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Disziplin, Ausdauer, Regeln, Strenge
ОглавлениеJahr 18 Kaiser Polanas, Sommer
Sylva, Schülerin an der Akademie des Hohen Magischen Kampfes zu Bethan
„Werte Schüler und Schülerinnen!“ Die Aussprache der gut fünfzigjährigen Lehrerin war ebenso tadellos wie ihre Haltung, ihre Kleidung und der Sitz des Knotens in ihrem schon grau gewordenen Haar. So wie Alles an Magistra Professura Vilana Südfahrer und das Gleiche erwartete sie natürlich auch von den vierzehn angehenden Zauberinnen und Zauberern, die, fein säuberlich nach Alter gereiht, an den Schreibpulten standen. „Die Älteren schreiben heute auf Pergament. Carol, gib jedem einen Bogen, aber nur einen.“
Ein schlaksiger Junge mit braunem, kurz geschnittenem Haar nahm die acht schon mehrfach abgeschabten Bögen entgegen.
„Kyrina, die Tintenfässer bitte. Pass auf die Federkiele auf. Mit den Kleineren ….“ Die Lehrerin stockte. Ihr Blick heftete sich auf das leere Pult in der zweiten Reihe. „Hat jemand Sylva gesehen? Wo steckt das Kind denn wieder?“
Die beiden blonden Mädchen aus der ersten Reihe, nicht älter als sechs oder sieben, wohl frisiert und in weiße Umhänge gekleidet, sahen eingeschüchtert zu ihr auf und von den kaum älteren Burschen dahinter kam auch keine Antwort. Schließlich meldete sich Kyrina: „In Grundlagen der Alchimie hat sie ihre Schwefelbasis versemmelt. Vielleicht ist ihr übel.“
„Hat sie ihre Schwefelbasis verdorben“, korrigierte die Magistra, doch ihr Missmut über das Fehlen der Schülerin schien sich zu legen. „Also mit den Kleineren …“
Jäh flog die Türe auf. Wie ein Wirbelwind schoss die Vermisste mit wehendem schwarzem Haar in die Schreibstube. Es schien, als würde sie Carol umlaufen, aber sie schaffte es ohne Zwischenfall zu ihrem Pult. Dort blieb sie sichtlich erhitzt stehen und rang nach ihrem Atem.
„Wo in aller magischen Winde Namen bist du gewesen, du störrisches Kind?“, herrschte die Lehrerin die Achtjährige an.
„Ich … ich war noch im Garten und ich habe die Zeit vergessen.“ Die hellgrauen ausdrucksstarken Augen hielten dem Blick der Älteren mühelos stand.
„Wie du wieder aussiehst. Aus dir wird nie eine respektable Magierin.“ Missbilligend musterte die Lehrerin die Flecken im Umhang der Schülerin und fixierte schließlich die Kletten und Ästchen, die sich in Sylvas Haaren verfangen hatten.
„Schreiben“, sagte die Magistra. „Zwei Stunden schreiben nach dem Abendbrot, nein, statt dem Abendbrot.“ Mit einer schroffen Bewegung riss sie dem Mädchen eine der Kletten aus dem Haar und warf diese samt der Strähne, in der sie sich verfangen hatte, angewidert hinter sich. „Disziplin, Ausdauer, Regeln, Strenge: Das braucht ein Magier, wenn er seine Kunst beherrschen und seinem Land und seinem Kaiser dienen will. Wissen, Übung und wieder Disziplin, das ist euer Leben.“
Hundertmal habe ich das schon gehört, dachte Sylva. Wann lernen wir endlich richtig zaubern? Und kämpfen? Schreiben, Lesen, Strammstehen, komplizierte Mixturen fertigen – all das musste sie lernen und Vieles mehr. Aber es war schwer, wenn man sich dazwischen nicht austoben konnte. Den Übrigen schien das wenig auszumachen. Die machten einen großen Bogen um die kräftigen Burschen und Mädchen aus der Stadt, wenn sie überhaupt einmal die Schule verließen. Aber sie war nicht wie die Anderen. Sie hatte Spaß an den einfachen Körperübungen, die oft genug ausreichten, den einen oder anderen Mitschüler ins Schwitzen zu bringen.
Mittlerweile schrieben die Jüngeren bereits auf ihren Schiefertafeln. Vorsichtig schielte Sylva nach rechts, um zu sehen, welches Zeichen geübt werden sollte. Die Buchstaben der Gemeinsprache beherrschte sie schon ganz ordentlich, doch die verschlungene Schrift der alten Magier wollte sich ihr nicht erschließen.
Disziplin, schoss es ihr durch den Kopf. Ich muss mich zusammenreißen. Ah, das große C, mehr als nur ein Buchstabe. Wie jedes Zeichen der alten Sprache war auch das C mit einer eigenständigen Bedeutung versehen. Es stand für die Alchimie, die Kunst aus vorhandenen Stoffen Neues zu erschaffen, von eigener Beschaffenheit und ungleich wertvoller als die Summe seiner Teile.
Das Kratzen in ihrem Hals erinnerte Sylva an den Vormittag, als ihre Schwefelbasis zu blubbern begann und ätzenden, gelblich fettigen Rauch absonderte, bis Magister Reimer die Schüler ins Freie trieb. Gerade ihr passierten solche Missgeschicke immer wieder, obwohl sie ihren Alchimielehrer schätzte. Anders als Magistra Südfahrer war er nett zu ihr und sie hätte sie sich in seinem Unterricht gerne geschickter angestellt, aber ….
Erschrocken sah sie auf Nikkis halb bekritzelte Tafel: Sieben verschnörkelte C, fein säuberlich nebeneinander gereiht, wackelig, aber sicherer werdend. Rasch wischte sie ihren einen, halbfertigen Buchstaben ab. Sie wollte sich jetzt richtig Mühe geben.
„Sylva!“, brüllte eine sich überschlagende Stimme in ihr Ohr. „Träumen kannst du in der Nacht!“
Da spürte sie eine Bewegung in ihrem Umhang. Auf das Streifenhörnchen, das sie heute im weitläufigen Garten der Akademie eingefangen hatte, hatte sie vollkommen vergessen. Gewöhnlich hielten sie sich ruhig, wenn es dunkel und halbwegs still war, aber Frau Südfahrers Gezeter erschreckte das Tierchen. Das war nicht gut, gar nicht gut. Verzweifelt hielt sie die Tasche zu und hoffte, das arme Hörnchen möge sich beruhigen.
„Zappel nicht so!“ Die Lehrerin packte Sylvas Handgelenke und im selben Moment schoss das verängstigte Fellbündel aus ihrer Tasche. Es sprang auf ein Schreibpult und von dort zum nächsten. Die Kinder hatten keine Ahnung, was da so plötzlich vor ihnen hin und her flitzte und kreischten. Ein Tintenfass kippte auf eines der Pergamente, während ein anderes seinen Inhalt über den geölten Holzboden ergoss.
„Stein!“ rief die Magistra und wies auf das Tier. Es erstarrte in der Bewegung, kippte um und blieb liegen. „Bringt … dieses … Ding … hinaus!“, keuchte sie, ehe sie wutschnaubend die Schreibstube verließ.
Nikki und Satina, die Mädchen aus der ersten Reihe, brachen in haltloses Schluchzen aus. Kyrina versuchte ihnen zu erklären, dass das Streifenhörnchen in einer Stunde wieder durch den Garten tollte. Die anderen bemühten sich Ordnung zu schaffen und die Ausbreitung der Tintenseen einzudämmen. Sylva wollte im Erdboden versinken.
