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Wie man sich bettet …

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Jahr 24 des Kaisers Polanas, Sommer


Tioman Haranet ya Chernez, Oberster Meister der Wandlung zu Marin

Der Leiter der Akademie in Marin sah der jungen Frau nach. Ehe Tioman Haranet ya Chernez seine Meinung über die hübsche Probandin äußerte, interessierte ihn die Ansicht seiner Kollegen. Er wandte sich an Fenrik ya Turdon, der den Lehrstuhl für Artefakte und Alchemie leitete. „Was haltet Ihr von dem Mädchen?“

Der charismatische Nordländer fuhr sich durch die dichten schwarzen Locken. „Hübsch, sehr hübsch. Wird eine Schönheit werden.“

„Und das ist Grund genug, sie sofort aufzunehmen.“ Die Bemerkung war typisch für Rijka von Sirnan. Die hellhäutige, blonde Magierin aus dem Süden stammte aus adligem Haus, war aber nach einem Zerwürfnis mit ihrer Familie in den Norden geflohen. Fenrik hatte sie auf die lange Liste seiner Eroberungen gesetzt und sie ebenso rasch wieder fallen gelassen. Damals hätte sie den Charmeur gerne umgebracht, aber mittlerweile beschränkte sie sich auf verbale Spitzen.

Tioman amüsierte sich über die Plänkelei der Beiden. „Gibt es auch fachliche Einschätzungen durch die werte Kollegenschaft?“

Sybilla Ternakis kam von Sourin, der mächtigsten Schule der nördlichen Städte. Die Lehrverantwortliche für Wandlung und Veränderung zählte mehr als fünfzig Jahre, trug ihre kastanienbraune Haarmähne aber noch immer knielang. Von den erfahrenen Lehrern war sie vermutlich die Einzige, die nicht an seinem Posten interessiert war. Der Akademieleiter schätzte ihre Begeisterungsfähigkeit und ihre Loyalität. Mit einem knappen Wink forderte er ihr Urteil ein.

„Eure Magnifizenz, werte Kollegen. Meiner Meinung nach ist sie brillant. Die Leichtigkeit, mit der sie den Kelch erhitzt hat, war erstaunlich. Ebenso beeindruckend war die Deformation des Dolches. Ich wusste nicht, dass eine Novizin diesen Zauber ohne direkte Berührung fertig bringt. Ich empfehle die Aufnahme und die Zuerkennung eines Stipendiums.“

„Jetzt übertreib mal nicht“, stoppte Tioman ihre Begeisterung. „Ihre Vorstellung war ordentlich, aber sie muss noch viel lernen.“ Sybilla schwieg eingeschnappt, und er wandte sich an seine andere Kollegin: „Rijka?“

„Sowohl die aktive Beherrschung, als auch ihr Widerstand gegen Bezauberung sind ausgeprägt, wenn auch nicht außergewöhnlich. Angesichts ihrer Ausbildung in einer Weißen Akademie ist es bemerkenswert, dass sie überhaupt Kenntnisse auf dem Gebiet der Beeinflussung besitzt. Ihr Wissen über die Lehre der Weißen kann von Nutzen sein, daher empfehle ich die Aufnahme. Ein Stipendium lehne ich ab. Ihr Selbstbewusstsein ist schon sehr ausgeprägt, und ich will ihr nicht auch noch bestätigen, dass sie etwas Besonderes ist.“ Sie lehnte sich zurück und sah zu Fenrik.

„Ihr Wissen über die Herstellung von Tränken und Tinkturen ist hervorragend. Wenn sie bei der praktischen Anwendung nur annähernd so geschickt ist und ich ihr ein wenig zur Hand gehe, kann sie sich die Schulgebühren bei mir verdienen.“

Tioman nickte. Fenrik zog regelmäßig Novizen für die Herstellung teurer Tränke heran und speiste sie mit einem Bruchteil seines Gewinns ab. Angesichts Semiras augenscheinlicher Schönheit beließe es der egomanische Magier auch nicht beim zur Hand gehen, aber falls ihr etwas an der Ausbildung lag, ließ sie sich von solchen Widrigkeiten nicht abhalten. Je rascher ihr die romantischen Vorstellungen der Weißen in Bezug auf Ethik und Verantwortung ausgetrieben wurden, desto besser würde sie sich in die lose Gemeinschaft der Schwarzen einfügen. Hier, in Marin, hatte noch jeder gelernt, sich selbst der Nächste zu sein.

