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In anderen Verwahrhäusern
ОглавлениеSo vergingen die Wochen und Monate im Verwahrhaus II. Ich hatte mich allmählich gut eingearbeitet und verstand mich auch mit den anderen Kollegen. Auch mit den Gefangenen, die wir allgemein als „Knackis“ bezeichneten, kam ich recht gut aus. Ich wurde durchaus akzeptiert, obwohl ich nicht übermäßig gutmütig zu ihnen war. Wenn sie Probleme hatten, konnte ich ihnen aber auch zuhören und war bereit, ihnen Ratschläge zu erteilen.
Im Frühsommer traf ich dann wieder jemanden, den ich kannte. Er hieß Lohmann und war beim „Labor Service“ in der Kompanie, in welcher ich 1960 und 1961 als Wachmann eingesetzt war, Mastersergeant, so etwas wie Spieß, gewesen. Er hielt sich immer für etwas Besonderes. Es war aber bekannt, dass er ziemlich viel Alkohol trank. Auch seine Frau trank angeblich ziemlich viel und es kam zwischen ihnen häufig zum Streit, insbesondere wenn Lohmann angetrunken nach Hause kam. Eines Tages kam es zur Katastrophe. Wieder einmal kam er alkoholisiert nach Hause und, wie er später erklärte, habe seine Frau im Bett gelegen und ihn beschimpft. Daraufhin wurde er so wütend, dass er mit seinem Taschenschirm auf sie einprügelte, bis sie sich nicht mehr rührte. Im Krankenhaus starb sie Tage später infolge der Verletzungen.
Lohmann wurde wegen Totschlags zu viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Im Haus II wurde er als Schreiber der Arbeitsverwaltung eingesetzt, worauf er sich offenbar viel einbildete. Zu mir sagte er: „Na, Sie haben ja noch gar keine Streifen auf der Schulter. Die Beförderung klappt hier wohl nicht!" Ich antwortete: „Dafür hatten Sie aber einen erstaunlichen Aufstieg zu verzeichnen!" Wir haben uns dann später nicht mehr viel unterhalten. Weil er nicht vorbestraft war, wurde er nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner Strafe, also nach drei Jahren, auf Bewährung entlassen. Als die Sommerurlaubszeit begann, wurde ich für eine Woche als Vertretung im Verwahrhaus I im Frühdienst eingesetzt. Ich hatte das befürchtet und machte meinem Frust Luft, indem ich mich bei dem Vollzugsdienstleiter (Ziegenlehmann) beschwerte. Ich hatte gerade eine Station übernommen und war im Hause auch nicht mehr der dienstjüngste Bedienstete. Was bekam ich zu hören? „Sie sind ein tüchtiger Kollege für mich. Ich will nicht, dass ich blamiert werde, wenn ich jemanden hinschicke, der dort nicht klarkommt!" Tatsächlich erfuhr ich später, dass ein anderer Kollege, der schon Beamter war, nach zwei Tagen erkrankte, als er zum Haus I eingeteilt wurde. So meldete ich mich also am nächsten Morgen beim Vollzugsdienstleiter, Hauptverwalter Truske, einem älteren, riesigen, kräftigen Beamten, der dafür bekannt war, dass er gelegentlich undisziplinierte Gefangene mit beiden Händen an der Jacke packte, anhob und heftig schüttelte. Zu mir sagte er freundlich: „Kollege Lehmann hat gesagt, du bist ein guter Mann und warst schon Polizist. Da brauche ich mir ja keine Gedanken zu machen. Du übernimmst die Station B 1!" Diese war ganz unten. Um 6.30 Uhr schloss ich dann, wie alle anderen Bediensteten, die Zellen auf. Hier wurde sofort „gekübelt", indem die Fäkalienschüsseln, allgemein „Scheißeimer“ genannt, von den Insassen auf den Flur gestellt wurden. Danach eilten die Hausarbeiter auf beiden Seiten der Station herbei und trugen diese, jeweils vier Stück übereinander, in die Spülzelle, wobei sie die oberste Schüssel mit dem Kinn festhielten. In der Spülzelle wurden die Schüsseln in das riesige Abflussbecken ausgekippt, ganz kurz ausgespült und wieder vor die Zellen gestellt. Sofort entwickelte sich ein gewaltiger Gestank, so wie es mir der Kollege Höffker bei der Anstaltsführung detailliert beschrieben hatte. Ich bewegte mich auf der untersten Station etwas entfernt von den Zellentüren, um Abstand zu haben. Plötzlich rief der Hausarbeiter laut: „Vorsicht, Meister!" Er hatte mich gerettet. Auf der Station B 4 ganz oben, war einem Hausarbeiter der oberste Kübel über das Geländer in die Tiefe gefallen. Ich sehe das noch heute vor mir: Der Kübel fiel ins Netz, der Inhalt kippte aus und fiel ebenfalls ins Netz. Der Urin war zuerst unten, dann folgten die Festfäkalien, die aufs Netz fielen, dann auf dem Maschendraht langsam durchbrachen und anschließend mit einem klatschenden Geräusch auf dem Flur landeten. Das Toilettenpapier hing noch eine Stunde im Maschendraht, bis ein Hausarbeiter aufs Netz kroch und es entfernte.
