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Verbotenes Wissen
ОглавлениеJahr 24 des Kaisers Polanas, Frühling
Geron der Wandler, Magister und Lehrmeister an der Akademie zu Rand
„Darrian!“ Gerons Stimme hallte durch die nächtliche Bibliothek. Zögernd schob sich eine schlaksige Gestalt zwischen den Regalen hervor. „Was machst Du hier?“ herrschte der Magier den Novizen an.
„Ich wollte etwas nachlesen.“
„Und das wäre?“ Darrians schwankende Stimme entging dem Lehrer nicht. Er unterrichtete seit dreißig Jahren und kannte alle Anwandlungen und Streiche der angehenden Magier. Zuletzt hatte man ihn vor fünfzehn Jahren erfolgreich hinters Licht geführt, doch damals hatte sich die Novizin durch ihre Prahlerei selbst verraten.
„Ich, ich ...“, stammelte der Schüler. Sein Gesicht lief rot an. „Ich habe die, ... die Thesis zum Beenden metallischer Verwandlungen gesucht.“
Der Zauberer glaubte ihm kein Wort, ging aber auf die fadenscheinige Erklärung ein. „Du solltest im Schlafsaal sein. Was denkst Du Dir dabei, Nächtens durch die Bibliothek zu streifen?“
„Ich habe wach gelegen und über einem Problem gegrübelt, aber ich bin zu keinem logischen Schluss gekommen, wieso sich die Struktur der Materie dabei abkühlt.“
„Und welches Buch, glaubtest Du, würde Dich weiter bringen?“ Er nahm Schärfe aus seiner Stimme, um den Jungen in Sicherheit zu wiegen.
„Ich dachte an das Lexikon der ungeordneten Verwandlungen. Da wollte ich die Einleitung zu den Metallischen Reflexionen nachlesen.“ Darrian fühlte sich jetzt auf sicherem Boden.
Magister Geron musterte ihn abschätzig. Warum glaubten diese Kinder, ihm jeden Unsinn auftischen zu können. „Wo steckt Deine Freundin?“ Er sprach leise und ließ einen drohenden Unterton einfließen.
„Wer?“ Aufkeimende Panik flackerte in den Augen des Novizen. Er würde bald auspacken.
„Semira, wer sonst. Das hat sie Dir doch in den Kopf gesetzt.“
„Ich weiß nicht, was Ihr meint. Semira hat geschlafen, als ich aus dem Saal geschlichen bin.“
„Lüg‘ mich nicht an!“ Geron hasste es, wenn sich jemand so dumm anstellte. „Ich glaube nicht, dass Du in den Mädchensaal gehst und nachsiehst, wer schläft, bevor Du durch die Schule schleichst. Vielleicht wird aus Dir irgendwann ein leidlich guter Zauberer, aber von den Metallischen Reflexionen hast Du nicht den Funken einer Ahnung.“
Sein Gegenüber schwieg eingeschüchtert. Geron kannte Darrian als ehrgeizigen, aber nicht sonderlich begabten Schüler. Er musste nur noch seine Eifersucht schüren, und der Novize würde die Wahrheit ausspucken. „Im Gegensatz zu Dir, kennt sich Semira mit der Theorie der magischen Verwandlungen bestens aus, obwohl Sie zwei Jahrgänge unter Dir ist.“
Der junge Novize starrte zu Boden und seine Kiefer mahlten.
„Dich benutzt sie als Alibi, während sie sich Zugang zu weiterführendem Wissen verschafft.“ Darrian knickte ein und Geron war am Ziel. „Ich gehe nicht davon aus, dass sie ihre Erkenntnisse mit Dir teilt. Das Mädchen teilt mit niemandem.“
Er hatte seit langem ein Auge auf Semira. Sie würde sich den Regeln der weißen Magie niemals beugen, doch es war ihm weder gelungen, sie von der Notwendigkeit jener Grenzen zu überzeugen, noch sie einer Verfehlung zu überführen – bis heute.