„Werte Kollegen, ich danke für Eure Einschätzungen. Semira wird im Rang einer Novizin aufgenommen. Die Prüfungsgebühr und die Einschreibegebühr von jeweils fünfzig Goldmünzen sind sofort im Rektorat zu hinterlegen. Das Schulgeld kann für längstens zwei Monde gestundet werden. Sybilla, ich möchte Dich noch sprechen.“

Der Schulleiter wartete, bis sie alleine waren. „Sybilla, ich möchte, dass Du ihr Vertrauen gewinnst. Das Mädchen kann uns mehrfach von Nutzen sein. Ich teile Deine Einschätzung bezüglich ihrer Intelligenz und Begabung. Entschuldige, dass ich Dich vorhin so rüde unterbrochen habe, aber ich wollte das vor den Anderen nicht vertiefen. Sie könnte zu einer großen Magierin reifen. Besser, wenn sie uns dann eine gewisse Loyalität entgegen bringt.“

Die Ältere nickte. In der Welt der Schwarzen Schulen, in der man nicht einmal seinen Geschwistern traute, schätzte sie seine Offenheit.

„Überdies kann sie uns Kenntnisse der weißen Methodik vermitteln. Obwohl sie noch nicht einmal das Noviziat hat, ist das die seit Langem beste Chance, an das Wissen der Weißen zu gelangen. Sieh zu, dass sie plaudert, aber dräng sie nicht. Es reicht, wenn sie Dich und mich einweiht, mach‘ ihr das bitte klar.“

Tioman zögerte, ehe er alle Karten auf den Tisch legte: „Die Kleine soll Beweise sammeln, dass Fenrik für seine Geschäfte Materialien der Schule einsetzt. Der Gute wird mir zu umtriebig, was seine Beziehungen zur Stadtregierung und zum Magistrat anbelangt. Weiters interessiert mich, ob er die Novizinnen mit Magie verführt, oder ob sie tatsächlich auf seinen abgedroschenen Charme hereinfallen. Spätestens, wenn er sie abserviert, wird sie ihn mit Freude ans Messer liefern.“

Sybilla schwieg. Ihre Miene zeigte keinerlei Regung.

Kann ich ihr vertrauen? Um wie viel mächtiger könnte die Gilde sein, wenn es gelänge die Kräfte der vielen brillanten Köpfe zu bündeln, anstatt ständig auf den eigenen Vorteil und die persönliche Sicherheit achten zu müssen?

Er verwarf die unnütze Grübelei und schob Sybilla einen Beutel hin. „Einhundert Goldstücke. Borg‘ ihr das Geld für die Einschreibung und sag ihr, es käme von Dir. Dass Du an ihr Talent glaubst und das ganze Blah-Blah. Das sollte für eine erste Vertrauensbasis genügen.“

Seine Lippen berührten routiniert ihre faltigen Wangen. Versonnen sah er ihr nach. Die schlanke Gestalt und die langen Haare, die wehende Robe, die mit ihrem elastischen Gang mitfederte, all das regte durchaus seine Phantasie an. Vielleicht sollte er die Kollegin zu einer magischen Verjüngung ihres Gesichts überreden. In seiner Vorstellung glätteten sich die Falten. Frische Haut schmiegte sich an ein Gesicht, das dennoch nie mehr als Durchschnitt wäre. An Shila Ferdons frische, jugendliche Schönheit könnte Sybilla Ternakis niemals heranreichen.