Ich hatte nichts abbekommen. In einer Pause ging ich eine Schachtel Zigaretten ziehen, von der ich dann den Hausarbeitern jeweils zwei Zigaretten gab. So etwas hatte ich bis dahin noch nicht gemacht.
Für den Rest der Woche kam ich gut über die Runden. Mittags hatten mich die Hausarbeiter gebeten, sie in einer Zelle zusammenzuschließen, weil sie Skat spielen wollten. Auch das habe ich gestattet, was durchaus üblich war.
Nach sieben Tagen Frühdienst war ich zufrieden, wieder im Haus II zu sein. Ich bekam einen Tag frei und war dann wieder auf meiner Station 7 im Frühdienst. Dort angekommen fragte ich meine Hausarbeiter, ob es etwas Neues gebe. Man sagte mir, auf einer Dreimannzelle sei ein Zugang, der ein bisschen bekloppt sei. Er war ohne Arbeit und würde oft versuchen, beim Arbeitsaufschluss nach dem Mittagessen mit den beiden anderen arbeitenden Gefangenen die Zelle zu verlassen. Es war ein großer kräftiger Kerl, der aber etwas einfältig wirkte und beim Sprechen keinen vernünftigen Satz zu Stande brachte.
Tatsächlich versuchte sich dieser Gefangene beim Arbeitsausschluss hinauszudrängen. Ich schob ihn mit der Tür zurück, er hatte aber seinen Fuß zwischen Schwelle und Tür gestellt, sodass ich diese nicht schließen konnte. Ich sah nach rechts in Richtung Zentrale, in der Hoffnung, einen Kollegen um Hilfe rufen zu können. Plötzlich sagte jemand links von mir: „Ein’ Moment mal!" Ich dachte zuerst, es sei ein Kollege, der mir die Tür aus der Hand nahm, sie öffnete und den renitenten Häftling ergriff. Danach hörte ich ein klatschendes Geräusch und sah, wie der Insasse auf sein Bett fiel. Ich verschloss die Zelle und sah, dass mir ein Gefangener geholfen hatte. Dies war ein als Schläger bekannter Ex-Zuhälter, der Hausarbeiter beim Krankenrevier war. Er hatte eine Einzelzelle auf meiner Station. Er sagte nur: „Das macht der nicht noch einmal." Und er behielt Recht. Natürlich erwartete er von mir ab und zu einen kleinen Gefallen, zum Beispiel, dass er sich in den Nachmittagsstunden zuweilen auf eine andere Station begeben dürfe. Ich entsprach seinem Wunsch, wenn der betreffende Stationsbeamte damit einverstanden war.
Nach den Schulferien Ende August bekam ich drei Wochen Urlaub. Meine Tochter war noch nicht schulpflichtig und wir fuhren mit dem Auto in eine Ferienwohnung im Bayerischen Wald. Es war ein schöner Urlaub, wir haben uns richtig erholt. Aber auch der ging vorüber und ich trat meinen Dienst im Haus II auf meiner bisherigen Station wieder an. Es war ein wenig wie nach Hause kommen. Die Hausarbeiter waren zufrieden, dass ich wiederkam.
Der Dienst im Wechsel mit Früh-, Nacht-, Spät- und Zwischendienst wurde zur Routine und brachte mich nicht in Schwierigkeiten.