„Also, wo steckt das Luder?“ Darrian schwieg, aber sein Blick wanderte die Regale entlang bis zu der Türe am Ende der Bibliothek, hinter der die Bücher mit dem bedenklichen oder gar verbotenen Wissen aufbewahrt wurden.
Gerons Stimmung schlug um. Tiefer, rechtschaffener Zorn stieg in ihm auf. Es gab hunderte von Gründen, dieses Wissen vor den noch ungefestigten Schülern und Novizen zu verbergen und er kannte die Verlockungen, die von einem leichtfertigen Umgang mit der Magie ausgingen. Er hatte miterlebt, wie Schüler dieser Versuchung erlagen und nur unter massivem Einsatz der Lehrer wieder auf den rechten Weg zurückgeführt werden konnten.
Ein einziges Mal hatte er einen Novizen an eine Schwarze Schule verloren. Das sorgfältig gehütete Wissen war dort mit Begeisterung aufgenommen und ausgebeutet worden. Seit diesem Vorfall betrachtete er das vollständige Ausbrennen der magischen Energien und Fähigkeiten aus einem undisziplinierten Schüler nicht als drakonische Strafe, sondern als harte, aber notwendige Maßnahme, um die Welt vor übereifrigen, egozentrischen Magiern undefinierter oder gar verdorbener Geisteshaltung zu schützen.
„Geh in Dein Quartier“, herrschte er den Schüler an. „Wir sprechen uns morgen.“
Darrian rauschte erleichtert ab.
* * *
Die Türe zur Kammer der verbotenen Bücher war tatsächlich unversperrt. Geron zögerte. Vermutlich sollte er jetzt andere Professoren wecken und Magistra Varna, die Akademieleiterin verständigen. Andererseits handelte es sich nur um eine dreizehnjährige Göre mit übersteigertem Selbstbewusstsein.
Entschlossen trat er in die Dunkelheit. Er schloss die Türe hinter sich und aktivierte das magische Licht seines Zauberstabes. Der Schein tauchte die dunklen Schränke und Regale in unwirkliches Licht. Der Raum lag verlassen vor ihm und er konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Einer Eingebung folgend wandte er sich noch einmal zur Türe und versiegelte sie mit einem Verschlusszauber. Die nächste Stunde käme hier niemand herein oder hinaus.
Sorgfältig suchte er die Gänge zwischen den Regalen ab. Sein Blick glitt über die teils neuwertigen, teils vergilbten Buchrücken. Es waren nicht die streng verbotenen Schriften, die in den dunklen Schränken an der Rückwand des Raumes verwahrt waren. Die zogen nur verderbte Schwarzmagier und Beschwörer an, kranke Geister, die durch nichts mehr zu retten waren. Nein, die wirklich gefährlichen Machwerke gaukelten einem unbedarften Leser freien Zugang zu den magischen Künsten und eine unbegrenzte Lehre vor. Sie brachten ihn unweigerlich vom rechten Wege ab, ohne ihre schädliche Wirkung zu offenbaren. Solche Bücher stachelten die Neugier der Schüler an und versprachen ein Wissen, das nur unter Aufgabe der strikten Grundsätze der weißen Lehre verfügbar wurde. Geron hatte nie verstanden, warum solche Bücher aufbewahrt wurden. Ginge es nach ihm, wäre all das schon längst den Flammen übergeben worden.
„Was in TANIS Namen macht Ihr hier?“
Der Magier schrak hoch. Zwei Schritt vor ihm stand die Akademieleiterin und musterte ihn kühl. Verdammt, ich werde zu alt für so etwas, dachte er. Sein Herz pochte.
„Ich höre?“ Magistra Varna trat näher.
„Ich habe verdächtige Geräusche gehört und einen Schüler erwischt.“, rechtfertigte er sich.
