Читать книгу SoKo Fußballfieber - Gerhard Henschel - Страница 11
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ОглавлениеBei Touristen war der Skywalk auf dem 305 Meter hohen Sydney Tower sehr populär. In hellen Scharen kamen sie her, um den Hafen, die Bögen der Harbour Bridge, die Blue Mountains in New South Wales, die perlweißen Strände, die Botany Bay und die ganze große Stadt Sydney einmal von oben zu sehen. Der Glasboden der Plattform hielt der Belastung spielend stand. Jeder Besucher mußte einen Sicherheitsgürtel anlegen, mit einem dicken Seil, das mit einem Karabinerhaken an eine Metallschiene geschlossen wurde.
Windstöße zerzausten die Haare der Neuankömmlinge, und manche von ihnen kreischten auf und lachten.
Dainan Mullins, ein schlanker Mann von Mitte dreißig, hatte sich jedoch nicht eingefunden, um den Nervenkitzel und das Panorama zu genießen. Er wollte jemanden treffen, von dem er sich Auskünfte über Unstimmigkeiten in den Bilanzen der Football Federation Australia erhoffte. Mullins war einer ihrer Buchhalter und wunderte sich schon seit Monaten über ominöse Zahlungseingänge aus Zypern und Singapur. Seine Vorgesetzten hatten ihm versprochen, der Sache nachzugehen, aber nichts getan. Und vor zwei Tagen hatte ihn ein Unbekannter angerufen und gesagt, daß er in dieser Angelegenheit »Hintergrundinformationen« auf einen USB-Stick geladen habe, den er ihm am Mittwochnachmittag um Punkt fünf Uhr oben auf dem Sydney Tower übergeben werde.
Es war Mullins ein Rätsel, weshalb die Übergabe nicht auch zu ebener Erde stattfinden konnte.
Er faßte die anderen Besucher der Plattform ins Auge. Keiner von ihnen machte Anstalten, ihm einen USB-Stick zu übergeben. Sie juchzten und machten Fotos und hörten damit erst auf, als um 16.59 Uhr eine Alarmsirene schrillte.
Alles Volk drängte zum Ausgang.
»Women and children first!« rief einer der Aufpasser.
Mullins wartete geduldig, bis auch sein Seil ausgehakt wurde. Er war der letzte Besucher, der das Dach verließ, und der einzige, der nicht den Fahrstuhl nahm, sondern von einem kräftigen Mann ergriffen, hochgehoben und über das Geländer geworfen wurde.
Ungefähr zur gleichen Zeit starben auch in Kinshasa, Luanda, Kopenhagen, Ankara und Saarbrücken einige Angestellte nationaler Fußballverbände eines unnatürlichen Todes, und in Hannover fand Dietrich zur Nedden in seinem Spam-Ordner eine Nachricht von der Pressestelle des DFB vor. Der Betreff lautete: »Bock auf eine Fernreise?«
Wird schon sowas sein, dachte zur Nedden, aber er klickte die Nachricht an.
»Liebe deutsche Fußballreporter*innen«, stand da, »der Sultan von Brunei hat große Pläne: Er will die WM 2034 in sein Land holen! Aus diesem Grund hat er uns gebeten, Sie alle anzuschreiben und Ihnen mitzuteilen, dass er Sie dazu einladen möchte, sein Land näher kennenzulernen. Genaueres finden Sie im Anhang.«
Der hatte es in sich. Der Sultan versprach seinen Gästen darin die Erstattung sämtlicher Reisespesen, die kostenlose Unterbringung in einem Fünf-Sterne-Hotel mit Vollpension für zwei Wochen, ausgedehnte Sightseeing-Touren, eine Abendprogrammgestaltung der Spitzenklasse und ein Taschengeld, das sich auf zehntausend Euro pro Person belaufen sollte.
Zur Nedden ging zum Rauchen auf den Balkon, wägte Für und Wider ab und sah in die übergewichtigen Wolken hinauf. Zwei Wochen in Brunei unter einem Dach mit den Schmierfinken von Springer, RTL und Sky?
»Da mußt du durch, mein alter Freund«, sagte er schließlich zu sich selbst und hauchte einen formvollendeten Rauchring aus.
Beckenbauer und Hoeneß waren zur internationalen Fahndung ausgeschrieben worden, auch in ihrem eigenen Interesse, denn sie brauchten ihre Medikamente.
»Jetz losed Si mer bitte guät zue«, sagte Schwester Ophelia in einem dringlichen Appell an die Ausreißer, der auf vielen Smart-TV-fähigen Fernsehern kostenlos verfügbar war. »Si bruched Ihri Pille! Wüssed Si’s no, Herr Hoeneß? Si müend zweimol am Tag diä bananeförmigä blauä Tablettä näh und drüümol i dä Wuchä diä drüüeggige wiißä. Und Sie, Herr Beckebauer, bruched Ihres Haloperidol, und Si müänd jede Obed Ihren Schlofsaft trinkä. Wichtig isch aber au, daß Si beide wiiter diä Ruggägymnastiküäbigä mached: Underarmstütz, Siitestütz, Beckehebä mit Beihebä, Standwoog mit Ruedere, Hip Thrust, Chatzebuggel, Flys ufem Gymnastikballe, Kneeling Twist und Vierfüäßlerstand. Suscht chommäd Si no muskuläri Dysbalancen über!«
Aber Beckenbauer und Hoeneß pfiffen auf Ophelia Läublis Ratschlag. Sie hatten sich in den Freiburger Voralpen bis zum Schopfenspitz durchgekämpft und verzehrten in einer Almhütte die Krümel aus einer am Wegrand aufgelesenen Salzlettenpackung und einen rohen Butterpilz, den sie auf ihrer Studienreise angetroffen hatten.
