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Gefährliche Bücher und blanker Stahl

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Jahr 23 des Kaisers Polanas, Frühsommer


Semira

Magister Gerons Unterricht nahm kein Ende. Wieder und wieder mussten die Schüler die vier großen Weißen Akademien rezitieren. Zwar kannten sie die Schulen und deren Ausbildungsschwerpunkte schon beinahe auswendig, aber eben nur beinahe.

Gerade war Fenrik an der Reihe: „Die Akademie zu Rand unterrichtet Verzauberung und Verwandlung. Unter Verzauberung verstehen wir die magische Veränderung von Lebewesen und Pflanzen. Die Verwandlung lehrt die Beeinflussung von nicht lebender Materie.“ Der Junge sah den Lehrer erwartungsvoll an, und der bedeutete ihm fortzufahren. „Die Akademie zu Bethan lehrt Kampf und Feuer.“

„Kampf und magisches Feuer“, unterbrach der Magister. Sein grauer, spitzer Kinnbart wippte herausfordernd.

Die Unterbrechung brachte Fenrik aus dem Konzept. „Kampf und magisches Feuer“, berichtigte er sich. „Die Anwendung darf nur ….“ Er stockte und sah sich unsicher um. Anjas Handbewegung sollte ihn auf die geradlinige, offene Ausübung der Kampfmagie hinweisen, half ihm aber wenig. „…. darf nur gerade erfolgen!“, platzte er heraus.

Magister Geron verdrehte theatralisch die Augen und ließ sich von den hilfesuchenden Gesten seiner Schüler nicht beirren. „Also noch einmal ganz von vorne: Die älteste und zugleich bedeutendste Schule Arans ist die Akademie zu Hesgard. Sie lehrt Verständigung, Gegen- und Antimagie, Bannzauberei und Kampf und hat damit den breitesten Lehrplan. Die Akademie zu Rand unterrichtet Verzauberung und Verwandlung. Bethan blickt auf eine lange Tradition zurück und lehrt Kampf und magisches Feuer. Deren Absolventen sind hoch spezialisiert, lassen aber einen Mangel an breit gefächertem Grundlagenwissen erkennen. Dies wird euch hier in Rand nicht passieren.“

Stolz schwang in seiner Stimme mit, und er legte eine kunstvolle Pause ein, um die Bedeutung seiner Akademie zu unterstreichen.

„Die mit knapp vierhundert Jahren noch junge Schule in Lausan hat sich die Erforschung der Grundlagen der Magie und ihres Wesens auf die Fahnen geheftet – eine Anmaßung, die nicht von jedem Weißmagier gut geheißen wird, wie ich betonen muss. Überdies unterhält sie einen Lehrstuhl für Beherrschung – ein Grenzbereich, der allzu oft Versuchungen eröffnet, den geraden Weg der weißen Magie zu verlassen. Gibt es dazu Fragen?“

Semiras Hand schoss in die Höhe. „Gibt es noch weitere Schulen?“

Der Lehrer sah sie abschätzig an, bevor er sich zu einer Antwort herab ließ: „Es gibt kleinere Schulen, oft nur von einzelnen Zauberern unterhalten. Ein typisches Beispiel ist jene von Magister Farnion in Chur. Er hält sich an den Codex Alburium der Weißen Gilde, aber mit einer fundierten Ausbildung könnt ihr dort nicht rechnen.“

„Was ist mit den anderen Gilden?“, platzte Anja heraus.

Magister Geron musterte sie unwillig. Sein Blick wanderte zum Fenster und es schien, als wollte er das Thema vermeiden. Plötzlich wandte er sich wieder den Schülern zu und in seinen Augen flackerte ein wildes Feuer. „Ihr wollt wissen, was mit den anderen Gilden ist! Das kann ich euch sagen: Die Grauen betreiben zwei unbedeutende Schulen. Ein geregelter Lehrbetrieb verträgt sich schlecht mit ihrem unsteten Wesen und der mangelnden Bereitschaft zur Disziplin. Windon beschäftigt sich mit Verständigung und Wachstum, und Rusin lehrt ‚Freie Forschung‘, was immer das heißen mag, sowie ein wenig Bann- und Schutzmagie. Nach eigener Definition verfolgt die graue Gilde einen Mittelweg zwischen ethisch korrekter Magieausübung und freier Lehre.“

Semira verfolgte, wie sich der Lehrer in Rage redete. Sobald jemand das Gespräch auf die anderen Gilden brachte, war das vorhersehbar. Sie warf einen kurzen Seitenblick zur älteren Anja, die ihr Grinsen verschwörerisch erwiderte.

„Ich würde es eher so formulieren, dass sie sich nicht dazu durchringen können – oder wollen – dem Irrweg der Schwarzen Magie gänzlich abzuschwören. Bei den Grauen geht es derart chaotisch zu, dass sie sogar eine ihrer Schulen vermissen, mitsamt der dazugehörigen Stadt.“

Triumphierend glitt der Blick des Professors über die Schüler, deren fragende Blicke ihn zu näheren Ausführungen veranlassten. „Angeblich gab es eine dritte Graue Akademie. Schenkt man den spärlichen Aufzeichnungen Glauben in einer Stadt namens Ralland. Die Schule soll sich mit der Beeinflussung der Zeit beschäftigt haben, was zeigt, wie abwegig die Gedanken der Grauen sind. Die Zeit unterliegt ehernen göttlichen Gesetzen, in deren Gefüge der Mensch weder eingreifen kann noch darf.“

Wieder beobachtete Magister Geron die Wirkung seiner Worte auf die gespannt lauschenden Schüler, und so manch einer schüttelte den Kopf über die Zustände bei den Grauen. Da heftete sich Gerons Blick auf Semira. Wieso schaut er immer mich so an?, dachte sie. Was hat er gegen mich? Sie hielt seinem Blick stand, bis er es war, der zwinkern musste.

Unwirsch wandte er sich ab und fuhr fort. „Die Schulen der Schwarzen Gilde, falls dieser zerstrittene und nach eigenem Vorteil strebende Haufen überhaupt so genannt werden darf, wurden nach heftigen Auseinandersetzungen aus dem Kaiserreich verbannt. Zuflucht fanden die Verbrecher in den dekadenten Sklavenstädten des Nordens, wo sie heute die Reichen und Mächtigen stützen. Ihre Motive reichen von der Steigerung persönlicher Macht bis zur Gier nach Reichtum. Leider konnte sich die Obrigkeit nicht zu einem vollständigen Verbot durchringen, weshalb sich Schwarze Magier noch heute ungestraft im Reich bewegen dürfen. Angehörige der Weißen Gilde sind deshalb immer wieder Provokationen ausgesetzt. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass im Umgang mit solchen Subjekten äußerste Vorsicht geboten ist.“

Wann atmet er eigentlich, fragte sich Semira, während Magister Geron in seiner Predigt gegen die dunkle Magie aufging.