Tioman Haranet ya Chernez klingelte. Seine Dienerin erschien in der Türe und verneigte sich. „Magistra Ferdon soll mir bei der Analyse für Stadtmeister Rilling assistieren. Eile dich.“

Er griff nach einem Flakon aus Kristallglas und verteilte zwei Spritzer Parfum auf Brust und Nacken. Dann wandte er sich dem reich verzierten Wandspiegel zu und strich die ergrauenden Haare glatt. Er sah einen attraktiven Mann im besten Alter, und Shila war klug genug dies anzuerkennen. Die Analyse, ob Stadtmeister Rillings Amulett noch ausreichend geladen war um einen Giftanschlag zu verhindern, war wichtig und einträglich, konnte aber warten.

Macht an sich, war etwas Schönes, Begehrenswertes, aber ihr eigentliches Geheimnis lag darin, sie zu genießen. Im Gegensatz zu Fenrik war er sich bewusst, dass seine Attraktivität primär mit seiner Stellung zusammenhing. Er ging zu dem Diwan in der Ecke und ließ sich in die weichen Polster sinken. Seine Gedanken schwelgten bereits in den sanften Berührungen von Shilas kundigen Händen. Sie würde ihm widerspruchslos zu Willen sein und ihm dabei leidenschaftliche Begeisterung vorgaukeln. Der oberste Lehrmeister der Akademie zu Marin schätzte es, wenn jeder wusste, wo sein Platz war.

* * *

Sybilla Ternakis, Lehrmeisterin für Wandlung zu Marin

Semira war seit einem Jahr an der Akademie und hatte sich als äußerst gelehrig erwiesen. Mit den offenen und zugleich harten Spielregeln der schwarzen Schule, kam sie überraschend gut zurecht. Sybillas Finger strichen über das polierte Holz ihres Schreibtischs, während sie rekapitulierte.

Fenrik ya Turdon spannte Semira tatsächlich für seine privaten Geschäfte ein und das Mädchen erlag den Avancen des erfahrenen Charmeurs mit Haut und Haaren. Von Semira erfuhr Sybilla, wie schamlos er seine Gespielinnen ausnutzte. Im ersten halben Jahr verdiente er mit ihrer Begabung und ihrem Fleiß ein kleines Vermögen, während Semira ihn mit der ganzen Hingabe und Begeisterung einer liebenden Frau verwöhnte. Ihre Verbesserungen bei den Rezepturen gab er unverblümt als seine Ideen aus und sie nahm es hin.

Dann wurde er ihrer überdrüssig. Sybilla ballte die Fäuste, als sie daran dachte. Wenn er es einfach beendet hätte, wie die viele Beziehungen vorher. Immer ausgefallener und abartiger wurden Fenriks Wünsche, und er forderte deren Erfüllung mit Nachdruck ein. Zuletzt schien es, als wollte er sie zerstören, als gönnte er das schöne Geschöpf niemand anderem, bis sich die junge Frau unter bitteren Tränen von ihm losriss und die kranke Beziehung beendete. An jenem Abend vertraute sie sich Sybilla an und weinte sich in ihren Armen in den Schlaf. Da beschloss sie, Semira eine echte Freundin zu sein.

* * *

Der melodische Ton des magischen Chronometers erinnerte Sybilla Ternakis an ihren Termin mit Tioman. Zeit, dachte sie mit einem Seitenblick auf das Artefakt. Wir können sie messen, zählen und einteilen? Aber könnten wir auch ihren Fluss verändern? Zärtlich strich sie über den Lederrücken des Kompendiums der magischen Zweige. Hier, so hoffte sie, fände sie endlich Hinweise auf die verschollene Akademie der Zeit in Ralland.

Sybilla Ternakis rollte eine Haarsträhne durch ihre Finger, während sie das goldene Türschild zum zehnten Mal überflog. „Tioman Haranet ya Chernez, Oberster Lehrmeister“, stand da in fein ziselierten Lettern. Ungeduldig schaute sie zu der Schreiberin an dem Stehpult, aber die zuckte nur mit den Achseln.