„Wirklich?“, fragte sie zweifelnd. „Wer ist es denn?“
„Darrian, aber ich weiß, dass diese Semira dahintersteckt. Deshalb wollte ich diesen Bereich inspizieren.“
„Mein lieber Magister, Ihr verrennt Euch. Ihr schätzt die Schülerin nicht sonderlich, aber versucht zumindest, objektiv zu bleiben. Jedes Mal, wenn Euch etwas nicht passt, soll dieses Mädchen daran schuld sein?“
„Ich habe meine Gründe. Darrian hat ...“
Sie fiel ihm ins Wort. „Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt. Kümmert Euch um den Schüler. Und zwar morgen.“
Geron war wie erschlagen. Er hatte immer versucht, die jüngere Schulleiterin zu respektieren, auch wenn sie in vielen Dingen anderer Meinung waren. Aber dass sie ihn jetzt abkanzelte wie einen Novizen, ging entschieden zu weit. Darrian hatte Semiras Verwicklung quasi eingestanden, und darauf wollte er Magistra Varna hinweisen, doch sie wandte sich ab und marschierte zur Türe. Gerade wollte er sie auf den Verschlusszauber hinweisen, als sie bereits an der Schnalle rüttelte.
Sie fuhr herum und funkelte in zornig an. „Magister, das ist nicht komisch. Meint Ihr, mir bliebe verborgen, dass Ihr mich mit Euren Augen verschlingt, sobald Ihr denkt, ich merkte es nicht. Das hier ist mir zu plump und Eurer nicht würdig. Wieso denkt Ihr, mich mit dieser nächtlichen Einlage beeindrucken zu können?“
„Ich …“
Sie wurde laut. „Wenn Ihr wünscht mir den Hof zu machen, dann tut es! Aber tut es wie ein Mann! Genug jetzt! Beendet diese Farce und öffnet die Türe, bevor ich darüber nachdenke, wieso Ihr Euch mit den verbotenen Büchern einschließt.“
Geron hob seinen Stab und konzentrierte sich. Er hatte viel Kraft in den Zauber gelegt, und es würde noch mehr Energie kosten, ihn vorzeitig zu beenden, aber er hatte etwas anderes im Sinn.
„Ende der Verzauberung.“ Wie immer waren die gesprochenen Worte von untergeordneter Bedeutung. Der Zauber wurde von der Kraft der Gedanken gelenkt – und sein Fokus galt nicht dem Schloss. Noch einmal rüttelte sie an der Türe, doch die war nach wie vor versperrt. Wütend drehte sie sich um und hielt erschrocken inne. Jetzt musste sie zu ihm aufsehen – so, wie sie das aus dem Unterricht gewohnt war.
„Das kostet Dich Deinen hübschen Kopf“, bemerkte Geron zufrieden. „Du hast gegen ein halbes Dutzend Schulregeln verstoßen und das wird für einen Ausschluss genügen. Wir sehen uns im Büro der Rektorin. Ich denke, es wird sie interessieren, dass sie eine Doppelgängerin hat. Nicht wahr, Semira?“
Die Schülerin senkte den Kopf und ihre arrogante Selbstsicherheit fiel in sich zusammen. Eine Träne schimmerte in ihrem Auge, verstärkte die smaragdgrüne Färbung der Iris zu irritierender Intensität. In Geron stieg eine Welle tiefen Mitgefühls auf. Auch er hatte unter seiner Einsamkeit und dem Unverständnis von Lehrern und Mitschülern gelitten. War ein gesundes Maß an Neugier nicht eine Voraussetzung für jeden guten Magier. So gesehen, war der Täuschungsversuch der Schülerin entschuldbar. Vielleicht sollte er auf die Meldung verz….
