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Familiäre Angelegenheiten

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Jahr 10 Kaiser Polanas, Frühling


Esperanzio DaCalva

Über den Samtpolstern des Kanapees hingen Schwaden von Rauchkraut. Der Blick des dicklichen Mittvierzigers wanderte über die Einrichtung, ehe er aussprach, was gesagt werden musste. „Mein lieber DaCalva. So sehr es mich betrübt, muss ich Euch doch darauf hinweisen: Die Geburt Eurer Nichten beeinträchtigt Eure Kreditwürdigkeit. Unsere Investition in Eure Person war namentlich von der Erbregelung Eurer Familienstatuten getragen.“

Stille. Nach einem viel zu langen Augenblick trat eine hagere Gestalt aus dem Schatten eines Intarsienschrankes. Graue Augen blitzten unter einer dunkelblonden Haarmähne hervor. „Werter Don Jarago. Meine liebe Schwägerin …“, er zog das ‚liebe’ unangenehm in die Länge, „… ist schon Vierzig. Niemand konnte damit rechnen, dass mein Bruder noch Erben bekommt.“

„Das gestehe ich Euch ja zu. Unangenehm für mich, da nicht jedes Mitglied unseres Konsortiums so verständnisvoll ist wie ich.“ Der Kaufmann genoss die wachsende Unruhe seines adligen Gegenübers. „In Anbetracht unserer Vereinbarung und der Höhe Eurer Verbindlichkeit besteht Handlungsbedarf. Besser gesagt: Es ist an Euch zu handeln.“

Baronet Esperanzio DaCalva ertrug die neuerliche Stille nicht. Er begann im Zimmer auf und ab zu laufen wie ein Wolf im Käfig. Der Teppich schluckte den Klang seiner Schritte, was seine Anspannung nur noch steigerte. „Was, stellt Ihr Euch vor, soll ich denn tun?“, stieß er schließlich hervor.

„Liebster DaCalva, Ihr seid ein kluger Mann. Sonst hätten wir Euch nicht – sagen wir – gefördert. Ich denke, Ihr wisst selbst, was das Beste für Euch ist. Ihr zögert? Lasst uns rekapitulieren: Nach den Statuten Eures Hauses ist die Erbschaft für Euch – und für uns – verloren, sobald die Bälger Eures Bruders den fünfzehnten Sonnenlauf vollenden. Aber gewisse Leute sind jetzt schon beunruhigt, und glaubt mir: Das wollt Ihr nicht. Es wäre besser für Euch, wenn Euren Nichten ein Missgeschick widerfährt.“

Esperanzio ließ sich in einen Ohrensessel fallen. Hatte ihm der schmierige Pfeffersack soeben nahe gelegt, seine Nichten zu ermorden?

„Wenn ich es recht bedenke“, fuhr Don Jarago ungerührt fort, „wäre es für Euch noch sicherer, wenn die Baronin von dem gleichen Missgeschick betroffen wäre. Eine umgestoßene Kerze, eine verzweifelte Mutter, die ihre Kinder aus den Flammen retten will: Ihr könnt Euch vorstellen, wie schnell so etwas geht.“

Die Welt des Baronets begann sich zu drehen. Er sah das Gesicht seiner Schwägerin vor sich, doch ihr feines Lächeln wurde ausgelöscht von Don Jaragos Grinsen. „Geht in die grüne Kogge im Hafen und fragt nach dem Lausaner. Er hat Erfahrung mit Unfällen dieser Art.“

* * *

Karina hieß die glutäugige Schönheit, die Esperanzio zwei Jahre zuvor in das Hinterzimmer lockte. Berauscht von prickelndem Schaumwein und den Blicken der Tänzerin ließ er sich auf viel zu hohe Einsätze ein und verlor nach einer anfänglichen Glückssträhne Alles.

Als er am nächsten Tag mit brummendem Schädel erwachte, fehlte von Karina jede Spur. Stattdessen stellte sich ihm ein dicklicher Kaufmann mit rotem Gesicht und fettigem schwarzem Haar als Don Jarago vor und hielt ihm einen Schuldschein über achttausend Golddublonen unter die Nase. Anstatt gleich zu seinem älteren Bruder Horatio zu gehen, stieg er auf die riskanten Geschäfte ein, die ihm der Kaufmann als Ausweg präsentierte. Mittlerweile reichte das gesamte Familienvermögen nicht mehr aus, um seine Schulden zu tilgen.