„Trotz ihrer Skrupellosigkeit – oder vielmehr gerade deswegen – sind die Schwarzen einem aufrechten und selbstsicheren Weißmagier nicht gewachsen, sofern er die Kraft der Götter hinter sich weiß und aus innerer Überzeugung für das Gute eintritt. Das jüngste Beispiel dieser intellektuellen Überlegenheit lieferte Magister Fion Enartion, als er beim magischen Duell seinen Gegenspieler nicht nur klar besiegte, sondern regelrecht deklassierte.“

Ein Raunen ging durch die Klasse. Viele hatten von den legendären magischen Duellen schon gehört, aber kaum einer wusste Näheres. Das Thema war jedenfalls aufregender, als nochmals die Akademien durchzukauen.

„Das magische Duell ist eine Tradition, die seit achthundert Jahren überliefert ist. Anlass – und zugleich der Preis, den es immer wieder aufs Neue zu erringen gilt – ist der Kelch der Aldare. Magistra Aldare Steinhauer war eine hochbegabte Alchimistin. Als ihr Ende nahte, wollte sie ihr Wissen über die Herstellung segensreicher Tränke in einem einzigartigen Artefakt bewahren. Die Bindung solch komplexer Magie in einem Gegenstand ist wahrlich herausfordernd. Vor allem die anhaltende Wirkung mehrerer, ineinander verschränkter Zauber ist Spezialisten vorbehalten, und so wandte sich Aldare an Rastuch, einen Artefaktenmagier von außergewöhnlichem Ruf. Er sollte sie bei der Verwirklichung ihres göttergefälligen Vorhabens unterstützen, aber nachdem das Werk vollendet war, erkannte Aldare, dass sie betrogen worden war. Rastuch erwies sich als Angehöriger der Schwarzen Gilde und erhob Anspruch auf das Artefakt. In Büchern von zweifelhaftem Inhalt und noch zweifelhafterer Herkunft wird es daher auch als Kelch des Rastuch bezeichnet.“

Magister Geron schöpfte Atem. „Aldare bezwang ihren Gegner in einem ehrlichen Zweikampf. Der hinterhältige Schwarzmagier hatte jedoch eine gemeine Falle ausgelegt, der die aufrechte Alchimistin nichts entgegensetzen konnte. So fand sie, obzwar siegreich, den Tod. In der Folge wäre beinahe ein Gildenkrieg ausgebrochen. Letztlich waren es die Grauen, die mit dem magischen Duell einen anerkannten Modus für die Weitergabe des Kelches schufen.“

Eigentlich wäre der Unterricht schon zu Ende gewesen, aber Keiner dachte daran zu unterbrechen. Fasziniert beobachtete Semira die Veränderung in Gerons Auftreten. Seine Gestalt hatte sich gestrafft und in seinen Augen leuchtete ein begeistertes Funkeln, das ihr noch nie zuvor aufgefallen war.

„Das Duell wird von der grauen Gilde ausgerichtet und überwacht und findet in Abständen von sieben, neun, elf oder dreizehn Jahren statt. Der Rhythmus folgt einer komplexen Berechnung aus Mondlauf und Sternkonstellationen. Ausgetragen wird der Kampf in der Arena von Kral, zwei Tagesreisen westlich von Rusin, inmitten der Fenn-Berge. Das Halbrund fasst tausend Zuseher, unter denen sich die bedeutendsten Vertreter der magischen Zunft finden. Kraftvolle Schutzschirme verhindern eine Beeinflussung von außen und wohl auch, dass die fortwährenden Provokationen der Schwarzen unter den rivalisierenden Zusehern ein Blutbad auslösen.

Die Repräsentanten der Weißen und der Schwarzen kämpfen meist bis zum Tod, und der Sieger gewinnt das Recht Aldares Kelch zu nutzen – im Namen seiner Gilde und zu seinem Ruhm. Sein Name wird in die Gedenktafel der Arena gemeißelt. Siegreiche Weißmagier werden überdies für die Ehrengalerie in Hesgard portraitiert.“

Die Schüler schwiegen. Anja wollte den Magister noch zu einer detaillierten Schilderung des Kampfes überreden, doch Geron winkte ab: „Zeit zum Essen, sonst bekommt ihr nichts mehr.“

* * *

Das Nachtmahl war einfach und, wie so oft, zu spärlich, um den Hunger der Heranwachsenden vollständig zu stillen. Gelangweilt hörte Semira den wilden, aber haltlosen Spekulationen über Magister Enartions Sieg zu. Ihre eigenen Gedanken drehten sich um einen anderen, faszinierenderen Begriff: Zeit.

Ralland hieß die Stadt, in der die Grauen ihre Forschungen betrieben hatten. Sie prägte sich den Namen ein, während ihr scharfer Verstand bereits Kombinationen bekannter Zauber mit zeitbeeinflussenden Komponenten analysierte. Sie verstand nicht, warum man an die Magie so einfallslos heranging. Wiederholt hatte sie den einen oder anderen Lehrer auf neue Verknüpfungen bekannter Sprüche angesprochen, doch ihre Ansätze wurden ignoriert, oder mündeten, wie bei Magister Geron, in langwierigen Vorträgen über Methoden und die Position der Weißen Gilde als Wächter kontrollierter Magieausübung.

Semiras Gedanken wanderten zu ihrem Versteck am Dachboden. Dort lagen drei Bücher, die sie vor einem knappen Jahr aus der Bibliothek entwendet hatte. Der Leichtsinn eines Gehilfen war ihr dabei zu Gute gekommen, und so wurden die als bedenklich klassifizierten Bände nicht vermisst, weil sie als vernichtet galten.

Seitdem verbrachte sie viele Nächte mit dem Studium dieser Werke und gewann Einsichten in das Wesen der Magie, die ihr im Unterricht vorenthalten wurden. Ihre Erkenntnisse verdankte sie einer einzigartigen Kombination aus Intuition, logischem Denken und unstillbarer Neugier. Dass andere Magier bei ihren komplexen Überlegungen rasch an ihre Grenzen stießen, kam ihr nicht einmal in den Sinn.

Vorsichtig horchte Semira auf die Atemzüge der Zimmergenossinnen, bevor sie aus dem Raum schlich. Rasch war sie an der Treppe und huschte in das oberste Stockwerk, wo eine Leiter auf den Dachboden führte. Sie atmete erleichtert auf, als sie die Luke hinter sich schloss.

Mal sehen, ob ich im ‚Kompendium der magischen Schulen‘ einen Hinweis auf Ralland finde, dachte sie, während sie zu ihrem Versteck eilte. Sie bog um die letzte Ecke und erstarrte. Unmittelbar vor ihrer geheimen Kammer kauerten zwei Gestalten und sahen ihr im Schein eines schwachen Zauberlichtes entgeistert entgegen.

Kein Lehrer, schoss es Semira durch den Kopf. Aber was machen die hier? Sie unterdrückte den Reflex zur Flucht.

