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Praktikum in Plötzensee
ОглавлениеIch hatte nun noch sechs Wochen Praktikum in der Jugendstrafanstalt Plötzensee zu absolvieren.
Kurz bevor ich meinen Dienst antreten konnte, erreichte mich von meiner Schwägerin eine furchtbare Nachricht. Mein Bruder Klaus, der Polizeibeamter war, hatte sich mit einer großen Menge Schlaftabletten in seiner Wohnung das Leben genommen. Seine Frau hatte ihn drei Tage zuvor mit den Kindern verlassen, nachdem er kurz vorher aus einem dreimonatigen Aufenthalt in Kampen auf Sylt zurückgekehrt war. Er hatte an einem Beamten-Austausch teilgenommen und der Polizist aus Kampen war in diesem Zeitraum auf seinem Dienstposten am Flughafen Tempelhof eingesetzt gewesen.
Die Frau meines Bruders kehrte nach drei Tagen in die Wohnung zurück, nachdem sie ihn weder zu Hause noch in seiner Dienststelle telefonisch erreicht hatte. Sie fand ihn tot auf. Wie uns ärztlicherseits später mitgeteilt wurde, war er bereits vor mindestens 48 Stunden verstorben. Warum die Frau meines Bruders ihn verlassen hatte, ob möglicherweise ein Seitensprung von ihm der Anlass war, hat sie nie gesagt. Klaus wurde 32 Jahre alt und hinterließ seine Frau und zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, acht und fünf Jahre alt. Er hatte 1956, ein Jahr vor mir, bei der Polizei angefangen und es zu 12 Dienstjahren gebracht. Zuletzt war er am Flughafen Tempelhof bei der Pass- und Personenkontrolle. Ich glaube, er hätte es noch weit bringen können. Ich nahm drei Tage Urlaub und kümmerte mich um meine Schwägerin. Die Kinder waren vorübergehend bei uns und meiner Großmutter. Als die Trauerfeier auf dem Parkfriedhof in Britz stattfand, waren etwa 40 Polizeibeamte in voller Uniform gekommen, die vor dem Eingang der Feierhalle ein Spalier bildeten.
Klaus’ Tod war auch für mich ein großer Verlust. Wir hatten vor unseren Eheschließungen vieles gemeinsam gemacht. Wir waren zusammen zur Tanzschule im Adlershof gegangen und er hatte mir sogar eine seiner ehemaligen Freundinnen vermittelt, die mich in die „zwischenmenschliche Beziehung" einführen sollte. Sie hieß Christa, war 19 Jahre alt und wohnte in Oberschöneweide. Es war im Februar 1955, einen Monat vor meinem 16. Geburtstag. Anfangs stellte ich mich etwas dusselig an und war sehr aufgeregt. Aber Christa war ganz ruhig und auch erfahren. Sie leitete mich recht gut an. Beim Verabschieden sagte sie sogar, ich hätte es „ganz gut gebracht“, was mich damals zufrieden und stolz machte.
Auch später, nachdem wir beiden Brüder geheiratet hatten, waren wir mit den Familien häufig zusammen und feierten gemeinsam die Kindergeburtstage und auch andere Feste. Als mein Bruder verstorben war, ging unsere Beziehung zu seiner Witwe bald in die Brüche. Wenn der Freitod meines Bruders auch nicht vorhersehbar war, so konnte ich es nicht verstehen, dass sie ihn nach einer etwa zehn Jahren dauernden Beziehung, acht davon Ehejahre, abrupt verlassen hatte, was offensichtlich zu dieser Kurzschlusshandlung geführt hatte. Ich habe sie und die Kinder ab etwa 1970 nie wieder gesehen.