Das Zuschlagen einer Türe riss ihn aus seinen Gedanken. Er war allein. Wer immer hinter dem gerissenen Kaufmann steckte, war nicht nur an Geld interessiert. Esperanzio hatte keine Ahnung, worum es den Hintermännern ging, aber er wollte nicht mit durchschnittener Kehle in einer dunklen Gasse enden. Jäh stand er auf und lenkte seine Schritte zum Hafen.

* * *

Vorsichtig schlich Esperanzio die Treppe hinauf. Die ölgetränkten Lappen in seiner Umhängetasche verströmten einen penetranten Geruch. Der Schatten des Lausaners glitt nach rechts. „Dort hinüber“, flüsterte Esperanzio und wies nach der anderen Seite. Der Kloß in seinem Hals wurde dicker, aber es gab kein Zurück. Mit einem Schlucken schob er die Erinnerung an die lachenden Gesichter der Zwillingsmädchen beiseite und betrat das Kinderzimmer.

Der Schurke benötigte erschreckend wenige Handgriffe für seine Vorbereitungen. Mit einer irrealen Mischung aus Abscheu und Faszination starrte Esperanzio auf die Kerze, deren Flamme sich in der Öllache spiegelte. Die aufgeschichteten Lappen würden das Feuer rasch ins Innere des Zimmers tragen und die Vorhänge der Wiegen in Brand setzen. Noch ehe man im Haus etwas bemerkte, wäre es für die Mädchen zu spät.

„Komm schon!“ Der Baronet spürte ein Ziehen an seinem Arm und riss sich vom Anblick der Flamme los. Der Lausaner zerrte ihn hinter sich her, wie einen störrischen Knaben. „Reiß dich zusammen“, zischte er. „Wir müssen hier weg.“

Esperanzio nickte. Teilnahmslos beobachtete er, wie der Schurke auf der halben Höhe der Treppe Halt machte und seine Tasche absetzte. „Was machst Du?“, fragte er, während der Lausaner die übrigen Lappen an den Stufen aufschichtete und das restliche Brandöl darüber verteilte.

„Wonach sieht’s denn aus?“, gab der zurück.

Esperanzio erbleichte. „Das war nicht abgemacht“, stammelte er. „Da kommt doch Keiner mehr raus.“

„Reg dich nicht auf. Ich mach doch hier die Drecksarbeit, damit du an das Erbe kommst.“

Mit geschickten Fingern setzte der Lausaner das Öl in Brand. Esperanzio starrte auf das bläulich züngelnde Flämmchen. Horatio, sein Bruder, würde in dem Feuer sterben. Horatio, der ihn aus dem Haus geworfen hatte. Der ihm die Unterstützung versagt hatte, als er sie gebraucht hätte. Horatio, mit dem er aufgewachsen war, mit dem er am Bach gespielt hatte. Sein großer Bruder, der ihn zum ersten Mal auf den Rücken eines Pferdes gesetzt hatte, der ihm in seiner Jugend zur Seite gestanden hatte.

„Hilfe“, rief Esperanzio viel zu leise.

Der Schurke sah erschrocken auf. „Spinnst du. Du weckst doch alle auf.“

Aufwecken. Ja, das wollte er. Rhiannon, seine Schwägerin, die nie ein böses Wort über ihn verloren hatte. Rhiannon, die Horatio überredet hatte, dass er, allen Streitigkeiten zum Trotz, seine Nichten sehen durfte. Sie sollte aufwachen, sollte sich und ihre Kinder retten. „Hilfe!“, schrie er mit aller Kraft. „Feuer!“ Er sprang vor, trat die brennenden Lumpen auseinander und trampelte nach den Flammen, die das Treppengeländer erfassten.

Etwas Hartes traf seinen Schädel. Er taumelte. Der Lausaner, schoss es ihm durch den Kopf. Natürlich sah der Schurke nicht tatenlos zu, wie er das ganze Haus zusammenbrüllte. Fluchend zog Esperanzio seinen Dolch und fuhr herum. Etwas blitzte im flackernden Schein auf und ein brennender Schmerz schoss durch seinen Arm. Sein eigener Stoß ging ins Leere.

„Feuer!“, rief er, so laut er konnte. Der Stich konnte nicht tief sein. Er spürte ihn kaum. Wieder stach der Lausaner zu. Diesmal parierte Esperanzio, aber irgendwas stimmte nicht. Seine Finger waren klamm, und der Griff der Waffe lag seltsam unvertraut in seiner Hand.