* * *
Disziplin, Ausdauer, Regeln, Strenge, prägte sie sich ein, während sie mit all der Kraft, die ein achtjähriges Mädchen aufbringen konnte, den Steinboden der Latrine bearbeitete, als könnte sie ihn komplett wegscheuern. Vier Wochen alle Abtritte der Akademie säubern, die Böden schrubben und die schweren, stinkenden Eimer leeren.
Dabei hatte sie Glück gehabt. Ohne Magister Reimer wäre sie von der Schule geflogen. Er hatte lang und breit ausgeführt, dass derartiges Fehlverhalten nach Unfällen mit schwefelhaltigen Substanzen vorkäme, und die Rektorin hatte ihn über den Rand ihres Monokels hinweg angesehen, als müsste sie ein Schmunzeln unterdrücken.
Disziplin, Ausdauer, Regeln, Strenge: Sylva würde sich mehr Mühe geben.
* * *
Hilmar Reimer, Lehrmeister an der Akademie des Hohen Magischen Kampfes zu Bethan
Etwa zwei Jahre später schlenderte Magister Reimer den Karrenweg zur Stadt hinunter. Wie lange war es her, dass er selbst das Examen an der „Akademie des Hohen Magischen Kampfes zu Bethan“ abgelegt hatte?
Als er seinen Streit mit Vilana dachte, regte sich sein Zorn. Wie so oft ging es um Sylva, der es schwer fiel, sich der strengen Disziplin zu unterwerfen, und wieder musste er die Kleine in Schutz nehmen. Selbst fünfundzwanzig Jahre Unterricht befähigten nicht jeden zu einem wertschätzenden Umgang mit den Schülern.
Eine kleine Dosis praktischer Erfahrung täte ihr gut, dachte er. Vilana hatte die Akademie nie verlassen. Nach ihrer Abschlussprüfung – mit exzellenter Gesamtbeurteilung – äffte er sie in Gedanken nach, hatte sie als Assistenzkraft begonnen und war durch Fleiß und Ausdauer bald zu einer Lehrstelle gelangt. Die Härte und Disziplin, der sie sich in ihrer eigenen Ausbildung unterwerfen musste, legte sie mit Akribie auf ihre Schüler um.
Nach seinem Abschluss erforschte Reimer die Schönheiten und Wunder, aber auch die Abgründe dieser Welt. Er durchstreifte das Reich im Dienste Seiner Majestät Kaiser Polanas und sah dabei so manches Mal dem Tod ins Auge. Disziplin, Regeln und Ausdauer, die drei Grundprinzipien der Akademie, retteten ihm dabei mehr als einmal das Leben – und genauso oft bedurfte es der Improvisation und der Übertretung dieser Regeln, um eine Aufgabe zu einem guten Ende zu bringen.
Die magische Schule lag auf den Hügeln. Von dort oben erschien Bethan als weiße Stadt mit schmucken sauberen Häusern, unterbrochen von gold- und silberblitzenden Tempeln und mächtigen Palästen. Der Seehafen, dem Bethan seinen Reichtum verdankte, schien an manchen Tagen zu klein für die vielen Schiffe und Boote, die aus dieser Höhe wie Spielzeuge wirkten. Mit scharfen Augen konnte man zwischen ihnen die Schauerleute ausmachen, die kostbare Gewürze und Tee aus den nördlichen Städten, Pelze und Walfischtran aus dem kalten Süden oder noch seltenere Kostbarkeiten entluden. Die Überschüsse des Kaiserreichs an Rindfleisch, Getreide, zu feinen Stoffen versponnener Wolle und sauber gegerbtem Leder wurden von hier in viele Teile der bekannten Welt verschifft, und das Handelsmonopol mit den Zwergen trug ein Übriges zu Wohlstand und Reichtum der imperialen Häfen bei.
Reimer dachte an den Vormittag. Nach dem Streit mit Vilana fand er Sylva an einer abgelegenen Stelle des Gartens, unter einen Busch gekauert und haltlos schluchzend. Dankbar kuschelte sich die Kleine an ihn, und beinahe hätte er den einen oder anderen Kampfzauber an einer gewissen Lehrkraft demonstriert. Als Sylva wissen wollte, wieso er sich für sie einsetzte, legte er ihr seine Gedanken über die Aufgaben eines Weißen Magiers dar. Er sah seine Verpflichtung darin den Schwachen beizustehen, die Unschuldigen zu beschützen und stets Wahrheit und Aufrichtigkeit im Herzen zu tragen.
„Aber was ist mit Disziplin und Regeln?“, fragte das Mädchen.
„Das sind Mittel für den Zweck. Wenn Du von wo fortgehst, sollte dieser Teil der Welt besser sein als zuvor.“ Zu seiner Überraschung wiederholte die Kleine den Satz und prägte sich jedes Wort ein.
* * *
Ein Windstoß fegte um eine Ecke und trug den Geruch von See und Hafen an Reimers Nase. Er war auf dem Weg zum Marktplatz, der jetzt, am frühen Nachmittag, belebt wäre. Anders als viele seiner Kollegen schätzte er den Kontakt mit Menschen. Hafenarbeiter, Fuhrleute, Bedienstete, Marktfrauen und Kaufleute, Gaukler und anderes fahrendes Volk ließen ihn eine Vielfalt von Farbe und Lebendigkeit empfinden, die er in der nüchternen Schule vermisste. Natürlich wusste er um die Schattenseiten der Städte, sah die harte Arbeit, die mit dem Leben des einfachen Volkes verbunden war und verschloss die Augen nicht vor dem Elend der Armen, denen die Götter weniger gnädig waren. Dennoch wollte er die Stunden, die er inmitten des bunten Treibens verbrachte, nicht missen. Wohl war er in seinen Gewändern als Magier und Hoher Herr erkennbar, aber die Marktfrauen kannten ihn, und in seinem Stammlokal wusste man, dass er sein Herz am rechten Fleck trug.
Während er mit einem fremden Händler um den Preis einer seltenen Abhandlung über die alchimistische Bedeutung der Insektoiden feilschte, wurde er auf eine johlende Horde aufmerksam. Er liebte das Lachen und Toben spielender Kinder, aber diesmal handelte es sich um eine Auseinandersetzung. Und um eine ziemlich einseitige, dachte er. Fünf Kinder, allesamt um die Zehn oder Zwölf, trieben einen hoch aufgeschossenen Burschen in die Enge.
Fünf gegen einen gefällt mir nicht, überlegte er. Aber helfe ich ihm, wenn ich mich einmische, ohne zu ahnen was dahintersteckt?
In diesem Moment schoss eine kleine Gestalt quer über den Platz und stürzte sich mit einem schrillen Schrei auf die Angreifer. Die schwarzen Haare kenne ich und die weiße Robe auch. Der Magister setzte sich in Bewegung.
Anfangs profitierte Sylva von der Überraschung und ihre Fäuste teilten aus, bis die Anderen von ihrem Opfer abließen. Dann musste sie erkennen, dass Mut und Begeisterung alleine nicht ausreichten, einer Übermacht entgegenzutreten.
„Guck mal, eine Hexe vom Berg. Die hat sich wohl verirrt“, spottete ein dunkelhaariges Mädchen in einem ärmlichen Kleid.