Im Oktober erwischte es mich wieder: Ich wurde für je eine Woche im Früh- und im Spätdienst im Zuchthaus eingeteilt. Ich meldete mich zum Frühdienst beim Vollzugsdienstleiter, den ich vom Sehen kannte. Er unterwies mich kurz und sagte mir, dass auf meiner Station B 4 zwölf Lebenslängliche untergebracht wären, die aber sehr ruhig seien. Nur einer von ihnen habe immer Extrawünsche. Es war der Gefangene Martens, der wegen Doppelmordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Er hatte die Tat nie zugegeben.
Ich begab mich zu meiner Station und schloss zuerst die Hausarbeiter aus. Der erste Hausarbeiter, wir Bediensteten benutzten fast ausnahmslos den Ausdruck Kalfaktor, der ja so etwas Ähnliches wie Hausmeister bedeutet, grüßte höflich. Er trug saubere braune Anstaltskleidung und hatte ein weißes Geschirrhandtuch vorn in den Hosenbund gesteckt, was wie eine Schürze aussah. Er war etwa Ende vierzig und hatte vier Vorstrafen, zunächst Einbruchdiebstahl, dann als letzte Tat gemeinsamer Postraub unter Einsatz von Waffen. Unter Berücksichtigung der Vorstrafen hatte ihm dieser Raub acht Jahre eingebracht, von denen er bereits die Hälfte verbüßt hatte. Eine vorzeitige Entlassung zur Bewährung gemäß § 57 StGB kam bei seinem kriminellen Vorleben überhaupt nicht in Frage. Der Kalfaktor wusste, dass ich aus dem Haus II kam und dass ich in Vertretung des ständigen Bediensteten für den Früh- und den Spätdienst auf der Station bleiben würde. Er sagte, dass ich mich mit Fragen immer an ihn wenden könne, er kenne sich im Hause gut aus.
Ich schloss nun alle Zellen auf, wobei er mich begleitete und die Essbestecke den Gefangenen übergab. Beim Aufschluss fiel mir auf, dass die Hafträume fast alle über eine individuelle Raumausstattung verfügten. Überwiegend waren kleine bunte Gardinen an den Seiten des Zellenfensters angebracht, Scheibengardinen waren damals nicht gestattet. Ein Regal war über dem Bett erlaubt, hier waren es zumeist zwei, wobei sich das zweite über dem kleinen Tisch befand, auf welches meistens mehrere Bücher gestellt wurden. Auch Bilder, zumeist von Familienangehörigen oder Freunden waren gestattet, jedoch sichtbar keine nackten Frauen, die allgemein im Sprachgebrauch als „Wichsvorlagen" bezeichnet wurden.
Eine kurze Diskussion gab es beim Aufschluss der Zelle von Martens. Er sagte: „Damit Sie gleich Bescheid wissen, gegen 10 Uhr will ich zum Friseur, bin angemeldet, um 11 Uhr zur Rechtsanwaltssprechstunde, dann zum Büchertausch. Und denken Sie daran, wenn meine Zeitung kommt, will ich diese gleich haben und nicht erst abends!" Ich wurde sofort innerlich etwas wütend. Was dachte sich dieser Mörder eigentlich? Ist er hier etwas Besonderes, ein Star-Gefangener? Ich beherrschte mich und sagte nur, er solle seine Sonderwünsche auf einen Vormelder schreiben, ich sei schließlich nicht sein persönlicher Dienstbote. Das hatte gesessen. Er schnappte nach Luft. Der Kalfaktor grinste und nickte anerkennend.
Die Frühstücksausgabe verlief reibungslos, alle waren ordnungsgemäß bekleidet. Der Gefangene Martens gab mir wortlos einen Vormelder.
Auffällig war, dass es im Zuchthaus ungleich ruhiger und auch sauberer war. Aufgrund ihrer langen Strafen verhielten sich die Gefangenen selbst auch unauffälliger und disziplinierter. Sie hatten sich sozusagen eingerichtet, sie waren hier zu Hause. Einige von ihnen betrieben Fernstudien und hatten auch eine Schreibmaschine in der Zelle, zum Beispiel Martens, der das Abitur machen wollte, um anschließend Jura zu studieren. Diese Insassen hatten auch zumeist Lichtverlängerung bis 24 Uhr, was auf einer kleinen Karte unter dem Lichtschalter ersichtlich war. Sie brauchten auch keine Haftkosten zu zahlen, weil ihre Tätigkeit als Selbstbeschäftigung galt und nicht als Arbeitsverweigerung. Den monatlichen Einkauf konnten sie nur vom Eigengeld bestreiten, sofern vorhanden. Das war nicht selbstverständlich. Insbesondere bei den „Lebenslangen" waren die Verbindungen nach draußen häufig völlig erloschen. Auch bei Martens war das Geld sehr knapp und so meldete er sich vor, als Büchereikalfaktor beschäftigt zu werden, weil bei dem bis dahin in der Bücherei tätigen Gefangenen die baldige Entlassung bevorstand.