Polternde Schritte näherten sich von oben. „Was geht hier vor?!“

Horatio. ANRADA sei Dank. Auch im Erdgeschoß erklangen jetzt die Rufe der erwachenden Dienerschaft. Der Schurke, der schon fast unten war, machte kehrt. Esperanzio wollte seine Waffe heben, doch sein rechter Arm gehorchte ihm nicht mehr. Sein Dolch fiel zu Boden und schepperte die Stufen hinab, während er auf den blutgetränkten Ärmel seines Wamses starrte.

Der Lausaner stieß ihn zur Seite und hob die Rechte zum Wurf. Das Messer zischte Horatio entgegen, der am oberen Absatz der Treppe auftauchte und traf dessen Brust. Esperanzio erwischte die Jacke des Schurken mit seiner Linken, krallte sich fest. Der Lausaner schlug der Länge nach auf die brennenden Stufen. Vom Schmerz getrieben zog er vorwärts, doch Esperanzio ließ nicht locker. Für ihn war es zu spät, da machte er sich nichts vor, aber er musste Horatios Familie beschützen.

Plötzlich ragte eine Gestalt vor ihm auf. Ein Degen blitzte, stieß vor und der Lausaner zog nicht mehr. Still lag er neben Horatio, der sich ebenfalls nicht mehr regte. Esperanzio hob den Blick und erkannte Rhiannon, die mit blanker Waffe über ihm stand.

“Warum?“ Mehr kam nicht über ihre Lippen.

Er stemmte sich hoch und streckte seine Linke nach dem Kinderzimmer, doch der flackernde Schein zeigte ihm, dass es zu spät war. Einmal mehr hatte er versagt.

Vergib mir, Bruder.

JANARA, die Göttin des Todes, reichte ihm die Hand.

Vergib mir, Rhiannon.

Das Rauschen in seinen Ohren mochte von den Schwingen des schwarzen Falken rühren, der die Seelen der Sterblichen nach Hause holt, und die Berührung seiner unerbittlichen Klauen war unerwartet sanft und leicht.

* * *

Baronin Rhiannon DaCalva

Rhiannons Blick folgte dem Arm ihres sterbenden Schwagers. Binnen Bruchteilen eines Augenblicks erkannte sie die Gefahr, in der ihre Kinder schwebten. Es waren keine zehn Schritte bis zu dem brennenden Zimmer, aber selbst das war zu weit. Die Baronin hatte gerade einmal die Hälfte des Wegs geschafft, als eine Stichflamme durch den Raum pfauchte. Hitze schlug der Mutter entgegen. Sie riss die Arme schützend vor das Gesicht, holte Luft und rannte weiter, bis sich ihr jemand in den Weg stellte und ihre Arme packte. „Haltet ein! Es hat keinen Sinn!“

„Keinen Sinn?!“ Sie kämpfte gegen den Griff des Hausdieners an. „Ich muss zu ihnen!“ Martak wollte ihr etwas sagen, doch die Baronin sah nur das Feuer.

„Holt Eimer! Bildet eine Kette!“ Die Stimmen drangen wie aus weiter Ferne an ihr Ohr, während sie in mit dem halsstarrigen Diener rang. Hilflos musste sie mit ansehen, wie auch die zweite Wiege vollends in Flammen aufging. Schluchzend brach sie in Martaks Armen zusammen.

Dominus stellte eine Eimerkette zusammen und die Löscharbeiten nahmen ihren Anfang. Der Baronin war es einerlei. Binnen weniger Augenblicke hatte sie alles verloren, was ihr an diesem Haus etwas bedeutet hatte. Horatio war tot. Ihre Kinder waren tot.

„Lass mich!“, schrie sie. „Warum hast Du mich nicht zu ihnen gelassen?!“ Mit leeren Augen verfolgte sie den Kampf der Dienerschaft gegen das Feuer. Langsam gewannen die Menschen die Oberhand über das tobende Element.

Das Haus war gerettet, doch das Kinderzimmer war vollständig ausgebrannt. Ungeachtet der schwelenden Glutnester stürzte Rhiannon in den raucherfüllten Raum, doch schon der erste Blick offenbarte ihr das Ausmaß der Zerstörung. Hier konnte niemand überlebt haben. Schreiend brach sie zusammen, bis sie irgendjemand aus den Ruinen ihres Glücks führte.