„Darfst ja noch gar nicht zaubern“, höhnte ein Junge mit kurzen blonden Stoppeln und schlug Sylva ins Gesicht. Die aufgestauten Aggressionen entluden sich in Schlägen und Tritten, die auf die tapfere Schülerin hereinprasselten, ehe der Magister heran war. „AUSZZEINANDER“ zischte er.
Erschrocken fuhren die Angreifer herum. Als sie in der drohenden Gestalt einen Zauberer erkannten, rannten sie davon. Obwohl Sylva heftig aus der Nase blutete, lächelte sie Magister Reimer tapfer entgegen und wollte zuerst dem fremden Jungen auf die Beine helfen.
Der versuchte ein schiefes Grinsen. „Danke, ich bin Torin, vielen Dank für … Aua!“ Er knickte ein, als er sein linkes Bein belastete.
„Lass mich das ansehen“, sagte der Magier. Vorsichtig nahm er den Unterschenkel des Jungen zwischen seine Hände und murmelte die Worte der Heilung. Mit großen Augen schaute der Junge zu ihm auf, während der Schmerz einem wohligen Prickeln wich.
„Und da müssen wir auch etwas tun“, meinte der Lehrer zu Sylva. Sein Blick glitt über ihre blutige Nase und die Schrammen in ihrem Gesicht. „Würde Dir recht geschehen, wenn es länger wehtäte, aber so kannst Du nicht in der Schule antanzen.“
Er hielt seine Hände vor ihr Gesicht und wieder fühlte er das Strömen der Energie, die sich ausbreitete und das Wunder der magischen Heilung vollbrachte. Torin beobachtete mit aufgerissenen Augen, wie sich das Gesicht seiner Retterin glättete, bis die Haut ihre ursprüngliche, rosige Färbung annahm.
„Was wollten die von Dir?“, fragte Sylva, als der Magister fertig war.
„Ich arbeite im Kupferkrug als Schankbursche. Mein Vater, der Wirt, hat zwei Rumtreiber an die Luft gesetzt, die nicht zahlen konnten. Ich glaube, einer war der Vater von einem der Burschen vorhin. Kommst Du mich einmal besuchen? Die Taverne ist gleich da vorne.“
* * *
Schweigend stapften Lehrer und Schülerin den steilen Weg zur Akademie hinauf. „Das war mutig von Dir und tapfer, aber auch ziemlich dumm“, sagte Magister Reimer schließlich. Er wies mit seiner Rechten auf die frischen Blutflecken und den Schmutz auf ihrer Kutte. „So können wir Dich nicht lassen. Es gibt da einen zwar unwichtigen, aber sehr nützlichen Zauber.“ Der Stoff reinigte sich unter seinen Händen. „Von Deinem kleinen Abenteuer sollten wir niemandem erzählen“, ergänzte er, als er fertig war.
„Warum?“ fragte das Mädchen und sah ihn mit ihren hellgrauen Augen an. „Es ist doch die Wahrheit.“
Schließlich war es der Ältere, der ihrem Blick nicht standhielt. Leicht wird sie es nicht haben, dachte er, aber sie hat eine große Zukunft vor sich.
Schweigend setzten sie sich wieder in Bewegung. Sein Blick streifte das Mädchen, das aufrecht neben ihm herging. Wenn wir sie lassen, führte er seinen Gedanken zu Ende und warf einen Blick zurück auf die im Meer versinkende Abendsonne.
* * *
Semira, Schülerin der Verwandlung an der Akademie zu Rand
„Heute werdet ihr das erste Mal zaubern. Ihr werdet einen Stein verwandeln.“
Die zehnjährige Semira war aufgeregt. Zaubern. Schon das Wort ließ ihren Bauch kribbeln. Endlich war es soweit.
Magister Geron musterte seine Schüler und Schülerinnen. „Jeder von Euch bekommt von mir einen kantigen Stein. Ihr werdet diesen in eine Kugel verwandeln. Gemäß der zugrundeliegenden Thesis stellt ihr euch vor, wie sich der Kiesel zu drehen beginnt. Dann führt ihr die Linien eurer magischen Kraft von rechts oben zu, bis sich der Stein darin verfängt und sie wie einen Faden aufwickelt. Ihr unterstützt den Vorgang mit dem Wort ‚Form‘ und gleitenden Bewegungen eures Stabes. Wenn ihr euch daran haltet, wird es dem einen oder anderen vielleicht gelingen, eine Veränderung herbeizuführen.“
Semira betrachtete ihren Stein. Mit seinem gesprenkelten Graubraun war er nicht schön, aber er lag angenehm in ihrer Hand. Sie wusste, welchen Wert der Magister auf die exakte Ausführung seiner Anweisungen legte. Also schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie sich der Stein zu drehen begann. Quelle meiner Kraft, dachte sie und Wärme stieg in ihr auf, wie sie das von den Meditationen kannte. Der Ton kam hingegen völlig unerwartet. Sie erschrak und ihre Konzentration brach zusammen.
„Ich habe etwas gehört. Ist das normal?“, fragte sie aufgeregt.
Geron schüttelte den Kopf. „Störende Einflüsse musst du unterdrücken. Konzentriere dich auf die Thesis. Lass dich nicht ablenken.“
Semira nickte und versuchte es noch einmal. Wieder wurden die Bilder von einem Ton begleitet, der sich diesmal zu einem kraftvollen Akkord verbreiterte, während das Lied von ihr Besitz ergriff und an Intensität gewann. Die Melodie war ihr unbekannt und dennoch seltsam vertraut.
Wie war die Thesis? Egal. Ihr Stab bewegte sich wie von selbst in ihrer Hand. Weißes Licht ergoss sich aus seiner Spitze und tastete nach dem rotierenden Stein wie ein behutsamer Fühler. Das Weiß zerfloss in leuchtendes Rot, Gelb, Grün und Blau, als es den Kiesel berührte. Das ist wunderschön, dachte Semira, während Tränen des Glücks in ihre Augen traten.
Behutsam löste sie sich und zog ihre Kraft zurück. Die Melodie verebbte in einem sanften Nachhall und das Licht erlosch. Etwas Glattes, Rundes lag in ihrer Hand. Neugierig öffnete sie die Augen und sah eine Kugel, schön und durchsichtig wie Glas, in allen Farben des Regenbogens schillernd. „Schaut“, rief sie begeistert. „Schaut was ich gemacht habe.“ Sie hielt die Kugel hoch, damit sich die anderen mit ihr freuen konnten.
Fenrik sah auf und hielt ihr seinen eigenen Kiesel entgegen, an dem keinerlei Veränderung zu erkennen war, während Hieron seinen Zauber irritiert unterbrach. Nur Ylva, mit der sich Semira die Kammer teilte, klatschte begeistert.
„Tu das nie wieder“, tadelte Magister Geron. „Was immer dich geritten hat, lass es. Du hältst dich an die Thesis wie jeder andere hier.“
„Aber ich habe Musik gehört“, erklärte Semira. „Und Farben gesehen.“
Gerons Ohrfeige traf sie unvorbereitet. „Störrisches Kind“, schimpfte er, während er rot anlief. „Wenn du schon zu dumm bist, eine einfache Thesis umzusetzen, dann sei gefälligst still und schäm dich, anstatt damit anzugeben.“
„Zaubern heißt diszipliniert arbeiten“, wandte er sich an die Schüler, während er sich nur langsam abregte. „Die Konzentration auf die Thesis ermöglicht uns klare, vordefinierte Resultate. Farben, Töne und ähnlicher Schnick-Schnack lenken uns ab, mehr noch: Sie führen uns in Versuchung und bringen uns vom reinen Pfad der Weißen Magie ab.“
„Aber es war schön“, erwiderte das Mädchen. „Ich wollte doch ….“
„Still jetzt! Es reicht! Ich will kein Wort mehr hören!“
* * *
„Hörst Du noch Etwas?“, wollte Geron in der nächsten Stunde wissen.