Jetzt erst kam Bewegung in die Beiden. Einer zog sich die Kapuze seines Umhangs über den Kopf, während die Andere versuchte, ein Buch zu verbergen, in dem sie gerade gelesen hatten. „Was machst du hier? Verzieh dich!“, blaffte der mit der Kapuze. Semira erkannte Bertan, doch Ardana, die Novizin, reagierte besonnener. „Nein, warte!“

Semira zögerte und Bertan schaute verdutzt. „Sie ist ein intelligentes Mädchen und mindestens so neugierig wie wir“, fuhr Ardana fort. „Vielleicht kann sie uns weiterhelfen.“

Semira mochte Ardana nicht sonderlich, war andererseits aber fasziniert von dem überlegenen, arroganten Auftreten, das sie gegenüber ihren Mitschülern an den Tag legte. Überdies musste sie herausfinden, was die Beiden hier, vor ihrem Unterschlupf, trieben. „Wobei helfen?“, erkundigte sie sich.

„Kein Wort darüber, zu niemandem“, zischte Ardana.

Als Semira nickte, zog die Novizin das Buch unter ihrem Umhang hervor und schlug es auf. Keins von meinen, dachte Semira erleichtert, als sie einen Blick auf den Einband erhaschte.

„Wir hängen da mit einem Zauber und kommen nicht weiter“, flüsterte Ardana, während sie nach der richtigen Seite suchte. Semira beugte sich zu ihr, doch Bertan schien sich unwohl zu fühlen und trat von einem Fuß auf den anderen.

„Es geht darum, den Willen eines anderen zu beeinflussen, aber da steht ‚ohne zwingende Wirkung‘. Wie soll das gehen?“ Ardana strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und sah Semira forschend an. Die überflog die kunstvoll geschriebene Doppelseite und fand rasch einen Hinweis.

„Der Beeinflusste glaubt, es sei seine eigene Idee und handelt entsprechend. Hier wird das näher erläutert. Einerseits ist er sich dadurch der Wirkung des fremden Willens nicht bewusst, selbst nach dem Abklingen des Zaubers. Andererseits kann ein äußerer Einfluss den Bezauberten von ‚seiner‘ Idee auch wieder abbringen. Daher die Einordnung als ‚nicht zwingend‘. Klar?“

Ardana nickte zögernd. Sie versuchte den Ausführungen der Jüngeren zu folgen, aber Bertan war gar nicht mehr bei der Sache. Immer wieder sah er sich nervös um. „Habt ihr auch was gehört?“, flüsterte er aufgeregt, aber die Mädchen waren schon wieder in das Buch vertieft.

Semira war in ihrem Element. Gierig sog sie die Ausführungen zu dem subtilen Beeinflussungszauber auf, fasziniert von den Möglichkeiten, die sich daraus eröffneten. Auch Ardana fand sich langsam in die ungewohnte Natur des Zaubers ein, obwohl sie immer wieder Semiras Hilfe beanspruchte. Erst das plötzliche Aufflammen eines Zauberstabes riss sie aus Ihrer Lektüre.

„So, so“, hörten sie Magister Likandros‘ Stimme. „Wen haben wir denn da? Solltet ihr nicht in euren Betten sein?“ Der Lehrmeister musterte ihre Gesichter. Als Ardana aufsprang, polterte das Buch zu Boden. Semira vermied es, dem Blick des Magisters zu begegnen. Bertan stand wie angewurzelt und verlor die Farbe aus dem Gesicht.

„Ab in die Betten, bevor euch noch jemand sieht“, befahl Magister Likandros, ehe er einen Blick auf das Buch warf. „Moment noch“, seufzte er. „Tut mir leid, aber das muss ich melden.“

* * *

Magistra Elida Varna Sternseherin, Rektorin der weißen Akademie der Wandlung zu Rand

„Wir dürfen dieses Verhalten keinesfalls tolerieren.“ Elida Varna Sternseherin durchlief den imaginären Kreis in ihrem Arbeitszimmer nun schon einige Dutzend Mal. „Die ‚Variationen der Herrschaft‘ sind keine Bagatelle. Wo in Bragas Namen haben die Kinder dieses Machwerk her?“

Erwartungsvoll sah sie Likandros an. Der zuckte lustlos mit den Achseln, entschloss sich aber doch zu einer Antwort: „Diese Ardana ist ein arrogantes Balg. Ihre Eltern sind reich. Sie ist nicht dumm, aber ich bezweifle, dass ihr Intellekt den Anforderungen des Buches gewachsen ist. Semira würde ich die Sache am ehesten zutrauen. Sie ist wissbegierig und intelligent, aber daraus lässt sich noch keine Schuld ableiten. Bertan war noch nie der Hellste. Er ist bestenfalls ein Mitläufer.“

Die Rektorin ging ihre Möglichkeiten durch. In diesem Fall musste sie Härte zeigen, obwohl ihr das widerstrebte. Geron, der in ihrem Umgang mit den Zöglingen stets ein Zeichen von Schwäche sah, saß ihr im Nacken, und bei einem Teil des Lehrkörpers fiel seine Kritik auf fruchtbaren Boden. Darüber hinaus hatte sie eine Freundin in Hesgard von einem Schreiben in Kenntnis gesetzt, das der missgünstige Lehrer an den obersten Rat der Weißen Gilde verfasst hatte.

Varna hatte die Stelle als Schulleiterin mit großen Plänen und Hoffnungen angetreten, doch ihre Vorstellungen von einem vertrauensvollen Miteinander erwiesen sich als schwerer umsetzbar als gedacht und wurden von einigen Lehrkräften schlichtweg ignoriert. Anstelle der Forschungsprojekte, die sie mit interessierten Professoren und begabten Novizen in Angriff nehmen wollte, schlug sie sich durch Niederungen der Verwaltung und fruchtlose Diskussionen mit der Kollegenschaft. Hinzu kam die angespannte Lage der Schule. Sie war auf Spenden von Gönnern und Absolventen angewiesen, und Ardanas Eltern waren da besonders großzügig, was den aktuellen Vorfall noch heikler machte. Likandros zählte zu ihren engeren Vertrauten, aber der Gedanke, jemanden auf Grund finanzieller Erwägungen zu schonen, brächte ihn in Rage. Noch vor wenigen Jahren hätte sie genauso reagiert.

* * *

Varna machte alles richtig. Ihre Entscheidung, Geron als Leiter des Disziplinargerichts einzusetzen und selbst nur als Beisitzerin zu fungieren, bereitete allen Gerüchten über ein zu weiches Vorgehen ein Ende und brachte ihr selbst bei ihren Kritikern Sympathien ein. Geron führte die Verhandlungen gegen die beiden Novizen und die Schülerin nacheinander. Er wollte Semira als Drahtzieherin zur Rechenschaft ziehen. Fasziniert verfolgte die Schulleiterin, wie sich die Schülerin seinen Fallen und Fangfragen lange Zeit entzog, ehe sie seiner Hartnäckigkeit unterlag.

Bertan präsentierte sich hingegen als williges Opfer. Ritterlich – oder dumm – stellte er sich vor die Mädchen. Es war leicht, ihn zu verurteilen.