Das erinnert mich an eine Geschichte, die sich im Haus II ereignete und wirklich einzigartig war. Von der staatlichen Bibliothek wurde an die Strafanstalt Tegel eine Diplombibliothekarin vermittelt, die eine große Menge gespendeter Bücher mitbrachte und diese, sowie die schon vorhandenen, katalogisieren und in die Verwahrhäuser aufteilen sollte.
Ihr Arbeitsplatz war jedoch in der Bücherei im Haus II. Diese Frau, ich hatte sie mehrmals vom Turm 5 aus gesehen, kann so um die 35 Jahre alt gewesen sein und war, ohne zu übertreiben, furchtbar hässlich. Sie war etwa 1,80 m groß, hatte einen leichten Buckel und mindestens Schuhgröße 45. Auch das Gesicht und alles an ihrer Figur waren nicht geeignet, sich einen körperlichen Kontakt mit ihr vorzustellen. Ein „Knacki“ sagte damals zu mir: „Wenn die ein Blinder anbaggern sollte, würde bestimmt sein Hund knurren!" Dieser Meinung waren nicht nur wir Bediensteten, sondern auch allgemein die Gefangenen, bis auf einen. Dieser, so um die 40 Jahre und Büchereikalfaktor im Haus II, hat sie tatsächlich, ganz bestimmt mit ihrem Einverständnis, geschwängert. Wir konnten das nicht fassen. Ich war zu dieser Zeit schon in der UHA Moabit, wurde aber vom Fortgang der Angelegenheit informiert. Ein alter „Knacki“, der auch von der Sache erfahren hatte, sagte mir später einmal: „Herr Weise, wenn Sie jahrelang nicht rauskommen und im Knast erscheint eine Frau, die noch schlimmer aussieht als eine Hexe, glauben Sie mir, die wird von Tag zu Tag schöner!"
Die Bibliothekarin bekam allmählich einen erkennbaren Babybauch. Natürlich wurde zunächst angenommen, sie hätte einen Mann zu Hause, der dafür verantwortlich war. Die Wahrheit kam ans Licht, weil der betreffenden Gefangene, also der Erzeuger, anderen Insassen gegenüber damit angegeben hatte, dass er der künftige Vater sei. Natürlich wurde das weitererzählt und gelangte auch zu Ohren der Anstaltsleitung. Die werdende Mutter wurde befragt und gab auch sofort zu, mit dem Büchereikalfaktor in der Bücherei des Hauses II geschlechtlich verkehrt zu haben. Wie allgemein bekannt wurde, soll sie über die bevorstehende Niederkunft recht glücklich gewesen sein. Natürlich musste sie ihre Tätigkeit in Tegel beenden. Was aus der Beziehung wurde, ist nicht bekannt geworden.
Die Abgabe von Martens Vormelder bei dem Beamten der Zentrale löste Erstaunen, jedoch auch Anerkennung aus. Er sagte: „Endlich hat ihm mal einer auf die Füße getreten. Das mit dem Friseur und dem Rechtsanwaltsbesuch geht in Ordnung. Ich ruf’ dich dann an. Der Büchertausch wird mittags, nach dem Arbeitsaufschluss durchgeführt, die Zeitung wird von der Pforte erst um 11 Uhr geholt." Der Dienst auf Station B 4 verlief ohne Schwierigkeiten. Natürlich hatten die Hausarbeiter kleine Extrawünsche. Einer meldete sich mittags kurz ab und kam mit einem Eierkarton zurück. Es gab dann Spiegeleier mit Bratkartoffeln für die drei Hausarbeiter. Es roch deutlich nach Gebratenem, ich bekam direkt etwas Appetit. Ich aß dann meine von zu Hause mitgebrachten Stullen und trank Tee aus meiner Thermoskanne. Nach Ausschluss der Arbeiter schloss ich die drei „Kalfaktoren“ in der Spülzelle ein, weil sie Skat spielen wollten. Dies war überall im Hause üblich, sofern die jeweiligen Hausarbeiter sich ordnungsgemäß verhielten.