Semira schüttelte den Kopf.
„Lüg mich nicht an!“ Sein Schlag trieb ihr die Tränen in die Augen.
„Hörst Du noch Etwas?“, setzte er nach. Sie nickte – und kassierte die nächste Ohrfeige. „Hör damit auf“, schärfte er ihr ein, ehe er sich wieder dem Unterricht zuwandte.
So lernte Semira ihre Magie zu unterbrechen, ehe sich die Farben vollständig entfalteten und der letzte Ton verklang. Das fühlte sich zwar falsch an und mündete in misslungenen Zaubern und unfertigen Verwandlungen, aber sie eckte seltener an. Rasch gewöhnte sie sich daran, für schlechte Resultate gelobt zu werden.
„Nein. Ich höre nichts mehr“, log sie bei Gerons gelegentlichen Nachfragen, und irgendwann war sie so gut darin, dass er ihr glaubte.
* * *
Ylva musste nacharbeiten und Semira genoss die wenigen Stunden, die sie für sich alleine hatte. Sie lag auf ihrer Pritsche und starrte an die Decke. Die Art wie sie die Magie spürte, hörte und sah, hatte sich in den letzten Wochen verfeinert und intensiviert. Manche Zauber funktionierten wie von selbst, während andere von Disharmonien begleitet wurden. Das eine oder andere Mal hatte sie Lehrer darauf angesprochen, war aber nur auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen.
Die Anderen hören nichts, überlegte sie. Oder sie geben es nicht zu. Und sie tun sich mit dem Zaubern viel schwerer als ich.
Ein leises Knattern lenkte Semiras Aufmerksamkeit auf einen dicken braunen Käfer. Neugierig öffnete sie sich und spürte in ihn hinein. Trotz des plumpen Äußeren unterschieden sich seine Schwingungen nur wenig von jenen der Libellen am Teich. Könnte man da …?
Sie schloss die Augen und ließ ihre Magie fließen. Erinnerungen an die hübsche Glaskugel flossen ein und verbanden sich mit der Melodie der Verwandlung, doch etwas passte nicht. Ach ja, der Käfer ist eine Lebewesen. Das ist keine Verwandlung sondern eine Verzauberung. Da wurde der Klang harmonisch und fügte sich in den Rhythmus ein, bis Farben in den Käfer flossen und ihn von innen heraus erleuchteten.
Semira öffnete die Augen. Wie schön, dachte sie, während ihre Augen dem Flug der schimmernden Glaslibelle folgten. Wie wunderschön. „Flieg ins Licht“, murmelte sie. Wie von Zauberhand änderte das Tier die Richtung. Im Sonnenstrahl, der durch das schmale Fenster fiel, funkelte es in allen Farben des Regenbogens.
„Was ist das?“, fragte Ylva von der Türe her und Semira erschrak. Ihre Verbindung zu dem Tier brach ab, und der damit verbundene Misston ließ sie gleich noch einmal zusammenfahren.
„Was hast Du gemacht?“, stammelte Ylva. Sie starrte auf das unförmige Häufchen von braunem Matsch und zerstörtem Chitin unter dem Fenster. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Ist nicht schlimm“, wollte Semira sie trösten. „Es war doch nur ein Käfer.“
„Es war ein Lebewesen. Wir dürfen noch gar keine Verzauberungen ausführen. Schon gar nicht so eine. Das … das ist Schwarze Magie. Du siehst ja, was dabei herauskommt.“
„Ich wollte das doch gar nicht“, lenkte Semira ein. „Wirst Du mich verraten?“
Ylva schüttelte den Kopf, dass ihre langen braunen Haare hin und her flogen.
„Wir müssen ohnehin zum Schreibunterricht“, wechselte Semira das Thema. „Mal sehen, welches Zeichen heute dran ist.“
* * *
An diesem Abend lag Semira noch lange wach. Ylvas Atemzüge gingen ruhig und regelmäßig, aber in ihr klang die Melodie der Verzauberung nach – gefährlich und faszinierend, fremd und verlockend wie das Wesen der Magie selbst.
* * *
Darrian, Schüler der Verwandlung an der Akademie zu Rand
Stolz führte Darrian die Schüler über den Hof. Seit Ardana und Hinrik zu Novizen aufgestiegen waren, trug er mit seinen vierzehn Jahren die Verantwortung, dass die Klasse pünktlich und vollständig zum Unterricht erschien. Prüfend musterte er die kurze Zweierreihe. Die beiden schwarz gelockten Burschen in der ersten Reihe waren Zwillinge. Sie überragten ihn um einen halben Kopf und waren nur knapp jünger als er. Hinter ihnen folgte Anja. Sie warf ihr volles braunes Haar aus dem Gesicht und lächelte ihm fröhlich zu. Die blonde Rhiana neben ihr war ein zurückhaltendes Mädchen, aber Darrian mochte ihre überlegte Art die Dinge anzugehen.
Eine plötzliche Bewegung am Ende der Reihe lenkte seinen Blick auf zwei Buben, beide knapp elf Jahre alt. Sie stritten darüber, wer die Sachen der gleichaltrigen Semira tragen durfte, die stolz wie eine Königin hinter ihnen her schritt. Fenrik rempelte Hieron den Ellbogen in den Arm, der dabei beinahe die kostbaren Alchimieschalen fallen ließ, während Fenrik seine Bücherstapel nur mit Mühe unter Kontrolle hielt.
„Aufhören! Sofort!“ brüllte Darrian. Auch er spielte gerne den Kavalier, besonders für Anja, wenn sich eine Gelegenheit ergab, aber was die Beiden aufführten war lächerlich. Hübsch war die Kleine ja, das gestand er gerne zu, aber die Freundlichkeit des blonden Mädchens war oberflächlich und distanziert.
Die hellen Umhänge trotzten der kühlen Morgenluft nur ungenügend. Darrian war froh, als sie den Holzschuppen erreichten, der seit drei Wochen als provisorische Experimentierkammer diente. Der eigentliche Labortrakt lag aus guten Gründen in einiger Entfernung zu den übrigen Gebäuden, aber bis zu dem Brand hatten die Schüler diese Vorsichtsmaßnahme für eine Wichtigtuerei der Professoren gehalten.
Einer nach dem Anderen traten die Schüler in den Raum mit den Arbeitstischen. Semira strich dabei an Darrian vorbei. Ein strahlendes Lächeln huschte über ihr Gesicht, während ihre blitzenden, tiefgrünen Augen seinen Blick einfingen. Ich muss sie im Auge behalten, dachte er irritiert. Als Ältester muss ich schließlich für Ordnung sorgen.
* * *
Den Unterricht führte Magistra Rowina Schmied. Darrian mochte die junge Lehrerin, die sich so für die Kunst der Alchimie begeisterte.