Geron hatte Varnas Hinweis bezüglich Ardanas Eltern verstanden und ging bereitwillig auf die Ausflüchte der Novizin ein. So spielte sie ihre Rolle bei dem Vorfall herunter, obwohl ihre Aussage etliche Ungereimtheiten enthielt. Die Herkunft des Buches blieb auf Grund der einseitigen Verhandlungsführung unklar, aber das konnte man bestenfalls Geron zur Last legen. Gemäß dem Protokoll des Bibliothekars gehörte das schwarzmagische Werk nicht zu den Beständen der Akademie, und der schwerwiegende Anklagepunkt des Diebstahls wurde fallen gelassen. Auch hier ging Varnas Rechnung auf. Geron verhängte jeweils zehn Stockschlägen mit öffentlicher Vollstreckung über Semira und Bertan. Das gehörte zwar zu jenen drakonischen Strafen, die sie verabscheute, aber angesichts der verfahrenen Ausgangssituation war das akzeptabel.

Das Ergebnis stellte die meisten Kollegen zufrieden und Elida Varna Sternsingers Ansehen stieg sichtlich. Als sie den Beratungssaal erhobenen Hauptes verließ, fiel ihr Blick auf die Inschrift über der breiten, zweiflügeligen Türe. „Wahrheit und Gerechtigkeit“ stand da in kunstvollen goldenen Lettern auf dem Bogen des Marmorportals. Obwohl sie sich sicher war, dass sie alles richtig gemacht hatte, fühlte es sich nicht so an.

* * *

Varna mochte die frühe Morgenstunde, aber dieser anbrechende Tag hatte einen fahlen Beigeschmack. Die Kollegenschaft war ebenso vollständig angetreten wie die Novizen und Schüler. Selbst die Bediensteten hatten sich eingefunden, um der Vollstreckung beizuwohnen. Mit entblößten Rücken lagen Bertan und Semira, bäuchlings auf dicke Balken gebunden, im Zentrum des Vierecks und harrten ihrer Bestrafung. Die Rektorin wandte sich dem Verwalter zu. Ferdon war ein kräftiger, untersetzter Mann, aber er würde nicht stärker als notwendig zuschlagen. Dennoch waren zehn Stockhiebe eine schmerzhafte und brutale Angelegenheit. Die Magistra gab schweren Herzens das Zeichen, obwohl sie sich sorgte, wie die Beiden die Strafe überstehen würden.

Der Novize gab sich sichtlich Mühe den Schlägen zu trotzen, aber nach dem vierten Streich war sein Widerstand gebrochen und seine Schreie schnitten schrill durch die kühle Morgenluft. Fröstelnd zog die Rektorin ihren Umhang enger. Sie riss ihren Blick von dem Unglücklichen los und ließ ihn über die Schüler und Novizen schweifen. Zumindest die Abschreckung funktioniert, dachte sie, als sie in die blassen, erstarrten Gesichter sah.

Die Schreie verstummten, und Stille legte sich über den Hof. Likandros brachte Bertan in die Krankenstation. Niemand wollte bleibende Narben und sie hatte entsprechende Vorkehrungen getroffen. Varna schaute zu Semira. Sie hätte Anzeichen von Angst erwartet, doch das Gesicht der Schülerin wirkte starr, ausdruckslos, ja fast trotzig.

Wieder musste sie das Zeichen geben, obwohl sie die Bestrafung am liebsten abgebrochen hätte. Geron hingegen verfolgte das Geschehen mit einer abstoßenden Aufmerksamkeit. Irgendwann würde sie sich seiner Ablehnung stellen müssen. Das Klatschen der Hiebe zog ihren Blick wieder auf Semira. Mit abgewandtem Antlitz ertrug sie die Schläge ohne einen Laut. Varna hoffte, sie wäre ohnmächtig.

Als der Verwalter den Stock beiseite legte, hielt es sie nicht länger an ihrem Platz. Sie eilte zu dem Mädchen, beugte sich hinunter und sah in ein tränenüberströmtes Gesicht. Dann schlug die Schülerin die Augen auf, und eine Welle blanken Zornes schlug der Schulleiterin entgegen. „Wo … ist … Ardana?“, presste Semira hervor, ehe sie die Besinnung verlor.

* * *

Nachdenklich nippte Varna an dem kochend heißen Tee. Ihr gegenüber saß Rowina Schmied, ihre jüngste Professorin. In den vergangenen drei Jahren war sie ihr, ungeachtet des Altersunterschiedes, eine gute Freundin geworden.

„Ich möchte, dass die Kleine meine Vorgangsweise versteht. Du hast einen guten Zugang zu ihr. Kannst Du ihr begreiflich machen, warum ich Ardana aus der Sache heraushalten musste?“

Die Jüngere schwieg, bis die Rektorin fortfuhr: „Das Mädchen ist wahrscheinlich die Begabteste von allen. Ich will sie nicht verlieren.“

„Ich versuche es“, ging Rowina endlich auf ihr Anliegen ein. „Aber sie ist keine ‚Kleine‘ mehr, das solltest Du keinesfalls vergessen.“

„Danke. Finde heraus, ob sie verstanden hat, was passiert ist. Ob ihr bewusst ist, dass sie die Strafe verdient hat. Ich bin auf ihrer Seite, soweit das meine Stellung zulässt.“

Rowina verließ das Büro und die Schulleiterin blieb mit ihren Gedanken zurück. Ihr Verstand beharrte darauf, dass alles in Ordnung war, aber das Gefühl versagt zu haben, wollte nicht weichen. Der Tee wurde kalt und schal, ehe sie sich den Papieren und Pergamenten auf dem großen Schreibtisch zuwandte.

* * *

Rowina meldete sich noch am selben Abend und Varna empfing sie sofort. „Erzähl“, drängte sie ungeduldig. „Hat sie es verstanden?“

Die junge Kollegin sah zu Boden. „Ich fürchte, sie hat mehr verstanden, als uns lieb sein kann.“

„Wie meinst Du das?“ Die Resignation in Rowinas Stimme alarmierte die Rektorin.

Magistra Schmied zögerte, ehe sie antwortete. „Sie wollte nur wissen, wie sie schnell zu Macht und Geld kommt.“

* * *

Reuben, Söldner, Abenteurer, Herumtreiber und Charmeur

Die Nachmittagssonne fiel auf die Terrasse des Kupferkrugs. Reuben streckte die Beine von sich und gähnte herzhaft. Sein Rüschenhemd stand offen, damit die wärmenden Strahlen seine Brust erreichten. Sein Waffengurt mit Degen und Langdolch lag griffbereit zu seiner Rechten, doch das war mehr Gewohnheit als konkrete Vorsicht. Der Söldner war mit sich und der Welt zufrieden. Zwar hatte er die Mitte dreißig schon überschritten und sich etliche Narben eingehandelt, aber noch keine ernsthafte Verletzung davongetragen. Mit den Jungen, die sich oft ohne Ausbildung in das Söldnerleben stürzten, konnte er allemal mithalten.