So ging die Woche am Sonntag vorbei und ich wechselte in den Spätdienst am Montag um 14.15 Uhr. Als ich am Sonntagnachmittag das Haus III verließ, schloss sich mir ein Kollege an. Er war schon Hauptwachtmeister, etwa 50 Jahre alt und seit 10 Jahren in Tegel. Wir gingen zusammen zur U-Bahn, er wohnte in der Nähe vom Moritzplatz in Kreuzberg. Er fragte mich, ob es mir im Vollzug gefalle und warum ich nicht zur Polizei gegangen wäre. Ich sagte, dass ich dort zwei Jahre gedient hatte, aber nicht bleiben durfte. Er sei ebenfalls bei der Polizei gewesen, seit 1937. Dann sei er Anfang 1940 nach Danzig in Polen versetzt worden, wo er auch während des Kriegs als Polizist im Dienst war. 1945 war er mit der kämpfenden Truppe bis nach Berlin zurückgekommen und dann als Uniformträger in Gefangenschaft geraten. Diese dauerte nur 18 Monate. Er war zunächst als gelernter Tischler tätig und bewarb sich dann bei der Polizei. Als er nicht genommen wurde, versuchte er es 1956 beim Strafvollzug, der ihn einstellte.
Ich wurde sofort an das Schicksal meines Vaters erinnert und an das unsrige, das seiner Frau mit uns zwei Jungen. Er war nach dem 1. Weltkrieg, den er vor Verdun schwerverletzt überstanden hatte, bei der Berliner Polizei eingestellt worden. Seinen Dienst verrichtete er als Polizeibeamter auf Polizeirevieren in Neukölln und Schöneberg in der Hauptstraße, zuletzt als Polizeimeister.
Zum Ende 1941 wurde er nach Bialystok, damals noch in Weißrussland, versetzt und war dort Reviervorsteher. Im Sommer 1942 fuhr meine Mutter mit uns beiden Brüdern zu ihm. Mein Bruder war sechs, ich drei Jahre alt. Wir wohnten in einem Holzhaus gegenüber einem Park und von dem etwa einen Kilometer entfernten Ghetto entfernt, wo Tausende Juden in einem umzäunten Bereich untergebracht waren.
Wir lebten ganz gut in unserem Haus, das bestimmt zuvor konfisziert worden war. Meine Mutter ließ sich sogar aus Deutschland ein Klavier anliefern, um in Übung zu bleiben. Ich nehme an, meine Eltern dachten, für immer dort zu bleiben. Anfang 1943 wurde mein Bruder zusammen mit anderen deutschen Kindern in Bialystok eingeschult.
Eines Tages brachte uns unser Vater zwei schwarz-weiße Hundewelpen mit. Jeder bekam einen. Als wir Tage später mit den Hunden vor dem Haus auf dem Bürgersteig spielten, kam plötzlich ein Pole vorbei, griff sich meinen kleinen Hund und ging schnellen Schrittes weiter. Ich rief laut: „Papa, Papa!" Mein Bruder rannte ins Haus und holte meinen Vater, der mit seiner Pistole in der Hand dem Mann nachrannte.
Sie waren beide im Park verschwunden. Kurz darauf fiel ein Schuss und mein Vater brachte mir meinen Hund wieder. Auf eine entsprechende Frage meiner Mutter, die auch aus dem Haus gekommen war, sagte er, er habe hinter dem fliehenden Mann in die Luft geschossen, worauf dieser den Hund ins Gebüsch geworfen habe. Ich bin ganz sicher, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Er war kein Mensch, der einfach einen anderen erschoss. Außerdem hätte das großes Aufsehen verursacht, denn der Pole war kein Jude und das Zusammenleben zwischen Polen und Deutschen in der besetzten Stadt war relativ normal. Wir waren sogar wiederholt bei polnischen Bauern eingeladen, denen es nicht schlecht ging. Uns wurde jeden Morgen eine große Kanne Milch und eine Schüssel mit Eiern geliefert.