„Auch wenn ihr jetzt noch einfache Mischungen aus billigen Substanzen herstellt, liegt es in eurem Interesse, mehr als nur die elementaren Grundzüge zu erlernen.“ Aufmerksam ging die Magierin durch die Reihen. „Stell den Brenner etwas höher, sonst wird das nichts – Die Alchimie stellt, nebst der Schmiedekunst, die höchste der nichtmagischen Wissenschaften dar. Durch ihre Kenntnis seid ihr in der Lage, aus meist einfachen, manchmal aber auch teuren und schwer zu beschaffenden Zutaten … jetzt eingießen, Anja, noch rascher – ja, gut so …. wertvolle Mixturen und Tränke herzustellen.“
Darrian konnte das Gähnen nicht länger unterdrücken. Seit Stunden arbeiteten sie an der Isolation von Blei aus einer Mischung von gelösten Metallen, und er konnte beim besten Willen nichts Aufregendes darin entdecken. Seine Gedanken schweiften zur gestrigen Zauberstunde, in der er sich mit einem perfekt ausgeführten Verformungszauber ausgezeichnet hatte. Was ist dagegen schon die Mischerei hier? Das kann dem Grunde nach jeder Apotheker. Wäre er erst ein großer Zauberer, würden das seine Gehilfen und Lehrlinge erledigen. In seinen Träumen besaß er einen Turm und genoss die Bewunderung gut zahlender Kunden.
„Die wichtigste und zugleich häufigste Anwendung besteht in der Herstellung von Heiltränken. Sie dienen der Behandlung von Wunden und Verletzungen – nicht so viel von der Säure – und repräsentieren damit das Grundprinzip der weißen Magie in vollendeter Form.“ Magistra Rowina räusperte sich. „Wiewohl in den Grundzügen einfach, bedarf die Herstellung heilender Mixturen von definierter Qualität und verlässlicher Wirkung jahrelanger Übung und höchster Sorgfalt.“
Darrians Blick schweifte durch den Raum. Anja grübelte über ihrer Schale. Die Zwillinge wehrten sich verzweifelt dagegen einzudösen und die kleine Ylva kritzelte fantastische Muster auf einen Zettel. Nur Semira war noch mit Eifer bei der Sache. Ihre Feder glitt über das Pergament, als wollte sie jedes einzelne Wort festhalten, während der Löffel in ihrer Linken die Probe rührte.
* * *
Magistra Rowina Schmidt, Lehrerin für Alchimie an der Akademie zu Rand
„Magistra!“, rief Semira aufgeregt. „Wenn ich dem Blei, solange es noch gelöst ist, sofort den Diamantstaub und die Krötengalle zufüge, kann ich die Basis für einen Wandlungstrank herstellen, ohne dazwischen abzukühlen. Dann müsste die Verteilung in der Probe auch feiner sein.“
Genial, schoss es Rowina durch den Kopf. Das könnte tatsächlich funktionieren. Das Mädchen besaß eine natürliche Begabung, und ihr Eifer und ihre kreativen Einfälle begeisterten die Lehrerin. Sie dachte an ihre Forschungen für die Rezeptur eines verbesserten Stärkungstranks. Ich werde fragen, ob mir die Kleine den einen oder anderen Nachmittag helfen darf. Da lernt sie viel, wir haben Spaß daran und vielleicht hat sie ja noch mehr Ideen, die uns weiter bringen.
Als sie wieder aufsah, waren die Schüler dabei die Materialien wegzuräumen und ihre Schalen zu säubern. „Los, raus jetzt“, rief sie den Kindern fröhlich nach, während diese ins Sonnenlicht drängten.
Eine Schande, dass sich so Wenige ernsthaft für die Alchimie interessieren, grübelte Rowina, während ihr Blick dem blonden Mädchen folgte. Obwohl die Art der Tränke, die ein Absolvent einer weißen Schule herstellen durfte, eingeschränkt war, ermöglichte deren Verkauf doch ein gutes und angesehenes Auskommen, ohne sich in ein festes Dienstverhältnis oder einen bewaffneten Konflikt zu begeben. Aber die direkte Anwendung von Magie war für die angehenden Zauberer natürlich verlockender, musste sich die junge Lehrkraft eingestehen.
Die Sache mit der Bleilösung probiere ich gleich aus.
Am Weg zum Experimentiertisch hielt sie inne und ihre Euphorie wich Bestürzung: Der Wandlungstrank zählte zu den verbotenen Elixieren. Durch seine vollendete Täuschung konnte man dunkle Machenschaften und Verbrechen nicht nur verbergen, sondern auch noch Unschuldigen anlasten. Die Liste der verbotenen Elixiere war ein unverzichtbarer Bestandteil des Unterrichts, aber Rowina konnte sich nicht entsinnen, jemals auch nur einen Bestandteil der Mixtur erwähnt zu haben. Um das Gespräch werde ich nicht herumkommen, seufzte sie, während sie lustlos ihren Tisch aufräumte.
Zurück in ihrem Arbeitszimmer musterte sie das Schränkchen mit den Rezepturen. Die sorgfältig gearbeiteten Intarsien auf den Türchen zeigten eine Auswahl bekannter Heilpflanzen. Das Schloss war unversperrt. Ich habe ganz sicher abgesperrt, so wie jedes Mal …. In Rowina keimte ein Verdacht.
„TANIS sei Dank“, entfuhr es ihr, als sie die Bände mit den verbotenen Rezepten an ihrem Platz vorfand.
Das Buch mit dem schwarzen Einband stand für den Tod. Es enthielt eine erkleckliche Anzahl von Giften, teils langsam wirkend, teils rasch, in ihrer Wirkung von Schwächeanfällen bis zum unvermeidlichen Tod reichend.
Der grüne Band enthielt Tränke zur Manipulation des Geistes. Hierin fand sich beispielsweise die Anleitung zur Herstellung des berüchtigten Wahrheitselixiers. Auch diese Substanz zählte zu den verbotenen Rezepturen, ihre Anwendung war aber – unter Einhaltung strikter Regeln – freigegeben worden.
Die Seiten des roten Buches waren den Elixieren zur Verzauberung von Lebewesen gewidmet. Die Auswahl reichte von harmlosen Spielereien, wie stimmverändernden Anwendungen, bis zu eben jenem Wandlungstrank, den die kleine Semira vorhin so beiläufig angesprochen hatte.
Rowina betrachtete die verbotenen Bücher mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Ausgewählte Weißmagier mussten sich mit diesen perversen Verirrungen der Alchimie auseinandersetzten. Für die einwandfreie Identifikation aufgefundener Tränke war dies ebenso von Bedeutung, wie für die Erforschung und Weiterentwicklung wirksamer Gegenmittel, und es oblag Rowina, jene verbotenen Wirkstoffe herzustellen, deren verderbliche Wirkungen noch analysiert werden mussten.
Also habe ich wirklich nur vergessen abzuschließen, sagte sie sich, doch ihre Unruhe legte sich nicht. Sie öffnete das Kästchen erneut, und diesmal nahm sie den roten Band heraus. Hastig blätterte sie nach der Rezeptur und stieß erleichtert die angehaltene Luft aus. Nichts deutete darauf hin, dass das Buch vor kurzem benutzt worden wäre, doch beim Zuklappen fiel ihr Blick auf ein einzelnes blondes Haar, das sich im Faden der Bindung verfangen hatte.
* * *
Jahr 22 des Kaisers Polanas, Spätsommer
Romero Likandros, Lehrmeister der Verwandlung an der Akademie zu Rand
Die Platane im Hof der Verwandlungsakademie war alt. Im Schatten ihrer ausladenden Krone fand sich ein Dutzend Novizen zum Stockfechten ein, und noch einmal so viele Schüler der unteren Jahrgänge nutzten die entfallene Alchimiestunde, um den Älteren zuzusehen.