Endlich öffnete sich die gepolsterte Doppeltüre und ein gut gekleideter Bürger stapfte missmutig an ihr vorbei. Gerbald, der Amtmann, schoss es ihr durch den Kopf. Dann winkte sie Tioman in sein Arbeitszimmer und kam gleich zur Sache. „Mir scheint, der gute Fenrik ist zu weit gegangen. Du hast Gerbald gesehen. Der Magistrat hat ein Schreiben abgefangen, welches Fenrik ya Turdon belastet und ein schlechtes Licht auf die Akademie wirft. Man hat mir zur Untersuchung der Vorgänge eine Abschrift überlassen. Hier, lies selbst.“

Er reichte ihr ein Pergament und sie überflog die Zeilen:

Werter H, wie Ihr vermutet habt, ist Stadtmeister Rillings Amulett mit einem geheimen Schlüsselwort versehen. Es lautet „Tamal“. Wird es umgekehrt ausgesprochen, also „Lamat“, hebt das die Schutzwirkung auf, und es steht Euren Plänen nicht weiter im Wege. Ich rate Euch zu einer Kombination mehrerer schnell wirkender Substanzen, da der Magistrat über eine beachtliche Vielfalt an Gegengiften verfügt. Bitte hinterlegt das Gold an der bekannten Stelle. FyT

„Ist das Fenriks Schrift?“ Sybilla machte keinerlei Hehl um ihre Skepsis. „Noch dümmer geht’s ja kaum.“

„Das ist nur eine Abschrift. Das Original wurde mit einer Zauberfeder verfasst, daher lässt sich die Handschrift nicht auswerten. Fenrik hatte jedenfalls Möglichkeiten an das Amulett zu kommen, während es zur Kontrolle hier war. Ansonsten käme nur noch Magistra Ferdon in Frage. Und ich natürlich. Und Du vielleicht. Warst Du es?“

Sybilla verzichtete auf eine Antwort und Tioman fuhr fort: „Der Empfänger H ist unbekannt. Der Brief wurde sichergestellt, aber die Botin, die ihn überbringen sollte, ist entkommen. Zuvor wurde sie in Fenriks Begleitung gesehen. Der Magistrat sieht seine Schuld als erwiesen an, kann aber nicht gegen einen Akademiemagier vorgehen. Unabhängig davon ist das Amulett jetzt wertlos, und Stadtmeister Rilling fordert Ersatz. Ich habe das zugesagt, um das Ansehen der Akademie nicht weiter zu schädigen. Es ist nur angemessen, wenn die Unkosten von Fenrik bestritten werden.“

Die Magierin zählte Eins und Eins zusammen. Tiomans Interesse an einer Aufklärung war gering. Während sie noch grübelte, ob sie selbst den Intrigen zu wenig Aufmerksamkeit widmete, sprach er weiter: „Ich werde Fenrik nicht ausliefern. Es wäre ein schlechtes Signal, wenn ich meine Lehrkräfte nicht zu schützen wüsste. Im Gegenzug fordere ich von ihm eine Entschädigung für den Schaden am Ruf der Schule ein. Seine Einkünfte sollen in der letzten Zeit gut gewesen sein. Hältst Du eintausend Goldstücke für angemessen?“

Sybilla nickte geistesabwesend. Scheint, als wäre Fenriks Rolle bei der Stadtregierung ausgespielt, überlegte sie. Und das Ansehen von Tioman Haranet ya Chernez steigt. Mit einem schiefen Lächeln zollte sie ihm Bewunderung, während sich ihr Mitleid mit dem selbstgefälligen Fenrik in Grenzen hielt.

* * *

Sybilla Ternakis blätterte in einem abgegriffenen Folianten. War ihr ein entscheidender Hinweis entgangen?

Fünfzehn Jahre ihres Lebens hatte sie der Suche nach den Formeln der Zeit und dem Standort der verschollenen Grauen Akademie gewidmet, ohne einen entscheidenden Fortschritt zu erzielen. Irgendwann waren ihre Träume verblasst und sie hatte aufgegeben, doch Semira hatte ihre Begeisterung neu entfacht. Ihr wacher Verstand gab eingefahrenen Denkmustern mit einem einzigen Wort eine andere Wendung und ersetzte gesichert scheinenden Schlüssen durch neue Interpretationen.