Sein Blick streifte Serenas dunkelblonden Lockenkopf. Die deutlich jüngere Frau hatte es sich am Boden gemütlich gemacht, und ihre langen Beine schimmerten goldbraun im Sonnenlicht. Reuben schluckte, als er an die Nächte dachte, die sie auf der letzten Fahrt miteinander verbracht hatten. Wie gesagt: Mit den jungen Abenteurern konnte er allemal mithalten.

Etliche Wochen zuvor lernte er Serena kennen, in Sirnan, dem Handelsknoten am Rand der großen Wüste, als sie zufällig beim selben Handelszug anheuerten. Bertan Firnian, ein Fernhändler aus Bethan, übernahm von den Zwergen eine Ladung an Färbemitteln und Gewürzen und verpflichtete ein gutes Dutzend Söldner und einen fahrenden Magier als Eskorte. Mit der hübschen Söldnerin freundete sich Reuben rasch an, doch eine andere Gruppe fiel ihm unangenehm auf. Auf Grund seiner Aufmerksamkeit konnten die Vier als eingeschleuste Schurken entlarvt werden. Der Magier presste Ort und Zeit des geplanten Überfalls aus ihnen heraus und so entging der Handelszug der Vernichtung.

Danach genoss Reuben Firnians Vertrauen ebenso, wie Serenas ungeteilte Bewunderung. Seine Prämie fiel großzügig aus, und der Händler bot ihnen eine fixe Stellung in seinem Handelshaus an. Bethan hatte ihm schon immer gefallen, und so ergriff er die Gelegenheit beim Schopf.

* * *

„Zeit für ein bisschen Training, sonst wirst Du fett.“ Serenas wache Augen blitzten herausfordernd. Reuben gähnte herzhaft und strich sich den Schnurrbart. „Hier?“

„Warum nicht? Komm hoch, altes Haus.“

Der Söldner ächzte lautstark und kam übertrieben langsam auf die Beine. „Na schön, dann werde ich Dir also eine Lektion erteilen.“

Die Frau lachte leise, griff nach ihren Waffen und stieg die wenigen Stufen zu dem Sandplatz vor dem Kupferkrug hinunter. Reuben folgte ihr und ging nach ein paar Dehnungsübungen in die Grundstellung. Beiläufig registrierte er die ersten Zuseher. Es schadete weder seinem Ruf als Söldner, noch seinem neuen Dienstherren, wenn sich seine Fähigkeiten herumsprachen.

Sein Schwung mit dem Degen war Einladung und Herausforderung zugleich, und Serena ließ sich nicht lange bitten. Sie eröffnete den Tanz mit einer schnellen Angriffskombination und zwang ihn in die Defensive. Sie war talentiert und hatte seine Anregungen und Tricks rasch in ihr Repertoire integriert, und so musste er seine ganze Konzentration aufbieten, um eine Schlagfolge abzuwehren, die er selbst ihr beigebracht hatte. So nicht, dachte er. Noch kennst Du nicht alle meine Winkelzüge. Breit grinsend ging er zum Gegenangriff über und trieb sie ans andere Ende des Kampfplatzes zurück.

* * *

Zwei Zehntelstunden später ließen sie sich verschwitzt und zufrieden zu Boden fallen. „Du wirst langsam, alter Mann“, keuchte sie, doch ihre abgehackten Atemzüge straften ihre Worte Lügen.

„Bisher hatte ich immer den Eindruck, dass Du mit meinem Degen zufrieden bist“, gab er keck zurück und musterte sie anzüglich. Die Seidenbluse lag eng an ihrem verschwitzten Körper und konnte ihre Erregung nicht länger verbergen. Der kurze Rock aus hellem Rauleder tat ein Übriges und zog seinen Blick auf ihre langen, schlanken Beine.

„Ich denke, wir sollten uns auf eine kleine Nachbesprechung zurückziehen. Dann kann ich Dir die Schwächen in Deiner Verteidigung erläutern“, fuhr er fort, während er noch nach Atem rang.

„Vergiss es, Lustmolch“, gab sie schnippisch zurück, schürzte dabei aber verführerisch die Lippen.

Reuben erhob sich. Er spürte jeden einzelnen Muskel. Ich sollte wirklich mehr trainieren, grübelte er. Für ein paar dahergelaufene Landstreicher reicht es, aber wenn einer wirklich gut ist, braucht er nur warten, bis ich müde werde, ehe er mich in Streifen schneidet.

Die Zuseher verzogen sich oder widmeten sich wieder ihrem Bier. Nur ein schwarzhaariges Mädchen starrte unverwandt herüber. Sie mochte dreizehn Jahre zählen. Der Bursche neben ihr war etwas älter und wollte sie beiseite ziehen, aber sie wehrte ab. Da der klare Blick ihrer hellgrauen Augen Reuben faszinierte, winkte er sie heran. Zögernd kam sie näher, während sich ihr Begleiter resignierend fügte.

„Reuben mein Name, zu Euren Diensten. Was kann ich für Euch tun, werte Dame?“, eröffnete der Söldner unter Andeutung einer Verbeugung. „Benötigt Ihr Schutz auf einer Reise, oder soll ich Euch nach Hause geleiten?“

Ein verlegenes Lächeln huschte über das Gesicht des Mädchens. Sie errötete. „Ich wollte fragen … ich wollte Euch bitten …“

„Nur zu“, ermutigte er sie.

„… ob ich mir Eure Waffen ansehen darf“, platzte sie heraus.

Reuben stutzte. Er musterte sie argwöhnisch, konnte aber kein Falsch erkennen. Schließlich hielt er ihr die Dolchscheide entgegen. Serenas Hand lag am Degen, während sie jede Bewegung der Schwarzhaarigen verfolgte. Braves Mädchen, dachte er. Sollte die Kleine einen bösen Trick versuchen, müsste er nur einmal ausweichen, ehe Serena eingriff.

„Willst Du auch Söldnerin werden?“

„Ja. Nein. Vermutlich nicht“, gab das Mädchen unentschlossen zurück. Ihre Finger glitten andächtig über den kunstvoll verzierten Knauf. Dann umschloss sie das abgewetzte Griffleder des Hefts, zögerte aber noch. „Darf ich?“

Erst als Reuben aufmunternd nickte, zog sie die schmale, gut ellenlange Klinge aus der schützenden Hülle. Das rötliche Licht der Abendsonne funkelte an der Schneide. Die enge Schichtung des gefältelten Stahls zeigte ein ebenmäßiges, muschelförmiges Muster verschiedener Grautöne und verriet dem Kenner den kundigen Schmied. Der Söldner war stolz auf seine Waffen. So etwas konnte sich nicht jeder Mietling leisten. Er trat neben das Mädchen, fasste nach ihrem Handgelenk und korrigierte ihren Griff. „So ist die Waffe beweglicher und entgleitet Dir nicht so leicht.“

„Ich bin Serena“, erklang es hinter ihm. „Ich würd‘ mich wirklich gerne hinsetzen, wenn’s Euch recht ist. Scheinst ein Faible für lange, spitze Dinger zu haben. Da bist Du bei uns in bester Gesellschaft. Kannst Dich gerne eine Weile zu uns hocken.“

* * *

Wenige Wochen nach dieser Begegnung waren Reuben und Serena Stammgäste im Kupferkrug. Am Nachmittag der Erdtage hatte Sylva frei, und Reuben hatte Spaß daran, die „Kinder“, wie er die jugendliche Novizin und den heranwachsenden Torin bezeichnete, in den grundlegenden Schwerttechniken zu unterweisen. Der Schuppen bot ausreichend Platz für Fechtübungen und schützte die Anfänger vor neugierigen Blicken und bösen Kommentaren. Die nötige Kritik steuerte Serena bei, die rasch ein Gefühl dafür entwickelte, welche Menge an Spott und spitzen Bemerkungen die Schützlinge vertrugen.