Wie man immer so sagt, das Leben ging weiter und ich musste nun meinen Dienst in Plötzensee antreten. Zunächst hatte ich Frühdienst und wurde im Haus I von einem Vollzugsdienstleiter eingeführt, der ziemlich klein und auch sehr schlank war. Er wirkte aber sehr umtriebig und beweglich. Sein Name war Wiebke. Er war sehr freundlich und meinte, ich solle die Jugendlichen konsequent behandeln, so wie meine eigenen Kinder. Da hatte ich nun recht wenig Erfahrung, meine Tochter war sieben Jahre alt. Ich wurde dann einem erfahrenen und kräftigen Beamten, so um die 30 zugeteilt, der mich überall hin mitnahm. Vom Fenster seines Dienstzimmers hatte er gesehen, dass ein Jugendlicher etwas aus dem Fenster geworfen hatte. Er sagte zu mir: „Komm mit, ich werde dir mal zeigen, wie das hier gemacht wird!" Wir gingen zu der betreffenden Zelle und er schloss auf. Der Jugendliche sprang vom Stuhl, den er sich ans Fenster gerückt hatte. Der Beamte, er hieß mit Vornamen Peter, fragte ihn: „Hast du eben etwas aus dem Fenster geworfen“? Er verneinte das. Da verpasste ihm der Beamte eine Ohrfeige, dass er auf sein Bett fiel. Peter sagte nochmals: „Hast du etwas rausgeworfen? Wenn du lügst, kriegst du noch eine Schelle!" Das wirkte sofort. Der Junge sagte mit weinerlicher Stimme, er habe ein Stück Brot rausgeworfen. Peter packte ihn am Hemd, zog ihn hoch und verwarnte ihn ausführlich. Geschlagen hat er ihn aber nicht mehr. Ich war doch sehr beeindruckt, wobei mir der Jugendliche etwas leid tat. Ich nahm mir vor, nicht so wie Peter vorzugehen.
Auf dem Wahrnehmungsbogen im Dienstzimmer konnte ich dann lesen, dass dem jugendlichen U-Gefangenen vorgeworfen wurde, insgesamt in vier Fällen, gemeinsam mit einem anderen Jugendlichen, alte Frauen überfallen und versucht zu haben, deren Handtaschen zu rauben. Zweimal waren sie erfolgreich und machten geringe Beute. Bei den beiden anderen Überfällen hielten die Frauen ihre Taschen krampfhaft fest und stürzten zu Boden. Durch das Hinfallen wurden beide verletzt: Die eine durch Schürfwunden im Gesicht und einen Handgelenksbruch, die andere Frau, 80 Jahre alt, erlitt einen Oberschenkelhalsbruch. Jetzt tat mir der betreffende Jugendliche gar nicht mehr so leid.
Nach drei Tagen wurde ich einem anderen Bediensteten zugeteilt. Er war noch Aufseher, aber schon über drei Jahre im Dienst. In Plötzensee ging es mit der Verbeamtung damals erheblich langsamer. Der Kollege war 1,97m groß und hatte eine athletische Body-Bullding-Figur. Er trainierte fünfmal in der Woche und hatte es beim Bankdrücken schon auf 150 kg gebracht, wie er mir sagte. Er war damals 26 Jahre alt und wurde allgemein „Panzer“ gerufen, weil er im Alarmfall immer an „vorderster Front“ anzutreffen war. Wie er mit Vornamen hieß, ist mir nie richtig bewusst geworden. Sein Nachname klang sehr polnisch. Panzer und ich wurden zu Außenarbeiten zusammen mit noch zwei Bediensteten, die gärtnerische Fähigkeiten hatten, eingeteilt. Panzer beaufsichtigte die Jugendlichen, die den Weg vor den Pachtgärten gegenüber der Anstaltsmauer vom Unkraut säubern sollten. Diese Gärten wurden ausschließlich von Bediensteten des Justizvollzugs bewirtschaftet, hauptsächlich aus Plötzensee.
Ich ging mit einem Kollegen und drei jugendlichen Strafgefangenen in den Pachtgarten von Dr. Rohmann. Dieser hatte eine hübsch eingerichtete Laube von etwa 15 qm, mit einem breiten Bett sowie Innentoilette mit Waschbecken. Es wurde behauptet, dass die Frau von Dr. Rohmann, der zu der Zeit etwa knappe 60 Jahre alt war, von der Parzelle gar nichts wusste und dass er nach Feierabend, er war Jurist, des Öfteren in erheblich jüngerer weiblicher Begleitung in Richtung seines Gartens gehend gesehen wurde.
Panzer und ich standen zusammen, weil wir die Jugendlichen immer gut sehen konnten. Die beiden anderen Kollegen waren gärtnerisch tätig. Plötzlich wurde in der Anstalt Alarm gegeben. Ich rannte die 50 m zum nächsten Wachturm. Der Kollege dort rief mir schon entgegen: „Da sind zwei über die Mauer. Die rennen Richtung Kanal!" Ich lief zu Panzer zurück und berichtete. Er sagte: „Los, wir müssen hinterher!"
Die beiden anderen Kollegen hörten auf zu gärtnern und übernahmen die Bewachung der Gefangenen. Wir rannten beide los, bis zum Saatwinckler Damm, weil wir nicht durch den Hohenzollernkanal schwimmen wollten. Dies hatten jedoch die beiden Flüchtenden getan und rannten jetzt über den Johannesfriedhof, Richtung Rehberge. Da hatten wir sie noch kurz gesehen. Wir rannten auch über den Friedhof, vor dem eine kleine Parkanlage war. Panzer stürzte über einen Stolperdraht und zerriss sich die Hose. Ich fiel auch kurz hin und verlor meine Mütze. Auf dem Friedhof guckten wir auch hinter große Grabsteine, die ein Versteck hätten bieten können, fanden aber niemanden.