Dann allerdings passierte etwas Schreckliches. Es muss im Frühjahr 1943 gewesen sein, als mein Vater in voller Uniform ins Haus kam und uns sagte, wir sollten das Haus nicht verlassen. Gerade das veranlasste natürlich meinen Bruder und mich, wenigsten vom Vorgarten aus, etwas versteckt zu gucken, was passieren würde. Kurz darauf rückten SS-Angehörige heran und stellten mehrere Panzerabwehrgeschütze nebeneinander in Sichtweite von unserem Haus auf. Vor den Kanonen waren keine Gebäude, sondern ein freies Feld. Hinter diesem befand sich in etwa 1000 Metern Entfernung das Ghetto.
Mein Vater hatte mit mehreren anderen Polizisten die Straße mit Polizeifahrzeugen abgesperrt. Ein SS-Offizier stand seitwärts für uns gut sichtbar, hob seinen Arm, senkte ihn ruckartig und brüllte: „Feuer!" Dies wiederholte sich einige Male. Ich sehe es noch heute vor mir, wie die PAK-Geschütze bei jedem Schuss etwas zurückschnellten und ein SS-Mann dann sofort eine etwa einen halben Meter lange Granate in das Geschützrohr schob.
Meine Mutter hatte damals gegenüber meinem Vater die Handlungsweise der SS scharf verurteilt, weil es bestimmt auch unter Frauen und Kindern viele Opfer gegeben habe. Mein Vater versicherte ausdrücklich, er habe mit dieser Aktion nichts zu tun gehabt, er sollte nur für die Absperrung sorgen. Die SS-Leute hätten gesagt, dass in der Nacht zuvor zwei deutsche Wachposten vor dem Umgehungszaun durch heruntergeworfene große Steine getötet worden seien und dadurch diese Strafaktion erforderlich geworden wäre.
Im Sommer 1944 hatten sich meine Eltern entschlossen, den Wohnort Bialystok aufzugeben. Meine Mutter machte sich mit uns beiden Brüdern auf den Weg in Richtung Berlin. Mein Vater blieb zunächst zurück in seiner Dienststelle. Es wurde eine sehr lange, beschwerliche und am Ende auch gefährliche Rückreise. Zuerst nach Warschau, wo wir für zwei Wochen in einem Hotel unterkamen. Dann fuhren wir weiter nach Gnesen, wo ich an Scharlach erkrankte und ins Krankenhaus kam. Ich gesundete nur sehr langsam und musste weiterhin stationär behandelt werden.
Meiner Mutter dauerte das offensichtlich zu lange und sie fuhr mit meinem Bruder mit dem Zug zurück nach Berlin.
Ich war nun bald der einzige Patient im Krankenhaus, weil mit Näherkommen der Front alle anderen Kranken, ausschließlich Kinder, entlassen wurden. Ich weiß nicht, wie lange ich warten musste. Der Geschützdonner war nun schon recht deutlich zu hören, die Front konnte nicht mehr weit von der Stadtgrenze entfernt sein. Die polnischen Krankenschwestern wirkten sehr fröhlich und sangen häufig. Offensichtlich freuten sie sich auf die Ankunft der russischen Soldaten.
Dann, einen abends, hörte ich plötzlich schwere Schritte auf dem Krankenhausflur und eine laute Stimme fragte: „Wo ist mein Sohn?“ Die Schwestern reagierten sofort und führten meinen Vater an mein Krankenbett. Sie kleideten mich rasch an und stopften den Rest meiner Sachen in einen Kopfkissenbezug, den sie meinem Vater aushändigten, der mich in eine Decke wickelte und mit mir auf dem Arm eiligst das Krankenhaus in Richtung Bahnhof verließ, der ganz in der Nähe war. Dort stand der letzte Verwundetentransportzug, der natürlich überfüllt war. In meinem Gedächtnis ist verblieben, dass mein Vater rief: „Hier ist ein krankes Kind!“ Darauf wurde ich von den Soldaten mit ausgestreckten Armen über ihren Köpfen weitergereicht und in ein Gepäcknetz gelegt. Dann weiß ich nur noch, dass wir endlich in unserer Straße waren, vor unserem Wohnhaus.
Wie mir mein Vater später berichtete, waren wir sechs Tage unterwegs gewesen. Kurz hinter der polnischen Grenze hätten Tiefflieger unseren Zug angegriffen und beschossen. In zwei Wagen neben unserem, hatte es Tote und Verletzte gegeben. Wir waren verschont geblieben.
