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Praktikum in Moabit

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Nach der Theorie Ende Mai wurden wir für die Praktika aufgeteilt. Ich ging zuerst für sechs Wochen in die Untersuchungshaftanstalt Moabit. Dort trat ich in Haus I zum Frühdienst an. Eine völlig ungewohnte und befremdliche Atmosphäre. Wir und auch die Stammdienstkräfte mussten sich im Mittelkreis um die Zentrale versammeln. Ein Vollzugsdienstleiter namens Meier sprach sehr laut, eigentlich brüllte er nur, um uns seine Anweisungen mitzuteilen. Er wurde allgemein „Atommeier“ genannt.

Ich wurde der Station A 3 als zweiter Mann zugeteilt. Zum Schluss konnte Meier es sich nicht verkneifen, uns vier Praktikanten besonders anzusprechen bzw. anzubrüllen: „Für die Herren, die hier neu sind, zur Kenntnis! Hier herrscht äußerste Disziplin. Ich erwarte, dass ihr euch Mühe gebt und den Anweisungen der „Stationer“, denen ihr zugeteilt seid, unbedingt nachkommt. Und nun ab Männer, auf eure Stationen!" Es war sofort zu merken, dass hier doch ein ganz anderer Wind wehte, als zum Beispiel im Haus III in Tegel.

Der dienstliche Ablauf war viel straffer organisiert. Unbeaufsichtigt liefen kaum Gefangene im Haus umher. Sie wurden praktisch durch Zuruf weitergereicht. Auch arbeitende Insassen, die zur Arbeit gingen oder von dieser zurückkehrten, sah man kaum. Es gab in Moabit nicht für alle Gefangenen Möglichkeiten zu arbeiten. Häufig war ihnen das gar nicht gestattet, weil in allen Angelegenheiten der Untersuchungshaft die für ihr Verfahren zuständige Staatsanwaltschaft entscheidungsbefugt war und auch alle Kontakte nach draußen genehmigen musste, zum Beispiel den Schrift- und Besucherverkehr.

Das Haus I hatte, im Gegensatz zu den Häusern der Strafanstalt Tegel, fünf Flügel. Der E-Flügel und der Verwaltungsbereich waren lange nach dem Bau des ursprünglichen Hauses I und des Hauses III, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts errichtet worden waren, gebaut worden. Im E-Flügel befanden sich allgemein die Zugänge, die von der Polizei nach Erlass eines Haftbefehls, oder sogar noch davor, zugeführt wurden, wenn ihre Vorführung zum Untersuchungsrichter über den A-Flügel zum Gericht vorgesehen war.

Auf der Station A 3 hatte ich mit einem älteren Hauptwachtmeister Dienst, der wohl der Meinung war, ich sei sein untergeordneter Dienstbote. Er bewegte sich kaum, sondern saß überwiegend im Dienstzimmer, rauchte und trank Kaffee. Auf dem Fenstersims stand eine kleine Kaffeemaschine, durch die während des gesamten Frühdienstes der Kaffee durchlief. Wenn Anrufe kamen, dass ein bestimmter Gefangener auszuschließen und einer anderen Dienststelle zuzuführen war, schickte er mich, er blieb sitzen. Auch die Mittagessenausgabe überließ er mir. Er hatte sich lediglich vor dem Dienstzimmer postiert, um mich zu überwachen. Das Vorschließen mit Verriegeln war in Moabit nicht üblich. Ich musste jede Zelle einzeln aufschließen, das Essen vom Hausarbeiter an den jeweiligen Gefangenen ausgeben lassen und dann die Zelle sofort wieder verschließen.

Die Ausstattung der Zellen im A-Flügel war damals im Jahre 1968 noch sehr einfach. Es gab zwar ein Spültoilettenbecken, jedoch kein Waschbecken. Die Körperpflege musste mittels Waschschüssel stattfinden, wobei das Wasser aus einem kleinen Wasserhahn lief, der über dem Toilettenbecken angebracht war. Als ich etwa 18 Monate später nach Moabit zurückkam, wurde der A-Flügel gerade umgebaut und mit Waschbecken versehen.

Die Untersuchungsgefangenen auf der Station waren allgemein sehr reserviert. Einige befanden sich erstmals in Haft und wurden besonders beobachtet. Fünf „U-Gefangene“ saßen wegen Mordverdachts ein. Einen von ihnen kannte ich vom Sehen. Er wohnte in der Straße in Neukölln, in der ich auch wohnte, er war etwa 30 Jahre alt. Wir grüßten uns ganz normal, ohne zu bestätigten, dass wir uns kannten. Der U-Gefangene war schon vier Monate in Haft, in seinem Fall ermittelte noch die Staatsanwaltschaft.