Dann kamen wir an der kleinen Kolonie „Steinwinkel" aus dem Friedhof und sahen uns suchend um. „Suchen Sie zwei junge Burschen, die ganz nass sind?", fragte uns ein ältlicher Kleingärtner. Als wir das bestätigten, zeigte er auf eine Laube und sagte: „Da sind sie drin!" Er rannte vor, kletterte mühsam über den Gartenzaun und hielt die Laubentür zu. Gleichzeitig rief er uns zu, wir sollten die Polizei holen, er würde die Tür zuhalten. Wir überwanden jedoch auch den Zaun, Panzer lachte kurz auf und dann sagte er zu dem Kleingärtner: „Komm Opa, geh' mal zur Seite!" Dann riss Panzer die Tür auf, ging hinein und schubste mir den ersten Gefangenen zu. Ich nahm ihn sofort in den „Komm-mit-Griff“, so dass er neben mir auf Zehenspitzen laufen musste und ging durch die Gartentür, die der Kleingärtner zwischenzeitlich aufgehebelt hatte. Panzer folgte mir mit dem anderen etwas größeren Gefangene, dem er einen Arm auf den Rücken gedreht hatte, sodass er tief gebeugt gehen musste. Am Donahgestell stoppte er einen PKW, indem er sich, den Gefangenen dabei in Vorhalte, auf die Fahrbahn stellte. Ein Fahrer stieg aus und fragte, was er machen solle. Panzer gab im amtlichen Tonfall Auskunft, die damit endete, dass er den Fahrer aufforderte, uns unverzüglich zur Anstalt zurückzufahren. Dieser deckte noch eine Autodecke über die hinteren Sitze, weil er sah, dass die beiden Gefangenen nass waren. Ich setzte mich zwischen beide, die vor Kälte mit den Zähnen klapperten. Immerhin war es schon Mitte September, es war bedeckt und die Tagestemperatur betrug nur etwa 15 Grad. Viel wärmer wird es im Wasser auch nicht gewesen sein. Panzer saß neben dem Fahrer und sah sich veranlasst, den Gefangenen klar zu machen, dass sie wegen Meuterei mit einer weiteren Jugendstrafe von mindestens sechs Monaten zu rechnen hätten. Diese Nachricht ließ ihre Zähne noch deutlicher klappern. Die beiden hatten bei Hofarbeiten fliehen können, weil ein Baufahrzeug zu dicht an der Innenseite der Mauer geparkt hatte. Von der Mauerkrone waren sie dann etwa 5 m auf den vorbeiführenden Sandweg gesprungen.
Nach ein paar Minuten kamen wir vor der Anstaltspforte am Friedrich-Ulbricht-Damm an. Es stand eine kleine Menschenmenge vor der Anstalt: Die Polizei, die Presse und etliche Kollegen. Wir wurden mit Beifall empfangen. Vier Bedienstete schnappten sich die Ausreißer an der Pforte und führten sie ebenfalls mit verdrehten Armen in das Verwahrhaus, was ich für etwas überzogen ansah.
Am nächsten Tag wurden Panzer und ich von der Anstaltsleiterin, im Kreise einiger maßgeblicher Funktionsbediensteter der Anstalt, mit bewegten Worten belobigt und als Vorbilder bezeichnet. Dann gab sie uns beiden je eine sehr große Zigarre. Ich habe meine Panzer gegeben, der ab und zu eine rauchte.
Ein bedeutendes Erlebnis hatte ich dann noch im Spätdienst, ebenfalls an der Seite von Panzer. Am Freitag kam ein angemeldeter Radiosender, der für Jugendsendungen bekannt war und positionierte sich auf dem Anstaltshof zwischen zwei Verwahrhäuser. Sie spielten einen Hit nach dem anderen und brachten dazwischen lustige und interessante Beiträge, insbesondere aus der Jugendszene anderer Länder.
