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Die erste Woche
ОглавлениеAm nächsten Tag war ich natürlich pünktlich zum Frühdienst erschienen und stand nun mit den anderen ablösenden Bediensteten vor der Zentrale des Verwahrhauses II neben dem Kollegen Griesel, um mit ihm die Station 4 zu übernehmen. Um 6 Uhr hatte der Beamte der Zentrale bereits gegen die Glocke geschlagen, um die Gefangenen aufzuwecken.
Wir übernahmen das Rapportheft und somit die Station. Um 6.30 Uhr wurden die Zellen aufgeschlossen und die Vollzähligkeit der Insassen festgestellt. Sofern ein Gefangener noch nicht erkennbar wach war, wurde er im Bett angestoßen und zum Aufstehen aufgefordert. Jetzt blieb etwa eine knappe Stunde für die Morgentoilette. Diese Zeit war, insbesondere für die Dreimannzellen erforderlich, ganz besonders dann, wenn alle drei zur Arbeit mussten. Es gab ja nur ein Waschbecken in jeder Zelle, in der sich auch das Toilettenbecken gleich rechts neben der Tür befand, in der Regel hinter einem Kunststoffvorhang. Trotzdem war die Geruchsbelästigung natürlich erheblich, wenn von den drei Insassen einer nach dem anderen am Morgen sein „großes Geschäft" vollzog. Allgemein hielten sich dann die jeweils zwei anderen am Fenster auf. Kurz vor 7.30 Uhr wurde das Frühstück verteilt. Damals gab es das Brot noch in Form von sogenannten „Kuhlen". Das war ein Stück Brot, welches etwa die Stärke von vier Brotscheiben hatte. Außerdem gab es Marmelade, Margarine und einen großen Becher Kaffee, der nicht sehr viele Kaffeebohnen enthielt. Im Verlauf der nächsten Jahre wurde das Brot dann geschnitten. Das war in Bezug auf den Verbrauch viel günstiger, weil dadurch die Gefangenen auf Wunsch auch weniger Brot als die dicke „Kuhle" erhalten konnten und somit bedeutend weniger Reste aus dem Fenster auf den Hof geworfen wurden. Das Brot, sonntags gab es Weißbrot, wurde in der Anstaltsbäckerei gebacken und auch an die anderen Berliner Vollzugsanstalten geliefert. Es war sehr gut schmeckend. Auch die Bediensteten konnten sich zu einem günstigen Preis die 1500 Gramm schweren Brote kaufen.
Um 8 Uhr war Arbeitsausschluss. Die arbeitenden Gefangenen versammelten sich auf der Fläche unter der Zentrale bei ihrem zuständigen Werkmeister. Kranke oder aus irgendwelchen Gründen abwesende Gefangene wurden dem Werkmeister gemeldet.
Normalerweise war es jetzt etwas ruhiger auf der Station. Kollege Griesel jedoch war sehr umtriebig. Zunächst machten wir eine Gitterkontrolle. Zu diesem Zweck wurden mit einem Hammer, der einen sehr langen Stiel hatte, in den Zellen die Fenstergitter abgeklopft, um festzustellen, ob ein Gitterstab angesägt war, was auf eine beabsichtigte Fluch hinweisen würde. Ich durfte auch klopfen, z. B. beim Doppelmörder Bachmann. Dieser stand, als ich reinkam, an der Seitenwand und sprach kein Wort. Das tat er auch sonst nicht. Er hatte zur Freistunde die einzige Gelegenheit, die Zelle zu verlassen, aber auch dann keinen Kontakt zu anderen Gefangenen. Vor einigen Monaten hatte Bachmann Zellenarbeit bekommen und zwar „Zeitungslegen". Er musste die alten Zeitungen, die sich in großen Stapeln in seiner Zelle befanden, auseinanderfalten und in einzelnen Bogen aufeinanderlegen. Diese wurden dann beispielsweise auf Wochenmärkten als Einwickelpapier verwendet. Der Verdienst war nur sehr gering, zudem arbeitete Bachmann sehr langsam. Wenn er auf einen Verdienst für den monatlichen Einkauf von etwa 5 DM kam, dann war das schon viel.
Während der Gitterkontrolle wurden auch einige Zellen stichprobenartig genauer kontrolliert, um eventuell verbotene Gegenstände, wie selbst gefertigte Werkzeuge oder Messer, aber auch verbotenen Lesestoff, wie die erwähnten Schmöker, oder Skatspiele zu beschlagnahmen.
Ich guckte mir immer wieder die Wahrnehmungsbogen an und stellte fest, dass kein Insasse auf der Station ohne Vorstrafen war.
Im Übrigen war ich erstaunt, dass die Insassen, bis auf ganz wenige Ausnahmen, sich recht ordentlich und höflich verhielten. Wenn sie von der Arbeit oder der Freistunde zurückkamen, stellten sie sich neben ihrer Zellentür auf und warteten, dass man sie wieder einschloss. Einige sagten sogar danke. Weil die Umgangsformen im Vollzug nach Möglichkeit den Verhältnissen außerhalb der Gefängnismauern angepasst werden sollten, waren wir gehalten, die Gefangenen mit „Herr“ anzusprechen. Dies fiel mir bei den meisten sehr schwer und ich versuchte, dies möglichst zu umgehen, zumal uns die Gefangenen allgemein nur mit „Meister“ oder „Meester“ ansprachen.