Ich hatte mich nach Feierabend um 14.30 Uhr auf dem Weg aus der Anstalt bei der Vollzugsgeschäftsstelle gemeldet und gebeten, die Gefangenenpersonalakte einsehen zu dürfen. Das hat man mir auch gestattet. Ich konnte nun lesen, was dem Gefangenen, den ich kannte, vorgeworfen wurde. Gemäß der Ermittlung, bot er in Kreuzberg einer alten Frau an, ihre Tasche in ihre Wohnung zu tragen. Dort vergewaltigte er sie, als sie den Geschlechtsverkehr mit ihm verweigerte. Er führte auch mit ihr Oralverkehr durch, wobei sie an ihrem Erbrochenen und ihrem Gebiss erstickt sei. Danach durchsuchte er die Wohnung und entwendete Schmuck sowie eine größere Menge Bargeld, welches nach Aussagen der Tochter in der Wohnung versteckt gewesen sein soll. Wenn er der Täter war, musste er ununterbrochen Handschuhe getragen haben, weil nicht ein einziger verwertbarer Fingerabdruck festgestellt werden konnte. In Verdacht war er geraten, weil er nach Hinweisen von Bewohnern des Hauses, in welchem der Mord stattfand, am Tattag vor dem Haus gesehen worden sein soll. Als er beim Abtransport der Leiche der alten Frau zwei Tage später wieder am Tatort war und dies der Polizei sofort mitgeteilt wurde, hatte die ihn vorläufig festgenommen. Nach Gegenüberstellungen und Vernehmungen, bei denen er die Tat hartnäckig leugnete, wurde gegen ihn Haftbefehl erlassen.

Der Tatverdächtige wurde wiederholt zur Haftprüfung vorgeführt, bestritt die Tat allerdings stets. Dann, nach etwa sechs Monaten, entließ man ihn aus der U-Haft, weil der Haftbefehl außer Verfolgung gesetzt worden war. Es war kein Beweis seiner Unschuld und das Verfahren gegen ihn hätte bei neuen stichhaltigen Beweisen sofort wieder aufgenommen werden können.

Das ist jedoch nicht geschehen. Ich habe ihn in unserer Straße nur noch einmal aus der Entfernung gesehen, als er dabei war, aus seiner Wohnung auszuziehen.

Nach vier Tagen meldete sich der Hauptwachtmeister meiner Station krank. Er wurde ersetzt durch einen jungen Kollegen, der wie ich Oberwachtmeister war. Wir verstanden uns großartig, machten fast alles gemeinsam und bei Vorführungen wechselten wir uns ab. Mein Kollege, er hieß Michael, besuchte regelmäßig ein Fitnessstudio und hatte eine gute, kräftige Figur. Seine persönliche Bestleistung beim Bankdrücken war, wie er sagte, 100 kg. Beim Bankdrücken muss man auf einer gepolsterten Bank liegend eine Langhantel mit Gewichten aus der Auflage nehmen, mit kurzer Berührung auf die Brust absenken und nach oben strecken, bis die Arme durchgedrückt sind. Ich war damals erst bei 90 kg. Gegen 11 Uhr wurde für unsere Station die Freistunde durchgeführt. Da ging es noch zu wie im Roman von Fallada, „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst". Die Gefangenen mussten auf dem Hof ununterbrochen im Kreis gehen und dabei jeweils einen Abstand von etwa einem Meter zum Vordermann einhalten. Liefen die Gefangenen zu dicht auf, wurden sie von den Bediensteten, es waren immer mindestens vier für etwa 30 Gefangene, kurz angehalten, bis der ordnungsgemäße Abstand wieder hergestellt war.

Über alle Höfe patrouillierten tags- und auch nachtsüber Bedienstete mit umgeschnallter Pistole. Es gab damals nur einen Wachtturm, der vom Haus II besetzt wurde.

An einem Vormittag erlebte ich dann einen klassischen Alarm. Es erklang ein sehr lautes Hupen und auf der Zentrale drehte sich ständig eine orangefarbene Warnlampe. An einer riesigen Leuchttafel im Mittelkreis vor der Zentrale wurde angezeigt, wo der Alarm ausgelöst worden war. Es war darauf zu erkennen: „E-Flügel, Verwaltung“. Die beiden Büros, wo auch der sogenannte Polizeiinspektor war, befanden sich hinter der vergitterten Stationstür. Zunächst eilten die Hausarbeiter zu ihren Zellen und ließen sich einschließen. Dann rannten etwa zehn Bedienstete zur Zentrale, wo Atommeier immer wieder brüllte: „E-Flügel, Polizeibüro!“ Dort hatte ein sehr kräftiger, junger Gefangener, dem eine Hausstrafe, nämlich eine Woche verschärfter Arrest, eröffnet worden war, außer sich vor Wut einen Stuhl ergriffen und gegen das Fenster geworfen, das zu Bruch ging. Der Aufsichtsbedienstete, der ihn vorgeführt hatte, drückte sofort den Alarmmelder ein. Die herbeigerufenen Bediensteten stürzten sich regelrecht in das Büro, das sich sofort füllte. Ich kam gar nicht mehr hinein. Dann zerrten sie den Gefangenen hinaus und stießen ihn zunächst mit dem Kopf voran gegen das Trenngitter vor der Station, obwohl die Tür offen war. Ein Bediensteter sagte laut: „Ach, entschuldige!" Der Gefangene stieß Schmerzensschreie aus, weil sie ihm nun die Arme derart auf dem Rücken verdreht hatten, dass er mit dem Kopf fast den Boden berührte und nur noch auf den Knien rutschen konnte. Sie brachten ihn in eine Absonderungszelle, die hier auch allgemein „Bunker“ genannt wurde. Dort musste er sich vollständig ausziehen und blaue Anstaltssachen anziehen, damit der Besitz von unerlaubten Gegenständen ausgeschlossen werden konnte. Ich war bestimmt kein Kind von Traurigkeit, aber diese Behandlung eines Gefangenen, der ja nur Gewalt gegen Sachen und nicht gegen Personen angewendet hatte, erschien mir doch etwas zu brutal. Er wäre wahrscheinlich freiwillig mitgegangen, nur wurde ihm dazu keine Gelegenheit gegeben.