Torins Vater stellte ihnen den Raum gerne zur Verfügung. Nachdem er den Entschluss seines Sohnes der Stadtgarde beizutreten akzeptiert hatte, war es ihm wichtig, dass er das Handwerk von Grund auf lernte. Im Gegenzug versorgte er die Söldner freizügig mit Essen und Getränken, da er wusste, was Fechtstunden kosteten.

Reuben war es recht. In die neue Anstellung hatten sie sich gut eingearbeitet, der Händler war mit ihnen zufrieden, und der Kupferkrug entwickelte sich zu einem zweiten Zuhause. Wie es aussah, könnte aus der Sache mit Serena sogar etwas Dauerhaftes werden. Anfänglich umgarnte die Söldnerin Torin, um Reuben zu ärgern, verlor aber rasch den Spaß daran, da er nur Augen für Sylva hatte. Gleichzeitig bot der Junge seine ganze Selbstbeherrschung auf, um sich seine Schwärmerei nicht anmerken zu lassen.

Heute freute sich Reuben auf das Ende der Übungsstunde. Vor drei Tagen hatte Serena am Markt zwei gebrauchte Dolche entdeckt. Sie hatten die Waffen um einen guten Preis erstanden und die Klingen mit einigen Stunden Arbeit wieder in einen tadellosen Zustand gebracht.

Der Söldner konzentrierte sich auf Torin, der mit Serena eine neue Parade einübte. „So geht das nicht“, rief er dazwischen. „Ohne Balance schaffst Du die Drehung niemals schnell genug.“

„Ihr habt doch selbst gesagt, dass das Übungsholz nicht ausgewogen ist“, verteidigte sich der Junge.

In diesem Moment trat Serena gegen seinen Oberschenkel und schickte ihn auf die Bretter. „Nicht ablenken lassen“, erläuterte sie mit erhobenem Zeigefinger. Halbherzig unterdrückte sie ihr Grinsen, während sich Torin aufrappelte.

„Wollen wir?“, schlug sie vor, als Sylva und Torin müde wurden. Reuben nickte und zog zwei Stoffbündel hervor. „Los, auspacken!“, befahl Serena.

Die Beiden öffneten die Knoten und entdeckten die Waffen. Der Junge zog die Klinge behutsam aus der einfachen Lederscheide, während Sylva fragend zu den Söldnern schaute. „Zum Üben?“, wollte sie wissen.

„Eigentlich sollt ihr sie behalten“, antwortete Reuben. „Aber nachdem sie jetzt euch gehören, dürft ihr natürlich auch damit üben.“

Sylva erfasste den Sinn seiner Worte zuerst. „Danke“, jauchzte sie und fiel ihm um den Hals. Torin konnte den Blick nicht von seinem neuen Besitz abwenden. Er suchte nach Worten und bedankte sich schließlich ebenfalls.

„Schon gut“, wehrte der Söldner lachend ab, doch seine Augen blitzten vor Freude.

Serena trat hinter ihn und legte die Hand auf seine Schulter. „Ich denke, das hast Du gut hingekriegt, Großer.“

Er legte den Arm um ihre Taille, zog sie an sich und küsste sie zärtlich. „Wir haben das gut hingekriegt“, korrigierte er und küsste sie noch einmal.

Bald darauf saß er mit Serena in der Gaststube und ließ sich einen gebratenen Schweinerücken schmecken. Sylva war auf dem Weg zur Akademie und Torin begleitete sie. Reuben war zufrieden. Er war Mitte dreißig, verfügte über ansehnliche Ersparnisse, eine respektable Anstellung und, recht bedacht, war es verdammt nochmal Zeit herauszufinden, was Serena von Kindern hielt.

* * *

Sylva

Noch in derselben Nacht bastelte Sylva aus Lederresten und Schnüren einen provisorischen Gürtel. Die Arbeit gelang mehr schlecht als recht, aber schließlich konnte sie den Dolch an der Hüfte tragen. Der blonden Satina, mit der sie seit zwei Jahren die Kammer teilte, gefiel die Waffe, aber sie weigerte sich, sie zu berühren. Obwohl Sylva auf die Reaktion der Anderen neugierig war, verzichtete sie darauf, den Dolch in den Lehrsaal mitzunehmen.

Endlich stand Kampfunterricht am Programm, und das war die perfekte Gelegenheit, ihre neue Waffe zu zeigen. Sie ignorierte das Drücken und Scheuern der schlecht sitzenden Riemen und marschierte stolz zum Kampfplatz.

Der Trainingsplatz für Stockfechten und unbewaffneten Kampf lag im hinteren Hof der Akademie. Er umfasste sechs Übungskreise mit einem Durchmesser von jeweils sieben Schritten. Dahinter erstreckte sich ein sorgfältig angelegter Garten, in dem sie Kämpfe im widrigen Gelände, von Schlingpflanzen über eng stehende Jungbäume bis hin zu einer hochstehenden Wiese, übten. Daran anschließend lag das Areal, auf dem die zerstörerischen Feuerzauber unterrichtet wurden, welche die Grundlagen für das Arsenal bethanischer Kampfzauberer darstellten. Lebensgroße, verkohlte Puppen aus magisch geschütztem Leder standen einzeln oder in kleinen Gruppen und zeugten ebenso von dem Vernichtungspotential der Akademiemagier, wie die zahllosen Brandnarben auf dem gestampften Lehmboden. Zwei veraltete Plattenrüstungen hatten es Sylva besonders angetan. Sie wiesen mehrere, kaum münzgroße Löcher auf, an deren Rändern das Metall aufgeschmolzen worden war. Weiter hinten bezeugten die Überreste einer einst mächtigen Ulme, dass nicht jeder Kampfzauber das ihm zugedachte Ziel fand.

Magistra Esperia Feuerstaub hatte ihnen für heute eine Überraschung in Aussicht gestellt, und so war es verständlich, dass sich die sieben Schülerinnen und Schüler allesamt vorzeitig am Sandplatz im hinteren Hof einfanden. Die Lehrerin war noch nicht zu sehen und Sylvas Dolch stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Reaktionen waren höchst unterschiedlich. Nikki war begeistert, aber insgesamt überwog die Ablehnung. Enttäuscht schob Sylva die Klinge in die Scheide und legte sie ab.