Die Zeit vertrieben sie sich dann mit dem Spiel Stadt-Land-Fluß. In einem Exemplar der Fachzeitschrift Wohnmobil & Caravan, die in der Almhütte herumlag, tippte Beckenbauer mit einem Kuli blindlings auf einen Text und traf auf den vierten Buchstaben des Alphabets: D.
Als Fluß wählte Hoeneß den Dnjepr und als Stadt Dnjepropetrowsk, weil er wußte, daß Beckenbauer den Fußballverein Dnjepr Dnjepropetrowsk auf den Tod nicht ausstehen konnte. Mit diesem Psychotrick punktete Hoeneß später auch beim Scrabble, denn der Zufall hatte ihm die Buchstaben D, N, J, E, P und R in die Hände gespielt.
»Guit ned!« rief Beckenbauer. »Da Dnjepr is inzwischn in Dnepr umbenannt woan!«
Das J hatte Hoeneß aber auf einem Feld mit dreifachem Wortwert plaziert, und weil keiner der beiden Spieler nachgeben wollte, setzten sie den Konflikt handgreiflich fort, bis die Almhütte in Trümmern lag.
An diesem Abend dinierte Theofanis Michelakis, der Leiter der SoKo Fußballfieber, im Athener Nobelrestaurant Funky Gourmet mit Fushida Hisato, einem Unterhändler der Japan Football Association, der ihn darüber aufklärte, daß er das große Los gezogen habe: Wenn er die Ermittlungen einschlafen lasse, könne er sich in einer 75-Zimmer-Villa in Palm Beach zur Ruhe setzen. Andernfalls müsse er ernsthaft darüber nachdenken, welche Gefahren seinen zwei und sieben Jahre alten Kindern drohten, denn es gebe ja immer mehr Fälle von Kidnapping in Athen.
Michelakis, dem das Leben seiner Kinder lieb war, lenkte zähneknirschend ein. Er werde tun, was in seiner Macht stehe, sagte er, doch er gab zu bedenken, daß die Mitglieder der Sonderkommission sich nicht so leicht übertölpeln ließen, und schon gar nicht der Commissioner Rupert Wimmerforce. Dieser Mann habe einen Riecher für Fäulnisstellen, und er sei für seine Unbestechlichkeit berüchtigt …
»Don’t wolly!« sagte Fushida Hisato mit einem Lachen, das nicht von Herzen kam. »We’ll take cale of Mistel Wimmelfolce!«
Michael Ringel machte Ernst. In der Schmidt-Ott-Straße im Berliner Stadtteil Steglitz kettete er seinen Hals mit einem Steel-O-Flex-Panzerkabelschloß an den Gartenzaun vor der Botschaft der Republik Jemen und verteilte im Schneidersitz Flugblätter, in denen er die Trägheit der Bundesregierung anprangerte: »Der taz-Wahrheit-Autor Thomas Gsella ist auf der Arabischen Halbinsel entführt worden, und unsere Regierung legt die Hände in den Schoß! Eine besonders schwere Schuld trifft den Staatssekretär Jens-Jasper Flipsen, der sich weigert, den Präsidenten der Jemenitischen Republik zur Rede zu stellen und ihn zu fragen, wo Gsella steckt. Als verantwortlicher Redakteur der taz-Wahrheit-Redaktion trete ich heute in den Hungerstreik und werde mich erst dann wieder abketten, wenn Gsella sich auf freiem Fuß befindet.«
Anfangs blieben nur ein paar Spaziergänger vor Ringel stehen, aber nach einer Stunde wurde er von Korrespondenten aus dreißig Nationen umlagert. Um die Wogen zu glätten, offerierte ihm der jemenitische Botschafter persönlich einen Teller Rindfleischsuppe mit einer Gewürzpaste aus Koriander, Safran und Kurkuma, aber Ringel ließ sich nicht erweichen. Alles, was er annahm, war eine Flasche Kilkenny, die ihm sein Freund Ralf Sotscheck reichte, bevor er das Schlachtfeld verließ, weil er einen dringenden Termin in der irischen Botschaft hatte.
Als Hungerstreikenden sah man Ringel abends sogar in den Tagesthemen, und Jens-Jasper Flipsen geriet ins Schwitzen, als er gefragt wurde, ob das Außenministerium in der Causa Gsella genug unternommen habe. »Ich glaube«, sagte Flipsen, »und da sind der Außenminister und ich uns einig, daß wir in dieser Sache auf einem guten Weg sind und daß zwischen uns und unseren Partnern in der arabischen Welt Einigkeit darüber besteht, wie wir solche Fälle handhaben.«
Über die Nachfrage, was das für Thomas Gsella bedeute, ging Flipsen hinweg, und niemand nagelte ihn fest. Es war, wie der Reporter Bob Woodward tags darauf in der Washington Post schrieb, »der kläglichste Moment des deutschen Nachkriegsjournalismus, seit die Bundesrepublik dem Edelmann Axel Springer 1977 das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband verliehen hat«.
Ringel wiederum hatte sich inzwischen durch eine von Sotscheck gestohlene Schaufensterpuppe ersetzen lassen, um einen Happen essen gehen zu können.