Kampfzauber wurden in Rand nur rudimentär gelehrt, gerade einmal das Nötigste. Kraft und Gewandtheit zählten nicht zu den Stärken der angehenden Zauberer. Wer als feuerspeiender Kampfmagier den Ausgang einer Schlacht beeinflussen wollte, war in Bethan besser aufgehoben. Dennoch sollte jeder Weißmagier in der Lage sein, sich zu verteidigen.
Oft war es schwierig, die Schützlinge für den Kampfunterricht zu begeistern und Magister Romero Likandros war dankbar, dass ihm Ran zur Seite stand, ein ehemaliger Küchenbediensteter, dessen athletischer Körper für den Nahkampf wie geschaffen war. Der junge Mann war ein respektabler Stockfechter und übte gerne mit den Novizen.
Magister Likandros ergriff das Wort: „Heute lernen wir, uns gegen eine Entwaffnung zu wehren. Dies ist für Magier von eminenter Bedeutung, da wir mit dem Zauberstab nicht nur unsere Waffe, sondern auch unser wichtigstes Werkzeug verlieren. Ran wird die Entwaffnung vorführen, ehe Ihr Euch mit den Abwehrmaßnahmen vertraut macht. Freiwillige?“
Ardana meldete sich sofort. Die schwarzhaarige Novizin war eine miserable Kämpferin, hatte aber ein Auge auf Ran geworfen. Seitdem ließ sie keine Gelegenheit aus, um den körperlichen Kontakt während der Fechtstunden zu nutzen. Die junge Frau trat vor, packte ihren Stab mit beiden Händen und nahm die typische Verteidigungsstellung ein.
Ran setzte die Bewegungen langsam an. Finte von rechts, Unterlaufen der Deckung, seitliches Hineingehen in die Gegnerin, ein kurzer Druck auf den Stab der Kontrahentin, ein leichten Schlag auf das linke Handgelenk und der Zauberstab der Novizin flog zur Seite. Ardana sprang ihren Gegner an und versuchte einen Würgegriff, doch angesichts Rans körperlicher Überlegenheit war der Angriff zum Scheitern verurteilt. Schließlich ergab sie sich kichernd seinem Festhaltegriff.
Magister Likandros beendete die Balgerei. „Mehr Ernsthaftigkeit bitte, wir machen das hier nicht zum Spaß. Ardana, das war erbärmlich. Im Ernstfall wär’s jetzt um Dich geschehen.“
„Das ist es auch so“, bemerkte jemand. Unter dem folgenden Gelächter lief die Novizin lief rot an wie eine Tomate.
Einer nach dem Anderen versuchte, sich gegen die Entwaffnung zu verteidigen, aber selten gelang es Einem, auch nur dem ersten Angriff zu widerstehen.
Schließlich unterbrach Magister Likandros die fruchtlosen Bemühungen. „Danke, Ran, sehr gut. Wie wir gesehen haben, sind unsere Aussichten gegen einen erfahrenen Kämpfer schlecht. Das wird mit zunehmender Übung zwar besser, aber Euren grundlegenden Nachteil, die fehlende Kraft, könnt Ihr damit nicht ausgleichen. Im Ernstfall sind wir daher auf unsere magischen Fähigkeiten angewiesen. Dabei stehen uns viele Optionen zur Verfügung, einen Kampf zu unseren Gunsten zu beeinflussen. Lasst Eure Phantasie spielen. Da Ihr während des Kampfes keine Zeit zum Nachdenken haben werdet, solltet Ihr Euch vorher Strategien überlegen, die Ihr anschließend erproben könnt.“
Magister Geron trat heran, der seine Klasse suchte. Die Mädchen und Jungen versuchten, ihn davon zu überzeugen, wie wichtig praktische Erfahrung im Kampf wäre, wenn es darum ginge sich den verachteten Schwarzen zu stellen. Lächelnd gab der Professor nach und setzte sich zu seinen Schülern ins Gras. Es konnte nicht schaden, den herrlichen Spätsommertag ausnahmsweise außerhalb der Studierstube zu genießen.
Hinrik war der Erste, der sich Ran stellte. „Schildwand“, murmelte er, während seine Linke eine flächige Bewegung vor seinem Körper vollführte. Die Finten und Entwaffnungsversuche seines Gegners wurden von der magischen Wand abgefangen und liefen ins Leere. Er konnte sogar einen eigenen Angriff einleiten, doch dann stellte sich Ran auf die Situation ein. Mit wenigen, wuchtig geführten Schlägen zertrümmerte er die unsichtbare Barriere. Als sie plötzlich nachgab, konnte er seinen letzten Hieb nur mit Mühe abfangen.
„Sehr gut, Hinrik.“ Magister Likandros klatschte Beifall. „Die Schildwand ist gut als kurzfristige Verteidigung geeignet und verschafft Euch Zeit, Euer Vorgehen zu überdenken. Ran hat Erfahrung im Kampf gegen Magier und konnte sich rasch auf Deine Abwehr einstellen, aber andere Gegner brauchen dafür länger. Wie Ihr gesehen habt, bricht die magische Schutzwand schlagartig ein. Mit etwas Erfahrung könnt Ihr dieses Nachgeben rechtzeitig spüren, damit Ihr nicht davon überrascht werdet, wie Hinrik eben. Der Nächste bitte.“
Ardana wollte es diesmal besonders gut machen. „Können wir noch einmal die Entwaffnung üben?“ fragte sie Ran. Als er nickte, murmelte sie: „Festkleben“.
Er setzte das gleiche Manöver an wie zuvor, und diesmal ließ sie nicht locker. Stattdessen verlor sie aber ihr Gleichgewicht und konnte sich gerade noch abfangen. Ran setzte mehrere Kombinationen an, aber da ihre Hände am Stab klebten, konnte sie weder umgreifen noch parieren und mehrmals stoppte er seinen Stab knapp vor ihrem Körper. Viele der Hiebe und Stöße hätten im Kampf kritische Verletzungen verursacht. Als er schließlich von ihr abließ, flackerte leises Kichern auf, während sie betreten zu Boden sah.
„Ruhe“, befahl Magister Likandros. „Genau deshalb üben wir das. Die Idee war nicht schlecht, aber die Wirkung war verheerend.“ Seine beiläufige Handbewegung beendete Ardanas Zauber. „Weitermachen.“
Einige kopierten Hinriks Taktik, aber kaum einem gelang eine ausreichend widerstandsfähige Barriere. Andere probierten eigene Ideen und Bertan hatte schließlich Erfolg. Sein Zauber blockierte Rans Stab, sodass dieser keinen wirksamen Angriff führen konnte, aber auf Grund seiner fehlenden Kampferfahrung konnte er keine eigene Attacke einleiten. Als er es doch versuchte, ließ Ran seinen eigenen, nutzlosen Stab los, packte den seines Gegners und überwältigte den Novizen. Diesmal applaudierte sogar Ran. Alle waren sich einig, dass Bertan heute am besten abgeschnitten hatte.
Die Stimmung bei den Übungsstunden war selten so gut, die Novizen hatten aktiv mitgemacht und Magister Likandros war guter Laune. Als er an den Jüngeren vorbeikam, lächelte er: „Habt ihr noch Ideen?“
Die Frage war nicht ernst gemeint und so stutzte er, als sich tatsächlich eine Schülerin meldete: „Ich würde es gerne probieren.“
Hübsches blondes Ding, dachte er, Semira oder so ähnlich. Er selbst unterrichtete die älteren Jahrgänge und kannte sie nur vom Sehen. Einige der Kollegen beschrieben sie als begabt und extrem ehrgeizig, aber sie konnte so gut wie keine Erfahrung im Kampf haben.