Zum Schluss der Sendung brüllte der noch recht junge Moderator in sein Mikrophon: „Am Ende möchte ich aber noch eine anständige „Bambule“ hören!" Dazu hatte er „Tutti Frutti" aufgelegt. Das hätte er nicht machen sollen. Es brach die Hölle los. Es wurde nicht nur ohrenbetäubend gebrüllt und gepfiffen, sondern in den Zellen auch das Mobiliar zerlegt. Stühle wurden gegen die Fenster geworfen, die Scheiben gingen zu Bruch. Es wurden auch einige Waschbecken aus der Wand gerissen und zerschlagen. Unser Vollzugsdienstleiter, Panzer und noch einige andere Kollegen eilten auf den Hof und beschimpften den Moderator heftig. Ich glaube, Panzer hätte ihn am liebsten etwas verhauen. Verängstigt stellte dieser die Musik aus und machte sich bereit, vom Hof zu fahren. Als die Musik plötzlich aus war, wurde noch mehr randaliert. Nach 20 Minuten ebbte der Lärm allmählich etwas ab. In einigen Zellen des A-Flügels jedoch nahm das Gebrülle und das Scheppern von Geschirr und anderen Gegenständen kein Ende. Panzer, ich, der Vollzugsdienstleiter Wiebke und noch sechs andere Bedienstete machten sich auf den Weg, die restlichen drei Störer dingfest zu machen. Wir wollten sie in den Keller in die Absonderungszellen bringen, weil wir annahmen, dass ihre Zellen ohnehin nicht mehr bewohnbar waren. Wie Recht wir hatten. Die erste Zelle auf A 1 konnten wir zunächst gar nicht betreten, weil der Gefangene ständig Gegenstände gegen die Tür warf. Panzer schützte sich mit seiner Jacke, die er ausgezogen hatte und stürmte hinein. Er schmiss den um sich schlagenden Gefangenen, der ziemlich kräftig war, mehrmals auf den Fußboden, bis dessen Widerstand erlahmte. Dann nahm er ihn in den Schwitzkasten und zerrte ihn in Richtung Keller. Kollege Wiebke sagte, er würde vorgehen und aufschließen. Als wir an der fünfstufigen Treppe, die zum Kellergang führte, ankamen, leistete der Gefangene plötzlich wieder Gegenwehr. Ich konnte gar nicht eingreifen, weil Panzer ihn mit seinen langen Armen umschlungen hatte. Kollege Wiebke kam dicht heran und wollte helfen. Panzer packte noch einmal kräftig zu und schleuderte den Gefangenen die Treppe ´runter durch die Tür in den Vorkeller. Plötzlich rappelte sich unser Vollzugsdienstleiter vom Fußboden an der Kellertür auf und beschimpfte Panzer sehr heftig, während er sich den Schmutz von der Jacke klopfte: „Bist du denn verrückt geworden, mich die Treppe runterzuschmeißen?!" – „Ach, Entschuldigung Chef, ich habe Sie versehentlich mitgegriffen!" Ich musste mich schnell entfernen, weil ich mich vor Lachen nicht mehr beherrschen konnte! Auch Panzer musste sich sehr zusammennehmen, als er den Gefangenen nach dem Umkleiden in die Absonderungszelle einschloss. Dort verbrachte er drei Tage, weil seine Zelle erst wieder hergerichtet werden musste, was allerdings nur einen Tag andauerte. Etwas Strafe musste schon sein.
Allerdings wurden gegen den Jugendlichen noch fünf Tage verschärften Arrest verhängt. Dieser wurde ununterbrochen in einer Arrestzelle ohne Tageslicht verbracht. Es gab nur hartes Lager und eine Decke, die der Arrestant zum Zudecken oder Drauflegen nutzen konnte. Als Kopfkissen musste er seine Jacke nehmen. Als Nahrung gab es nur dreimal täglich vier Scheiben Brot und einen großen Becher Anstalts-Kaffee. Jeder dritte Tag war ein guter Tag. Da gab es normales Anstaltsessen, eine Freistunde und eine Matratze, zwei Decken und ein Kopfkissen. Der Arrestant durfte auch nach den Malzeiten jeweils eine Zigarette rauchen, manchmal auch zwei, meistens dann, wenn die betreffenden Bediensteten selbst Raucher waren. Zum Lesen konnte ihm nur die Bibel ausgehändigt werden, was jedoch allgemein abgelehnt wurde.
Zum Schluss meines Dienstes hatte ich von einem Kollegen noch ein kleines Auto gekauft, einen Renault, weil ich gerade keines besaß. Ich wollte unbedingt zu Frau und Kind nach Bayern nachfahren, wo sie schon zwei Wochen verbrachten. Ich hatte zwei Wochen Urlaub bekommen, ehe ich mich dann, wie alle anderen Lehrgangsteilnehmer, wieder zum Unterricht im Justizvollzugsamt melden musste.
Nach dem letzten Tag im Dienst hatte ich mich in einer Kneipe in der Beusselstraße bei einigen Bieren von Panzer verabschiedet.