Am Eingang des Hofes erschien Magistra Feuerstaubs hohe, schlanke Gestalt. Sie winkte die Schüler zum Übungsareal für die Feuerzauber. In der Hand trug sie ihren anderthalb Schritt langen, reich verzierten Stab, an dessen Spitze ein faustgroßer Rubin funkelte. Sylva vermeinte, in dem Edelstein ein unstetes Flackern wahrzunehmen.

„Kommt näher“, lud die Magierin ein. „Nachdem einige von Euch bald die Prüfung für das Noviziat ablegen, möchte ich Euch heute Harazzin vorstellen. Er ist noch jung. Geht also ein wenig zurück und erschreckt ihn nicht.“

Sylva trat zwei Schritte zurück und stieß gegen Satina, die aufgeregt mit Nikki tuschelte. Neugierig beobachtete sie, wie sich Magistra Feuerstaubs Hand dem Kristall näherte und ihn sacht berührte. Im nächsten Moment schossen gleißende Funken aus dem Stab und verdichteten sich zu einer feurigen Wolke. Begleitet von einem neuerlichen Funkenregen, verfestigte sich die Erscheinung zu einer kindsgroßen Gestalt aus reinem Feuer. Die Arme waren viel zu lang und waberten unstet an den Seiten. Der Kopf mit den tiefrot glühenden Augen saß ohne Halsansatz auf dem lodernden Rumpf und war von einem leuchtenden Flammenkranz umgeben. Obwohl die Proportionen der Gestalt ein kindliches Aussehen verliehen, vermittelten sie große Macht.

Die Reaktionen der angehenden Novizen konnten kaum unterschiedlicher ausfallen. Einige wichen erschrocken zurück. Andere reagierten mit erstaunten oder gar freudigen Ausrufen. Sylva starrte fasziniert in die abgründige Tiefe der magischen Augen, die eine unwiderstehliche Anziehung auf sie ausübten.

„Wie schon gesagt: Das ist Harazzin“, sagte Magistra Feuerstaub. „Er ist ein junger Feuerdjinn. Er wird uns bei den heutigen Übungen unterstützen. Die Feuerlanze und den Kleinen Feuerball haben wir ausführlich erörtert und an den Puppen trainiert, aber heute wird Harazzin Euer Ziel sein. – Nein, ihr könnt ihn nicht verletzen, sofern Ihr Euch auf die genannten Feuerzauber beschränkt. Das Gegenteil ist der Fall: In seiner elementaren Struktur ist ihm jede Art von Feuer, magisch oder nicht, angenehm und letztlich ein unverzichtbarer Bestandteil seiner Entwicklung. Man könnte sagen, ihr füttert ihn. Für mehr als drei oder bestenfalls vier Versuche wird Eure Kraft nicht reichen, also zielt gut. Ihr habt es erstmals mit einem beweglichen Ziel zu tun.“

Farin meldete sich sofort. In den theoretischen Fächern war der dunkelhaarige Novize der Klassenbeste und er ließ keine Gelegenheit aus, seine Überlegenheit zu demonstrieren. In den praktischen Zauberübungen tat er sich schwerer, konnte den Mangel aber durch intensives Studium der zugrunde liegenden Thesen ausgleichen. Heute stieß er jedoch an seine Grenzen. Sein erster, zaghafter Feuerball traf den noch still stehenden Djinn, aber als dieser in großen Kreisen und Schleifen über das Zielgelände glitt, verfehlten ihn die beiden folgenden Feuerlanzen. Schließlich war Farin so verunsichert, dass ihm ein weiterer Feuerball völlig misslang und verpuffte. Niedergeschlagen räumte er seinen Platz.

Dann trat Satina vor. In ihrer Aufregung gelang es ihr anfangs nicht, den Feuerball zu formen, aber ihre Feuerlanze erwischte Harazzin im Flug. Freudig blies er eine stiebende Funkengarbe in die Luft, und die Magistra legte der Schülerin aufmunternd die Hand auf die Schulter: „So ist es recht. Selbst wenn es nicht gleich funktioniert: Zusammenreißen, konzentrieren, noch einmal versuchen. Bravo! Wer ist der Nächste?“

Sylva machte sich bereit. Im Gegensatz zum theoretischen Unterricht, für den sie nach den vielen Jahren noch immer keine Begeisterung entwickeln konnte, war sie in den praktischen Übungen wirklich gut. Sie liebte es, von den freigesetzten Energien durchflutet zu werden, und die heute geforderten Zauber beherrschte sie einwandfrei. Würde sie auch treffen?

Ihre Gedanken verdichteten sich. Der Feuerball nahm zuerst in ihrer Vorstellung Gestalt an. Der magische Fluss durchströmte sie und fokussierte sich zu einer kleinen Kugel oberhalb ihrer rechten Handfläche. Als sie die von rechts kommende Feuerspur Harazzins erfasste, gab sie das Geschoss frei. Schnell wie ein Pfeil jagte es auf den Djinn zu und explodierte direkt neben ihm. Er verschwand in einer feurigen Entladung magischer Flammen. Ermutigt schickte sie zwei Lanzen aus scharf gebündeltem Feuer hinterher, traf aber nur einmal.

Das kannst du besser, sagte sie sich, während sie ihre Kraftreserve ergründete. Ein normaler Feuerball ginge sich leicht aus, aber sie wollte eine stärkere Aufladung versuchen. Das brächte sie an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Wer die eigene Schwäche nicht kennt, weiß nicht um seine Stärke, pflegte Magister Reimer zu sagen: Also mit voller Kraft. Sie sammelte die schon deutlich geschwächten Ströme aus ihrer Mitte und lenkte sie in eine konzentrierte Feuerkugel. Dann wartete sie, bis Harazzin seinen Flug für eine enge Wende verlangsamte. Verlust, durchzuckte es sie schmerzhaft, als das letzte Quäntchen ihrer magischen Kraft in den Zauber floss. Dennoch konnte sie die Konzentration lange genug halten, um die weißglühende Feuerkugel erst an ihrem Ziel zu entfalten.

Trotz der beträchtlichen Entfernung spürte Sylva die zurückschlagende Hitze, als der Djinn von weißem und blauem Feuer verschlungen wurde. Ein erschrockenes Raunen lief durch die Schüler, doch Harazzin flitzte knisternd aus der verglühenden Wolke. Das Flammenwesen nahm die Gestalt eines winzigen Drachen an, schlug zwei Loopings und, nach einer wilden Schraube, einen dritten. Es jagte in wilden Kurven über den Platz und sprühte vor Begeisterung, doch in seinem Fall war das wörtlich zu nehmen. Schüler und Lehrerin brachten sich vor seinem ausgelassenen Funkenregen in Sicherheit. Magistra Feuerstaub applaudierte begeistert und die Anderen fielen ein.