„Vielleicht ein anderes Mal“, schlug er freundlich vor.
„Nein, jetzt“, erwiderte sie entschlossen.
Die Augen der Schüler und Novizen ruhten auf ihm und er konnte nur schwer zurück. Selbst Ran bleib neugierig stehen. „Na gut“, lenkte der Magier ein. „Soll Dir jemand seinen Stab borgen?“
„Nein, es geht auch so.“ Sie musterte ihn aus klaren grünen Augen.
Da komm ich nicht mehr aus, dachte er. „Tu ihr nicht weh“, flüsterte er Ran zu, als er den Kampfplatz freigab.
Das Mädchen nahm eine unbeholfene Verteidigungsstellung ein und ermutigte ihren Gegner zum Angriff. „Hitze“, flüsterte sie, als er zustieß und das einzelne Wort hallte gespenstisch weit über den Platz. Mit einem Aufschrei ließ Ran seinen Kampfstab fallen und presste die Hände gegen seinen Körper. Eine plötzliche Bewegung ließ in hochfahren, doch Semiras spitzer Ellbogen stoppte eine Fingerbreite vor seiner Nase.
„Darf ich?“ fragte die Kleine und begann mit der Heilung von Rans verbrannten Handflächen, ehe Romero auch nur den Mund aufbrachte.
* * *
Als die Sonne den westlichen Horizont berührte, standen die zwei Lehrer noch immer bei der Platane und stritten heftig. Lange schon saßen die Schüler beim Abendmahl, alle außer Semira, die Magister Geron zu einer Nacht Einzelarrest verdonnert hatte. „Sie ist eine verdammte Schwarzmagierin“, geiferte er. „Den verfluchten Zauber hat sie sicher nicht von mir gelernt.“
„Sie ist ein Kind! Ihr hättet ihr zumindest erklären müssen, warum Ihr sie bestraft!“, brüllte Magister Likandros.
„Das weiß sie ganz genau“, gab der Ältere stur zurück. „Aber ich treibe ihr die Flausen aus. Lasst Euch bloß nicht von ihrem unschuldigen Puppengesicht täuschen.“
Das ging zu weit. Der unkonventionelle Einfall des Mädchens ließ sich zwar nicht auf dokumentierte Taktiken der Gilde zurückführen, hätte in einem ernsthaften Kampf aber gute Aussichten auf einen raschen Erfolg. Romero Likandros schluckte seine Entgegnung hinunter und ließ sein Gegenüber stehen. Was die Bedrohung durch unkontrollierte Zauberei und die Angehörigen der Schwarzen Gilde betraf, war Geron ein Fanatiker und jede Diskussion über dieses Thema war zwecklos. Romero hasste es, wenn ihm seine Laune so gründlich verdorben wurde.
* * *
Torin Kupferkrug, Schankbursche im Kupferkrug zu Bethan
Die Mauer, auf der die Kinder saßen, hatte einst die Rückwand eines Lagerhauses gebildet, bis dieses einer Verbreiterung des Kais zum Opfer gefallen war. Heute diente das Mauerwerk als Stütze für den Hang, der die Ausbreitung des Hafens begrenzte. Neuerdings war sie aber auch jener Platz, an dem Torin Kupferkrug seine spärlichen freien Stunden verbrachte. Mit ihren fast fünf Schritt Höhe bot sie einen guten Überblick den Hafen. Von hier sah er, ob bei einem der Schiffe Helfer für Stauarbeiten benötigt wurden. Ein geschickter und kräftiger Junge wie Torin wurde gerne eingestellt und so verdiente er sich die eine oder andere Kupfermünze dazu.
Heute wartete er auf Sylva. Seit jenem Nachmittag, an dem sie ihm zu Hilfe geeilt war, verband ihn mit ihr eine innige Freundschaft. Er genoss die Plaudereien mit dem Mädchen, das sich so wohltuend von den anderen, meist arroganten Zauberschülern unterschied. Endlich erkannte er ihre hoch aufgeschossene Gestalt, deren weiße Kutte sich von dem bunten Treiben am Kai abhob. Sie winkte ihm und beschleunigte ihre Schritte. Flink wie eine Eidechse kletterte sie die rissige Steinwand hinauf.
Torin streckte ihr seinen Arm entgegen, um sie hochzuziehen. „Du bist spät. Ich dachte schon, Du würdest nicht mehr kommen.“
„Ich musste nachsitzen. Zarif, die alte Magiersprache, trockenes Zeug und ziemlich verstaubt.“ Sylvas Atem beruhigte sich nur langsam, da sie den größten Teil des Weges von der Akademie gerannt war.
„Schön, dass Du es noch geschafft hast. Ich muss Dir was erzählen.“
„Leg’ los.“ Erwartungsvoll sah sie ihn an.
„Ich will zur Stadtgarde“, platzte er heraus. „Stark genug bin ich, und es ist ein gutes Auskommen.“
Lange hatte er über seinem Entschluss gegrübelt. Seit er denken konnte, war klar, dass er das Wirtshaus seines Vaters übernehmen würde, aber jetzt wusste er es besser. Obwohl Bethan als sichere Stadt galt, gab es im Hafenviertel, in dem auch der Kupferkrug stand, genügend Zwischenfälle, bei denen das Recht des Stärkeren entschied. Er hatte das immer als natürlichen Bestandteil seiner Welt akzeptiert, aber Sylva hatte ihm gezeigt, dass man nicht alles hinnehmen musste.
Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Wieso?“
„Deinetwegen. Du hast Dich für mich eingesetzt. Du weißt immer, was Du willst.“
„Ich weiß nicht einmal, wer ich bin“, sagte Sylva nachdenklich und fischte das Amulett hervor, dass sie Zeitlebens um den Hals trug. „Vielleicht sagt mir dieses Ding irgendwann, wo ich herkomme oder wer meine Eltern waren.“ Ihre Finger glitten über die einfachen und zugleich verwirrend verschlungenen Verzierungen des Schmuckstückes.
„Darf ich mal?“ Torin streckte die Hand aus.
„Kannst es Dir gerne ansehen, aber ich kann es nicht abnehmen.“ Sylva neigte sich ihm entgegen, damit er einen Blick darauf werfen konnte.
„Wie, es lässt sich nicht abnehmen?“
„Magisches Zeugs“, lachte die Freundin. „Geht vielleicht an meinem einundzwanzigsten Geburtstag auf, hat die Vorsteherin gesagt. Was drinnen ist, weiß sie auch nicht, und ich soll’s nicht jedem zeigen. Aber Du bist ja nicht Jeder. Ich glaube, sie hätten es sogar aufbekommen, die Lehrer, aber das wäre wohl kaum der Sinn gewesen.“
„Du weißt nichts über Deine Eltern?“
„Wahrscheinlich sind sie tot, aber nicht einmal das ist sicher.“
Torin spürte das Zittern in ihrer Stimme und ergriff ihre Hand. „Du gehst auf eine gute Schule. Sie haben für Dich gesorgt“, versuchte er sie zu trösten.
* * *
Eine gute Zehntelstunde saßen sie schweigend nebeneinander und sahen in den Abendhimmel. „Möchtest Du denn eine Zauberin werden?“, brach Torin das Schweigen.