Die Tage im Frühdienst vergingen recht schnell und überwiegend ohne besondere Vorkommnisse.
Am sechsten Tag nach meinem Dienstantritt wurde ich durch lautes Rufen von der Zentrale, „Herr Weise, zur Zentrale!", aufgefordert, mich dort zu melden. Mir wurde gesagt, dass ein Kollege mich durch die Anstalt führen werde, damit ich die Baulichkeiten und die einzelnen Verwaltungsdienststellen kennen lernen sollte. Es kam der Kollege Höffker und gab mir die Hand. Er war etwas kleiner als ich, jedoch erheblich breiter, ohne dick zu sein. Obwohl bereits seit zwei Jahren im Dienst, war er auch noch Angestellter wie ich. Er verzog allgemein keine Miene und machte einen sehr energischen Eindruck.
Drei Stunden lang führte er mich durch die ganze Anstalt. Zunächst zu den Verwaltungsdienststellen, der Arbeitsverwaltung, der Vollzugsgeschäftsstelle, der Zahlstelle, der Wirtschaftsverwaltung mit Küche und dann zu den Werkbetrieben, wie Tischlerei, Schlosserei, Glaserei und Papierschuppen. Im letztgenannten Betrieb wurde angeliefertes Altpapier aufeinandergelegt und mit Handpressen zu handlichen Bündeln gepresst, die dann mit Lastwagen abgeholt wurden. Eine schwere, aber sehr einfache Arbeit, die keine fachlichen Voraussetzungen erforderlich machte.
Zum Schluss ging es in die beiden anderen Verwahrhäuser, I und III. Im Haus I wurde der sogenannte Anfangsvollzug durchgeführt, allgemein bis zu drei Monaten. Bis auf die Hausarbeiter waren die Gefangenen ohne Arbeit und somit 23 Stunden am Tag unter Verschluss. Mir fiel sofort der etwas unangenehme Geruch im ganzen Haus auf. Kollege Höffker sagte mir, im Haus werde noch „gekübelt". Die Zellen hätten noch keine Spültoiletten, sondern nur jeweils ein etwa 25 cm hohes Kunststoffgefäß mit einem Durchmesser von etwa 30 cm, dem sogenannten Kübel, in welchen die Gefangenen ihre Notdurft verrichten mussten. Er meinte, dass der Geruch sich jetzt, in der Mittagszeit, in Grenzen halten würde. Ich müsste mal zum Frühdienst kommen, denn dann werden die Kübel in der Spülzelle von den Hausarbeitern geleert, kurz gespült und zu den Zellen zurückgebracht. Der Gestank sei dann ganz furchtbar. Ich sollte noch das Vergnügen bekommen, mich von der Richtigkeit seiner Worte zu überzeugen.
Wir gingen dann zum Verwahrhaus III, dem Zuchthaus. Hier fiel mir gleich auf, dass es erheblich ruhiger war als in den beiden anderen Häusern. Der Beamte der Zentrale sagte mir, dass das Haus mit etwa 450 Gefangenen belegt sei, davon 90 „Lebenslängliche". Bis auf einige Gemeinschaftszellen mit jeweils fünf Plätzen gab es hier nur Einzelzellen. Die Kennkarten an den Zellentüren waren bei den lebenslänglich bestraften Gefangenen oben mit einer roten Ecke versehen. Zuchthaus wurde bei der Begehung von Verbrechen verhängt. Das hatte ich noch bei der Polizeiausbildung gelernt. So waren hier die Straftaten Mord, Totschlag, Raub, Vergewaltigung, menschengefährdende Brandstiftung u. a. vertreten.
Zum Ende unseres Rundgangs war es dem Kollegen Höffker offenbar ein Bedürfnis, mich als Neuling über den Umgang mit Gefangenen aus seiner Sichtweise zu informieren. Ich merkte sofort, dass er stets einen gehörigen Abstand zu Gefangenen einhalten wollte. Er sagte mir, ich solle die Insassen nicht zu dicht an mich heranlassen. Es sollte mit ihnen kein Gespräch geführt werden, das nicht im Zusammenhang mit dem Vollzugsgeschehen stehe. So sagte er: „Von mir wird nie ein Gefangener etwas erhalten. Ich würde ihm noch nicht einmal Feuer geben oder die Uhrzeit sagen!" Das fand ich doch sehr drastisch. Er erschien mir regelrecht verbissen bezüglich seiner ablehnenden Einstellung gegenüber den Inhaftierten. Später erfuhr ich von anderen Kollegen, dass Kollege Höffker sogar Hass ihnen gegenüber erkennen lasse, denn seine 16jährige Tochter sei von einem Mann vergewaltigt worden, der jedoch nicht gefasst worden war. Als Kollege war er jedoch sehr nett und bei Bedarf auch sehr hilfsbereit. Er ging später durch Laufbahnwechsel zum Verwaltungsdienst über, was ich persönlich für ihn aber auch für den Vollzugsdienst als sehr zweckmäßig ansah. Zum Verwahrhaus II zurückgekehrt wurde ich zum Vollzugsdienstleiter gebeten. Dieser eröffnete mir, dass ich ab kommendem Montag, es war Freitag, die Station 4 allein übernehmen solle, weil der Kollege Griesel, der offensichtlich mit mir ganz zufrieden war, einen anderen Dienstposten übernehmen müsse. Am Sonnabend hatte ich noch Dienst beim Kollegen Griesel, der mich abermals intensiv in die Aufgaben auf der Station 4 einwies.