Bis zum Kriegsende im Mai 1945 mussten wir uns nun häufig wegen der Bombenangriffe in Luftschutzkeller begeben.
Kurz nach Kriegsende erfuhren wir, dass mein Bruder Rudolf als Offiziersanwärter in der Nähe von Posen gefallen war. Er wurde 19 Jahre alt. Mein ältester Bruder Helmut war bereits 1943 in Kroatien als Panzerführer ums Leben gekommen. Er wurde 21 Jahre alt. Mein Vater kam im Sommer 1946 aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause. Es war seine zweite Kriegsheimkehr.
Im Übrigen habe ich nie nachvollziehen können, warum mich meine Mutter allein in Gnesen zurückgelassen hatte. Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre in Polen geblieben.
Am Montag begann für mich der erste Spätdienst im Zuchthaus um 14.15 Uhr. Als ich übernahm, waren die Gefangenen noch unter Verschluss. Als kurz nach 15 Uhr die arbeitenden Insassen ins Haus zurückkamen, schloss ich die Hausarbeiter aus der Spülzelle aus. Als ich nahe der Zentrale, am sogenannten „Stern“ vorbeiging, hörte ich den Zentralbeamten rufen: „Gefangener Butzke zur Zentrale!" Ein großer, athletisch aussehender Gefangener ging zur Zentrale und ließ sich ein Schriftstück aushändigen. Ich erinnerte mich sofort, wer er war.
Die Straftat von Butzke und seines Kumpanen Heidmann hatte 1962 insbesondere im Umkreis des Tatorts, in welchem meine Familie und ich wohnten, für Abscheu und Entsetzen gesorgt. Butzke war ungefähr zu meiner Zeit ebenfalls bei der Bereitschaftspolizei gewesen, hatte dann aber aus mir unbekannten Gründen dort aufgehört. Mit Heidmann zusammen, ohne Arbeit und Geld, hielt sich Butzke in Kreuzberg und Neukölln ziellos auf, wobei Butzke das Sagen hatte und Heidmann alles machte, was er vorschlug.
Ihnen war der kleine Lebensmittelladen in der Bürknerstraße, nahe Maybachufer, bekannt, ebenso das ältere Ehepaar, dem der Laden gehörte. Dieser befand sich neben dem Farben- und Tapetengeschäft, in welchem ich von 1955 – 1957 in der Lehre gewesen war. Ich hatte manchmal bei dem Ehepaar Kleinigkeiten für das Frühstück gekauft, es waren ganz nette Leute. Sie müssen 1962 bestimmt Ende 60 gewesen sein. Butzke und Heidmann hatten beschlossen, das Geschäft gegen Ladenschluss zu überfallen und das Ehepaar zu berauben.
Um 19 Uhr hatten die Besitzer gerade ihr Geschäft verschlossen, als Butzke an die Ladentürscheibe klopfte und zu verstehen gab, dass er noch etwas kaufen wolle. Da er dem Ehepaar bekannt war, ließen sie ihn eintreten, wobei Heidmann sich mit in den Laden drängte. Sie verschlossen die Ladentür von innen und forderten unmissverständlich die Tageseinnahmen aus der Kasse. Voller Angst kam das Ehepaar der Aufforderung nach und händigte den Räubern das vorhandene Geld, wahrscheinlich wenige 100 DM, aus. Butzke beschloss, oder hatte schon zuvor beschlossen, die beiden Ladenbesitzer umzubringen, weil er und Heidmann ihnen bekannt waren. So stachen dann beide Täter mit zwei Messern, die zur Ausstattung des Lebensmittelgeschäfts gehörten, auf die Überfallenen so lange ein, bis sie in einer großen Blutlache zusammenbrachen und verstarben. Es wurden bei der Obduktion bis zu 70 Messerstiche festgestellt.
Ich weiß noch, dass nach der Tat Lautsprecherwagen der Polizei durch die Bürknerstraße fuhren und um Hinweise baten, die der Aufklärung des Doppelmordes dienen könnten. Tastsächlich dauerte es nicht lange, bis die beiden Täter gefasst und zu je einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt wurden. Im Zuchthaus blieb Butzke allgemein isoliert und wurde von den anderen Gefangenen überwiegend gemieden. Er arbeitete damals in der Weberei.
