Einstellung jedoch richtungsweisend.