Ein Gesicht schob sich vor das ihre: Sara, ihre Dienerin und Vertraute. In ihren Zügen tobte ein verzweifelter Kampf. „Verdammt, ich kann das nicht“, flüsterte sie. „Möge ERU mir verzeihen. Kommt mit.“

Rhiannon wusste nicht, worauf sie hinauswollte und es war ihr auch einerlei. Ergeben folgte sie Sara in einen wenig genutzten Seitentrakt zu einem kleinen Gemach. „Ich dürfte Euch das hier gar nicht zeigen“, flüsterte die Dienerin.

Die Baronin starrte auf den Reisekorb, in dem die beiden Mädchen schlummerten. Die Beine versagten ihr den Dienst und die Tränen bahnten sich ihren Weg, während sie in einem Chaos von Gefühlen versank.

Es dauerte eine geraume Weile, ehe sie der warnenden Stimme ihres Verstandes Gehör schenkte. Zu Vieles passte nicht zusammen. Sie straffte sich und wandte sich an die Dienerin. „Ich hoffe, Du kannst mir das hier erklären.“

Sara nickte, brachte aber kein Wort heraus.

„Ich warte.“

Die Dienerin zuckte unter ihrer schneidenden Stimme zusammen. Ihre Antwort kam kaum hörbar über ihre Lippen. „Ihr müsst die Kinder weggeben, Herrin.“

Wie kalter Stahl trafen ihre Worte in Rhiannons Herz. Sie hatte gedacht, die Mädchen wären in den Flammen umgekommen. Nun hatte sie sie wieder – und sollte sie weggeben? Was wusste Sara? „Warum?“

Die Dienerin hielt ihrem Blick nicht stand. „Sie sind hier nicht sicher, Herrin. Wir könnten auf sie aufpassen.“

Rhiannon war überrascht, wie heftig ihre Ohrfeige Saras Kopf zur Seite fegte. „Du weißt, dass wir in Gefahr sind und sagst nichts? Du siehst zu, wie mein Mann ermordet und unser Haus angezündet wird und hältst es nicht für nötig uns zu warnen?“

„Ich hab’s doch nicht gewusst“, stammelte Sara mit tränenerstickter Stimme.

Der nächste Schlag traf ihre andere Wange. „Wer bist Du? Was weißt Du? Wer in aller Götter Namen ist Wir?“, zischte Rhiannon der treulosen Dienerin entgegen.

„Das darf ich Euch nicht sagen Herrin“, schluchzte diese. „Aber glaubt mir: Ich will das Beste für Euch und die Mädchen.“

„Deshalb willst Du ihnen nach dem Vater auch die Mutter nehmen?!“ Rhiannons Stimme überschlug sich vor Zorn und Verzweiflung.

„Nein!“, schrie Sara gequält. „Das will ich nicht! Aber sie sind mächtig. Sobald sie wissen, dass die Zwillinge das Feuer überlebt haben, können wir sie nicht mehr schützen, und Ihr könnt das auch nicht.“

„Und ob ich das kann“, zischte die Baronin. „Aber das geht Dich nichts mehr an!“

Die Augen der Dienerin weiteten sich, aber Rhiannon wollte nie mehr auf ihr falsches Getue hereinfallen. „Geh mir aus den Augen! Lass Dich hier nie wieder blicken! Wenn ich Dich noch ein einziges Mal in der Nähe meiner Kinder erwische, bringe ich Dich um, das schwöre ich.“

* * *

Die Baronin wusste nicht, wie lange sie auf die Tür gestarrt hatte, durch die Sara verschwunden war. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Das Feuer war kein Zufall gewesen, doch sie hatte keine Ahnung, wer dahinter stecken mochte. Einen nach dem Anderen ging sie die Dienerschaft durch, auf der Suche nach jemandem, dem sie noch vertrauen konnte.

Sara hatte sie vertraut, aber Sara hatte ein falsches Spiel getrieben.

Ein leises Greinen holte sie aus ihrem Grübeln. „Imena, meine Süße“, flüsterte sie und hob das Kind an ihre Brust. Die vertraute Berührung half ihr, klare Gedanken zu fassen. Nachdem auch Dareia gestillt war, wusste Rhiannon, was zu tun war. Sie musste Saras Rat folgen und die Kinder in fremde Obhut geben. Die Mädchen durften nicht als Zwillinge aufwachsen und sie brauchten neue Namen, Namen, die nicht einmal sie selbst wissen durfte. Nur wenn Alle glaubten, sie wären tot, hatten sie eine Chance.

Sie musste rasch handeln, und sie durfte niemandem vertrauen. Und sie würde Sorge tragen, dass sie die Mädchen mit UNAs Hilfe wiederfände.

* * *

Schatten und Licht

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