Nach dem Frühdienst erhielt ich zwei Tage frei, weil wir Anzulernenden keine Freizeit ansparen sollten. Ich stieg in die zweite Nacht ein. Wir waren vier Beamte und vier Aufseher. Der Schichtführer war schon Verwalter, ein ganz strammer. Wir mussten fast ständig unterwegs sein, entweder über die Höfe oder über die Stationen gehen. Wenn einer von uns nach dem Rundgang länger als 20 Minuten am Tisch saß, um etwas zu essen oder zu rauchen, wurde er schon unruhig. Zeitung lesen oder Kreuzworträtsel lösen, was in Tegel ganz normal war, ging hier gar nicht. Die Kontrollrunde über die Höfe empfand ich anstrengender als den Dienst auf dem Turm in Tegel. Ich hatte vor meinem Nachtdienst wenig geschlafen und wurde beim Gehen unheimlich müde. Deshalb suchte ich auf den Höfen stets nicht einsehbare Ecken, wo ich mich anlehnen und kurz die Augen schließen konnte. Manchmal schlief ich tatsächlich kurz ein und wurde dann abrupt wach, wenn mir die Beine wegsackten und ich mich dadurch erschrak. Diese Erlebnisse erinnerten mich an meine Zeit beim „Labor Service“, als ich in den amerikanischen Kasernen Wachdienst hatte. Damals hatte ich am Tage noch viel weniger geschlafen, weil ich meine Freizeit viel intensiver genutzt hatte.

Im nachfolgenden Spätdienst hatten wir Gott sei Dank einen anderen Schichtführer, der besser zu ertragen war. Er ermunterte uns sogar, mit ihm am Tisch zu sitzen und uns zu unterhalten. Was für ein Unterschied zu seinem Vorgänger.

Bei einem Kontrollgang über die Station B 2 gegen 20 Uhr, um die „Beobachter" zu kontrollieren, hörte ich hinter einer Zellentür ziemlich laute Geräusche, so ähnlich wie Möbelrücken. Ich blickte durch den Spion und sah einen älteren Gefangenen, der seinen Tisch unter das Fenster schob. Er hatte bereits die Glasscheibe von der Konsole genommen und diese sich außen an den rechten Unterschenkel gebunden. Ich stieß mit dem Fuß gegen die Tür und fragte ihn, was denn los sei. Er sagte: „Ich werde bestrahlt und muss mich schützen. Jetzt muss ich noch mein Fenster abdichten.“ Sprach’s und schmierte irgendetwas in die Ritzen des geschlossenen Fensters. Wie ich später erfuhr, hatte er dafür seinen Kot benutzt. Auf meine Meldung beim Schichtführer hin wurde der Krankenpflegedienst vom Haus IV, dem Krankenhaus, benachrichtigt. Der Gefangene wurde dorthin verlegt, denn er hatte hochgradige Entzugserscheinungen, weil er Alkoholiker und erst seit einigen Tagen in der Anstalt war.

Die letzten zwei Wochen in Moabit verbrachte ich im Haus II im Früh- und Zwischendienst. Das Haus war nicht sternförmig aufgebaut, sondern war ein langgestreckter Bau, zwei Stationen lagen jeweils hintereinander und waren fünf Etagen hoch. Außerdem gab es einen Querflügel, der mit einer Metalltür vom Haupthaus getrennt war. Ich sollte in meinem weiteren dienstlichen Alltag dieses Haus noch hinreichend kennen lernen.

Zum Schluss forderte mich der Vollzugsdienstleiter der Anstalt noch auf, ich sollte einen Aufsatz über mein Praktikum in der Anstalt schreiben. Das war zwar allgemein nicht üblich, ich tat ihm aber den Gefallen. Insgesamt beurteilte er mich mit „befriedigend“.

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