Zu Weihnachten des vergangenen Jahres hatte er auf der Etage über der Zentrale gestanden und den Vollzugsdienstleiter, der in der Zentrale stand, bei seinem Namen gerufen. Als dieser heraustrat, kippte ihm Butzke von oben einen Eimer Wasser über den Kopf und rief: „Frohes Fest, Herr Oberverwalter!" Die sieben Tage verschärften Arrest, die dafür gegen ihn verhängt wurden, nahm er kommentarlos in Kauf. Heidmann hatte sich allmählich dem Einfluss von Butzke entzogen und begonnen, nachdem ihn der evangelische Pfarrer in seiner Zelle aufgesucht hatte, regelrecht fromm zu werden. Er ließ in der Folge keinen Gottesdienst aus. Ich sehe ihn noch heute, wie er mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf auf der Kirchenbank saß. Als ich 1984 erneut in Tegel meinen Dienst im Haus III als Gruppenleiter antrat, war Heidmann nicht mehr in Haft. Er soll nach 21 Jahren entlassen und in einem kirchlichen Altersheim als Arbeitskraft für anfallende Tätigkeiten in Kost und Unterkunft untergebracht worden sein.
Auf der mir zugeteilten Station B 3 verlief alles routinemäßig. Die Hausarbeiter, insbesondere der „erste Kalfaktor“, funktionierten sehr gut. Die Abendbrotausgabe ging recht schnell vonstatten und wenn ein Gefangener „die Fahne warf“, ging einer von ihnen hin und fragte, was dieser wolle, um mir das dann mitzuteilen. Eigentlich ging das zu weit, das gehörte nicht zu ihren Aufgaben. Weil es im Zuchthaus aber offensichtlich so üblich war, ließ ich es dabei bewenden.
Nach dem Einschluss gegen 18 Uhr ging der Zwischendienst nach Hause und es verblieben normalerweise sieben Bedienstete, davon ein Hauptwachmeister, als Schichtführer. Bei plötzlichen Ausfällen, zum Beispiel durch Erkrankungen, musste es auch mit sechs Kollegen gehen, so wie in der Woche, in der ich dem Spätdienst im Haus III zugeteilt war. Jeweils zwei Kollegen waren gleichzeitig auf den Türmen und wenn sie abgelöst wurden, waren für etwa 10 Minuten nur der Schichtführer und ein Kollege im Haus, der, wie die vier gerade abwesenden, mit einer Pistole nach dem Einschluss bewaffnet wurde.
Es kam der dritte Tag im Spätdienst, ein Mittwoch. Es war 20 Uhr, die beiden Türme lösten gerade ab, der Schichtführer war nicht in der Zentrale. Ich saß allein mit umgeschnallter Pistole an dem großen Tisch vor der Zentrale und blätterte in einer Illustrierten mit dem Gesicht zur Wand, was natürlich aus Polizeisicht ein Fehler war. Plötzlich sagte hinter mir jemand: „Hallo, guten Abend!" Ich drehte mich schnell um und erstarrte fast. An der gegenüberliegenden Wand stand Butzke. Ich stand auf und ging einige Meter zur Seite. Er sagte: „Ich wollt' Sie nicht erschrecken!"
Es stellte sich heraus, dass der Hausvorsteher zuweilen noch abends in seinem Büro im Verwaltungstrakt arbeitete, das heißt, dass er Berichte über Gefangene schrieb und sie sich aus diesem Grunde auch noch um 20 Uhr vom Schichtführer vorführen ließ. Dieser war jedoch mit Butzke nicht mitgegangen, sondern hatte erst den Gefangenen weggeschlossen, der vorher beim Vorsteher gewesen war. Ich hatte anschließend dem Schichtführer schwere Vorwürfe gemacht und auf mögliche Folgen hingewiesen, wenn mich Butzke angegriffen hätte, um an meine Pistole zu kommen. Schließlich könne er mit dieser durch seine Polizeiausbildung mühelos umgehen und was hätte er schon zu verlieren? Der Schichtführer entschuldigte sich dann auch. Ab sofort wurden die Türme versetzt abgelöst, sodass immer mindestens drei Bedienstete anwesend waren.
Bei Butzke hat sich Jahre später sein Schicksal erfüllt. Eines Morgens war er beim Aufschluss in seiner Zelle am Tisch, mit dem Kopf auf den Händen, tot aufgefunden worden. Er soll einem Herzinfarkt erlegen sein.