Semira stürmte herein. Die ungleichen Frauen begrüßten sich mit den im Norden üblichen Wangenküssen. Das Ende von Semiras Beziehung mit Fenrik hatte ihre Freundschaft noch vertieft, und Sybilla hatte es gewagt, sie mit Andeutungen über die Zeitmagie zu konfrontieren. Seit dem arbeiteten sie gemeinsam Sybillas umfangreiche Forschungsergebnisse auf und stießen dabei immer wieder auf unbekannte Fragmente und überraschende Erkenntnisse.

„Der kundige Anwender bleibt dem Flux der Zeit unterworfen, vermag ihn aber vom Flux seiner Umgebung zu trennen.“ Sybilla stutzte. „Heißt das, die Zeit läuft weiter, aber man merkt es nicht?“, fragte sie zweifelnd.

„Sieh Dir diese Deskription an“, schlug Semira vor. „Die können wir mit Deiner Passage in Relation setzen: Garind hielt den Krug so plötzlich in der Hand, als wäre er ebenda materialisiert. Juweins Überwachung bewies, dass keine Objektmagie im Spiel war. Garind sagte, er hätte sich normal bewegt, während wir seltsam erstarrt gewirkt hätten. Das Aufleuchten, das Juwein und ich gleichermaßen wahrgenommen hatten, konnte uns Garind nicht erklären. Er beharrte darauf, nichts dergleichen beobachtet zu haben. Weiter unten geht es um ein temporäres Verschwinden des Anwenders. Die Zeit scheint für Beide weiterzulaufen, aber unterschiedlich schnell.“

Die zitierten Stellen konnten nur die Ausübung temporaler Magie beschreiben. Wie zum Hohn beinhalteten sie aber weder Quellen- noch Zeitangaben, ganz zu schweigen von einer dahinter stehenden Thesis.

Die spärlichen Berichte über erfolgreiche Manipulationen der Zeit sprachen von wenigen Augenblicken. War es möglich, Monde oder gar Jahre zurückzugehen? Konnte die Kenntnis der ursprünglichen Zeitformeln gar Verjüngung und ewige Jugend bedeuten, wie es die Legenden erzählten? Sybilla wusste es nicht.

Ihr Blick glitt zum Fenster. Die Nacht war schon hereingebrochen. Wie so oft hatten sie Stunden verbracht, ohne sich der verstreichenden Zeit bewusst zu werden. Manchmal erschien ihr selbst das als Narretei einer unerkannten, aber allgegenwärtigen Zeitbeugung. Trotz des magisch verstärkten Kerzenlichts schmerzten ihre Augen. Sie bedeutete Semira die Studien zu unterbrechen.

Da flog die Türe auf und ein Laborant stürzte herein. Die Magierin hatte eine scharfe Zurechtweisung auf der Zunge, die sie sich verbiss, als sie das blasse Gesicht des Mannes bemerkte. „Ein Unfall“, stammelte er. „Im Labor. Entschuldigung.“

Sybilla wechselte einen Blick mit Semira, bevor sie den Mann anfuhr: „Reiß Dich zusammen! Was ist passiert?“

„Magister ya Turdon, Magistra, Euer Gnaden. Kommt schnell.“

Sie war schon halb zur Türe draußen, als sie der Laborant zurückrief: „Brandsalbe! Wir brauchen Brandsalbe, Herrin!“

* * *

Das Labor glich einem Trümmerfeld. Der Boden war mit Splittern aus Glas und Keramik bedeckt, zwischen denen sich verschiedenfarbige Flüssigkeiten vermengten. Winzige, gleißend grüne Explosionen blitzten aus den gelblich-grauen Schwaden. Fenrik ya Turdon lag reglos im Gang vor dem Labor. Sein Gesicht und seine Hände wiesen eine grellrote Verfärbung auf, die eine sofortige magische Versorgung erforderte. Ein Novize und eine Laborantin hockten am Boden und behandelten ihre Fußsohlen, die sie sich bei der Rettung des Magisters verätzt hatten. Als sich Sybilla zu dem verletzten Fenrik beugte, wurden sie sich der Gerüche bewusst, die an ihre Nase drangen. Weißmuth, Brandextrakt, Kalikonzentrat?