Sylva war stolz. Die Anerkennung half über die Leere hinweg, welche die verbrauchte Magie in ihr hinterließ. Satina umarmte sie spontan und Nikki gratulierte ihr. Nur Farin wandte sich missmutig ab. Als er aufsah, erkannte sie unverhohlenen Neid in seinem Blick.

* * *

Zwei Wochen später vollendete Sylva einen sorgfältiger gearbeiteten Waffengürtel, aber sie trug den Dolch nur noch selten. Obwohl ihre Faszination für die schlanke Klinge ungebrochen war, respektierte sie die allgemeine Abneigung gegen scharfe Waffen.

Die Fechtstunden mit Reuben, Serena und Torin wurden indes zu einer lieben Gewohnheit, und sie machte dabei gute Fortschritte. Nach einem anstrengenden Nachmittag im Kupferkrug trottete sie müde zur Akademie hinauf. Ihre Muskeln schmerzten, da Serena sie ordentlich gefordert hatte.

Eine Bewegung am Straßenrand ließ sie aufsehen. Magister Reimer musste hier auf sie gewartet haben. „Sylva, ich muss mit Dir sprechen.“

Seine Ernsthaftigkeit beunruhigte sie.

„Es geht um Deinen Dolch“, fuhr er fort. „Und um Deine Prüfung für das Noviziat.“

Sylva verstand nicht.

„Das Tragen von Waffen mit scharfer Klinge ist bei Magiern verpönt, bei strenger Auslegung sogar verboten. Ausnahmen gibt es nur für die kleinen Messer, die in der Pflanzenkunde oder in der Alchimie verwendet werden. Das Gesetz wird nicht oft angewendet, da die meisten Magier Klingenwaffen von sich aus meiden, aber in Deinem Fall haben sich einige Schüler bei Magistra Südfahrer beschwert und …“

Er unterbrach sich, als sie ihn mit großen Augen ansah. „Also genau genommen ein Schüler“, fuhr er fort, „aber das ist nicht von Belang. Das Tragen des Dolches am Akademiegelände und in der Öffentlichkeit ist Dir untersagt. Ich muss Dir die Waffe abnehmen.“

Ein Kloß machte sich in Sylvas Hals breit. Wieso machen sie mir alles kaputt, dachte sie, während sie zögerlich die Schnalle des Gürtels öffnete. Zumindest haben sie Reimer geschickt. Wenn ich der Südfahrer den Dolch geben müsste, würde ich heulen wie ein kleines Mädchen.

„Ich werde den Dolch im Kupferkrug deponieren“, überlegte Reimer halblaut und rieb sich das Kinn. „Torins Vater ist ein ehrlicher Mann. Dem kann ich die Waffe anvertrauen, und wenn ich‘s recht bedenke, kann man seinen Schuppen auch nicht als öffentlich bezeichnen. Da stimmst Du mir doch sicher zu?“

Er strahlte die verdutzte Schülerin an: „Außerdem habe mich erboten, Dir eine Strafarbeit aufzubrummen“, meinte er gönnerisch und weidete sich an ihrer Verwirrung. „Weißt Du, was ein ‚Ridik‘ ist?“

Sylva nickte mechanisch und wiederholte den Absatz aus dem Lehrbuch: „Ein Ridik ist ein magischer Gegenstand, der als Fokus und Verstärker für bestimmte Aufgaben dient. Ursprünglich für den Kampf gegen dämonische Kräfte gedacht, finden Ridiks in vielen Bereichen der Magie Verwendung, allen voran bei Alchimie und Hellsicht.“

„Gut. Wer darf ein Ridik besitzen?“

„Im Gegensatz zu einem Artefakt ist das Ridik ein personifizierter Gegenstand. Es ist nur seinem Erschaffer von Nutzen.“

Sylva zögerte, doch er bedeutete ihr fortzufahren. Sie kramte in ihrem Gedächtnis. „Ein Magier darf nur eigene Ridiks mitführen, dies kann ihm aber keinesfalls untersagt werden. Diese Bestimmung ist dominant und steht damit in ihrer Wertigkeit über anderslautenden Verboten weltlicher oder magischer Autoritäten.“

„Sehr gut“, lobte der Lehrer. „Du schreibst mir eine Abhandlung über Ridiks. Achtzehn Pergamente dürften genügen. Sieh zu, dass Du vor Deiner Prüfung fertig wirst, dann hat die Sache keinen weiteren Einfluss auf Deine Beurteilung. Ach ja, vergiss nicht ausführlich zu beschreiben, welche Gegenstände als Ridik in Frage kommen. Jetzt mach‘, dass Du nach Hause kommst, bevor es finster wird. Ich bringe noch den Dolch in den Krug.“

Fröhlich pfeifend marschierte er los. Sylva sah ihm wütend hinterher. Sie ballte die Fäuste und stampfte mit dem Fuß. „Achtzehn Pergamente, so ein Mist“, schimpfte sie. Sie tat sich mit dem Schreiben immer noch schwer und er wusste das. Für eine so umfangreiche Arbeit würde sie Stunden über Stunden in der Bibliothek verbringen. Er hatte ihr die schlechte Nachricht persönlich überbracht, und er würde den Dolch in den Kupferkrug bringen. Dafür war Sylva ihm dankbar, aber die ausgelassene Stimmung, mit er ihr die Arbeit aufgebrummt hatte, wurmte sie. Wütend stapfte sie den Karrenweg hinauf und trat einen Kiesel beiseite. Achtzehn Seiten! Was denkt der sich eigentlich.

Bald darauf erreichte sie die Akademie. Wahrscheinlich hatte Reimers gute Laune gar nichts mit ihr zu tun und er freute sich nur auf einen Abend in der Stadt.

* * *

Am Abend vor ihrer Prüfung war Sylva fertig. Ihre Rechte schmerzte vom Schreiben und ihr Rücken war steif. Zum wiederholten Mal fragte sie sich, warum gerade ihr die Handhabung des Federkiels solche Mühe bereitete. Noch einmal überflog sie die Pergamente. Etliche, nur oberflächlich beseitigte Tuscheflecken zeugten von ihrer Ungeschicklichkeit, aber sie hatte es geschafft. Ihr Blick blieb an jener Passage hängen, die ihr Magister Reimer besonders ans Herz gelegt hatte. Halblaut las sie die Stelle noch einmal durch:

„Oftmals werden Kristalle oder Glaskugeln als Ridik verwendet. Letztere profitieren überdies davon, dass die permanent eingebrachte Magie das Artefakt annähernd unzerstörbar werden lässt. Neben den bekannten Formen wird leicht übersehen, dass jeder Gegenstand ridiziert werden kann. Die Codizes sehen hier keine Einschränkungen vor.“

Satina sah irritiert auf, als Sylva zu lachen begann. Ihr Dolch gäbe ein gutes erstes Ridik ab, aber in ihrer Vorstellung sah sie sich mit einem langen, schmalen Schwert am Gürtel und keine Magistra Südfahrer dieser Welt könnte sie daran hindern, es zu tragen.

* * *


Schatten und Licht

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