Sylva sah ihn irritiert an. Die Frage war ihr noch nie in den Sinn gekommen. Magisch Begabte mussten sich einer Ausbildung unterziehen, wenn sie nicht zu einer Gefahr für sich selbst und ihre Umgebung werden wollten. Die Lehrer wiesen regelmäßig darauf hin, wie wichtig es war, die Gabe der Magie rechtzeitig zu erkennen und zu formen, ehe sie sich entfaltete.
„Diese alten Formeln und Schriften zu lernen ist schon langweilig. Thesen, Lehrsätze und Axiome können ordentlich nerven, aber nichts ist aufregender, als das Zaubern. Wenn sich die magischen Flüsse nach deinem Willen formen, wenn du spürst, wie die Elemente gehorchen und den Strom der Wirklichkeit verändern, fühlst du eine Kraft in dir, die mit nichts zu vergleichen ist.“
Er verstand nur wenig, doch in Ihren Augen leuchtete Begeisterung. „Ja, ich werde gerne Magierin“, brachte sie die Sache auf den Punkt.
„Was machst Du, wenn Du fertig bist?“, wollte er wissen.
„Die Besten kommen zur Garde und werden Kaiser Polanas direkt unterstellt. Das ist eine Ehrenposition für jeden Magier, aber ich muss mich anstrengen, wenn ich das schaffen will.“
„Warum? Du schlägst doch jeden Deines Jahrgangs.“
„Nur bei der Kampfzauberei. Da fühl ich mich sicher und das kann ich gut. Aber es gibt so Vieles, womit ich mich schwer tue. Analysen und Hellsicht zum Beispiel, da fehlt mir die Geduld. Die Theorie ist wichtig, aber ich kann mich nur schwer darauf konzentrieren.“
Sylva legte eine Pause ein, aber Torin schwieg, bis sie fortfuhr: „Ich werde wohl als Begleitschutz für Kaufleute meinen Unterhalt verdienen, bei den großen Karawanen oder auf einem Handelsschiff. Da komme ich herum und werde viel von unserer Welt sehen. Magister Reimer hat das ähnlich gemacht, bevor er Lehrer wurde.“
Torin sah einem besonders schönen Zweimaster nach, dessen modern wirkende Takelung von der Abendsonne in unwirkliches Licht getaucht wurde. Wo der wohl hinfährt?
„Weiß es Dein Vater schon?“
„Was?“
„Das mit der Stadtgarde.“
Der Junge schüttelte den Kopf. Seine Eltern wären nicht begeistert, aber sie würden seinen Entschluss verstehen. Er hatte drei jüngere Geschwister, die den Kupferkrug fortführen konnten. „Nein, ich wollte zuerst mit Dir darüber reden.“
„Ich find’s gut. Schadet nicht, wenn hier ein richtiger Mann für Ordnung sorgt.“
Torin musterte die Freundin, doch sie starrte unverwandt über das Hafenbecken. Vergeblich versuchte er herauszufinden, ob der richtige Mann spöttisch gemeint war. Sie sah ihn an und prustete los.
„Was?“, fragte er genervt.
Sie strahlte ihn an. „Schon gut. Ich meine das ernst, und ich freu mich für Dich.“
Torins Gedanken wanderten zum Hof der gräflichen Residenz. Oder zu dem, was er sich darunter vorstellte. Als Sohn eines Gastwirtes hatte er das Schloss noch nie von innen gesehen, doch er sah sich schon in gräflicher Uniform mit blankem Säbel und blitzendem Harnisch, wie er den Morgenappell der Wache abnahm. In seiner Stadt hätte das Gesindel nichts mehr zu melden, das war klar.
„Steht Dir sicher gut“, unterbrach Sylva seine Träumerei.
„Was?“
„Die Uniform. Das Grün passt gut zu Deinen braunen Haaren.“ Sie strich ihm das Haar aus dem Gesicht und musterte ihn.
„Typisch Mädchen, immer nur Äußerlichkeiten im hübschen Kopf.“
Ein spitzer Ellbogen traf seine Rippen, aber ehe er reagieren konnte, sprang sie mit einem eleganten Satz in die Tiefe.
Na toll, dachte er, als er an das unebene Pflaster fast fünf Schritt unter seinen Füßen dachte. Sitzenbleiben wie ein Feigling kam ebenso wenig in Frage, wie langsam hinterher zu klettern.
Kaum war er unten gelandet, hörte er „Fang!“ Instinktiv griff nach der fast körperlangen Stange, die auf ihn zuflog. Es war der Teil einer abgebrochenen Außenrah, deren Abmessungen einem Kampfstab ähnelten. „Dir werde ich ein paar Äußerlichkeiten zeigen“, rief Sylva und ließ ihren eigenen Stecken kreisen.
Das Mädchen war im letzten Jahr gewachsen und nur noch ein wenig kleiner als er, aber er war zwei Jahre älter und deutlich stärker. Bisher hatte sie in den Übungskämpfen wenige Chancen gehabt, doch in den letzten Wochen war sie gewandter und schneller geworden.
Er kannte seine Freundin gut und ihr entschlossener Gesichtsausdruck warnte ihn vor ihrem Angriff. Er parierte und antwortete mit einer Serie von Gegenschlägen. So leicht kriegst Du mich nicht, dachte er und stieß den Stab mehrmals gerade vor, bis er sie in eine ungünstige Position drängte. Mit einer flinken Drehung seines Stocks ließ er das andere Ende von unten vorschnellen, doch sie konterte mit einer Parade, die ihm beinahe das Holz aus der Hand prellte.
Holla, schon wieder so ein Trick aus der Akademie.
Noch einmal verleitete sie ihn zu einem Vorstoß. Wieder versuchte sie den neuen Schlag, doch diesmal war er darauf vorbereitet. Er unterlief ihre Verteidigung und legte seine ganze Kraft in den Hieb, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Diesmal parierte sie unentschlossen und sein Stock prallte hart auf ihr Handgelenk. Sie sprang zurück und nahm eine Abwehrposition ein, aber Torin ließ den Stab sinken.
„Hab’ ich Dir wehgetan?“
„Es geht“, antwortete sie gepresst.
„Nein, tut es nicht“, meinte Torin, dem ihre schmerzverzerrte Miene nicht entging. „Lass mal sehen.“ Er sah sich ihr Handgelenk an, das eine tiefblaue Färbung annahm und rasch anschwoll.
„Ist nicht schlimmer, als eine Schreibstunde bei der Südfahrer“, grinste Sylva, zuckte bei seiner Berührung aber zusammen.
„Kannst Du so etwas, wie Dein Lehrer? Diesen Heilzauber?“
„Ein wenig, aber wir dürfen ihn nur unter Aufsicht anwenden. Ist nicht schön, wenn der schief geht.“
„Die sollen sich auf jeden Fall anschauen, ob der Knochen in Ordnung ist, hast Du mich verstanden?“ Eindringlich musterte Torin die Freundin. Ihre Sturheit, oder, wie sie es ausdrückte Beharrlichkeit, kannte er zur Genüge. „Du könntest die Heilung an Dir selbst üben, mit einem Lehrer dabei meine ich.“
„Gut, mach ich. Aber es wird schon dunkel und ich muss sowieso gehen.“
Der Junge fasste das Mädchen an den Oberarmen und sah ihr ins Gesicht. „Ich muss auch los. Pass auf Dich auf.“
„Du auch.“
Sie drehte sich um, huschte davon und verschwand in der Menge. Torin machte sich auf den Weg zum Kupferkrug. Sein Vater und etliche durstige Gäste würden schon auf eine zusätzliche Schankhilfe warten.
* * *