Sie schrak hoch und sah, wie die ölige Schwefellösung den geborstenen Behälter mit dem Brandextrakt erreichte. „Weg! Alle raus! Wir müssen weg hier!“, gellte ihr Warnruf durch die Gänge. Sie umfasste Fenriks Knöchel, um ihn wegzuziehen, doch ein Blitz ließ sie herumfahren.

Im grellen Licht der Explosion zerstob die Wand zum Labor in Myriaden von Trümmern. Die Zeit stand still, während Wand- und Ziegelfragmente erschreckend gemächlich auf sie zu schwebten. So erlebt man also Zeitmagie, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr Blick fixierte einen kantig gebrochenen Ziegelstein, der im nächsten Augenblick ihren Schädel zerschmettern musste.

Der Brocken zerbarst vor ihrem Gesicht. Ein kaum wahrnehmbarer Lichtschein knisterte dort auf, wo größere Trümmer auf die schützende Sphäre trafen und zerbrachen. Sybilla wurde zurückgeworfen und erkannte Semira, die in die Knie ging, während sie die Arme vorstreckte. Ihr Zauberschild widerstand der Wucht der Explosion nur einen Lidschlag lang, aber das rettete ihre Leben. Fenrik hatte weniger Glück gehabt. Die unverletzte Haut unterhalb der Knie zeigte, wie weit Semiras schützender Zauber gereicht hatte.

* * *

„Brandextrakt? Wieso in TANIS Namen Brandextrakt?“, murmelte Sybilla. Ya Turdon arbeitete an Duftelixieren, Liebestränken und Tinkturen für glattere Haut, teuren aber belanglosen Nichtigkeiten. Wieder ein mysteriöser Auftrag, von dem niemand wusste? Waren Fenriks Machenschaften noch finsterer, als sie ahnte? Davon abgesehen war er einer der erfahrensten Alchimisten, die sie gekannt hatte. Wieso sollte er einen so elementaren und zugleich dummen Fehler begehen?

Nachdenklich sah sie zu Semira. Die Novizin starrte ausdruckslos in die Bresche, welche die Explosion in den Laborflügel gerissen hatte. Im Licht der Flammen wirkte ihr Profil unwirklich, und ihr Haar leuchtete vor dem Nachthimmel wie flüssiges Gold.

Kein Wunder, dass sie Jedem zwischen fünfzehn und fünfundsechzig den Kopf verdreht, dachte sie in einem Anflug von Neid, ehe ihre Gedanken zu dem Unfall zurückkehrten. Semira? Enttäuschte Liebe war ein starkes Motiv. Sybilla schüttelte den Kopf. Während des Unfalls und die Stunden davor war sie bei ihr gewesen. Dennoch wollte ein flüchtiger Gedanke ihren Verdacht erneut auf die Novizin lenken. Törichtes Weib, schalt sie sich. Ich sollte ihr dankbar sein. Ihrer Geistesgegenwart verdanke ich mein Leben.

* * *

Die Magierin lag noch viele Stunden wach. Fenrik ya Turdon könnte die Explosion absichtlich ausgelöst haben. War er tatsächlich in die Verschwörung gegen den Stadtmeister verwickelt? Hatte er seine Auslieferung befürchtet? Wollte er Beweise zerstören? Sybilla Ternakis war froh, dass sie ihren Verdacht gegen Semira nicht vorschnell ausgesprochen hatte. Es widerstrebte ihrem Naturell, sich für logische Schlussfolgerungen zu entschuldigen. Genau genommen widerstrebte es ihr generell, sich zu entschuldigen.

Fenrik ya Turdon war tot. Sie lebte. Besser als umgekehrt. Sie rollte sich auf die andere Seite und schlief endlich ein.

* * *

Schatten und Licht

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