Peng! Gerons Zauberstab knallte auf den Steinboden und Semiras Bande fielen von ihm ab. Unfassbar! Das Gör hatte tatsächlich die Frechheit, ihn, den erfahrenen Meister, mit einem Beeinflussungsspruch auf ihre Seite zu ziehen. Sie besaß die Unverfrorenheit, seine geschulten Barrieren durchbrechen zu wollen, doch mehr als das verstörte ihn die Erkenntnis, dass es ihr beinahe gelungen wäre.
„Ein Grund mehr die Bedrohung ein für alle Mal zu beseitigen“, murmelte er in seinen Bart, während er die aufsässige Schülerin in der Arrestzelle neben dem Pförtner einschloss. Höchste Zeit, da Nägel mit Köpfen zu machen. Während er zu seinem Zimmer schlurfte, überdachte er bereits seine Strategie für das Disziplinarverfahren.
* * *
Zufrieden ließ Magister Geron seinen Blick durch den Beratungssaal schweifen. An den dunkel getäfelten Wänden hingen die Portraits früherer Akademieleiter, deren Gesichter jene überlegene Gelassenheit zeigten, die das versammelte Kollegium gerade vermissen ließ. Sein Bericht über die letzte Nacht löste Bestürzung und Empörung aus und die Zauberer debattierten wild durcheinander. Drei Mal stieß er seinen Zauberstab auf das Parkett, bis ihm die Aufmerksamkeit zuteil wurde, die sein sorgfältig vorbereitetes Finale verdiente.
„Zusammenfassend muss ich das Verhalten der Schülerin Semira als verschlagen, selbstsüchtig und manipulativ charakterisieren. Sie kennt weder Moral noch Grenzen und zeigt ein manisches Interesse an verbotenem Wissen und schwarzer Magie. Die bisher getätigten Ermahnungen und Disziplinierungen waren wirkungslos und die Schülerin hat sich wiederholt als unbelehrbar erwiesen. Die aktive Anwendung von Magie gegen ein Mitglied des Lehrkörpers ist ein unentschuldbares Vergehen. Nachsicht würde dem Ansehen und der Autorität des gesamten Kollegiums einen irreparablen Schaden zufügen. Ich beantrage den vollständigen Ausschluss von dieser und jeder anderen Akademie sowie jedweder Ausbildung und Lehre auf Lebenszeit.“
Zufrieden ließ sich Geron in den gut gepolsterten Ledersessel sinken. Sein Blick blieb an der Rektorin hängen. Ich weiß, dass Du die Kleine schützen willst, dachte er grimmig, aber diesmal ist das Gör dran.
Der Rest der Verhandlung lief wie geplant. Sein Bericht hatte die Stimmung aufgeheizt, und seine profunde Kenntnis der Schulordnung und der Codizes der Gilde vereitelten vereinzelte Versuche Semiras Vergehen zu verharmlosen. Magistra Varna hielt sich klugerweise zurück. Sie versuchte erst gar nicht, etwas zu beschönigen.
Rowina Schmied hatte an der Schülerin sichtlich einen Narren gefressen. Halbherzig stellte sie sich jetzt vor ihren Schützling: „Semiras Verfehlungen sind offensichtlich, aber führt das nicht zu einer unkontrollierbaren Entwicklung? Aus diesem Grund würde ich eine strengere Erziehung der Schülerin einem Ausschluss vorziehen.“
Sehenden Auges war die junge Kollegin in seine Falle getappt und Geron zog die Schlinge zu: „Gut, dass Ihr die Problematik ansprecht, Frau Kollegin. Angesichts der verbrecherischen Neigungen dieses Individuums besteht ein beträchtliches Risiko, dass sie sich der schwarzen Gilde oder einer noch verwerflicheren Gemeinschaft zuwendet.“
Eine kunstvoll gesetzte Pause gab dem anschwellenden Raunen Raum. Dann hob er den Arm und fuhr fort: „Dahingehend pflichte ich unserer jungen Kollegin bei und wäre auch geneigt, selbiges Ansinnen zu unterstützen, aber ein Verbleib einer Schülerin mit nachweislich schwarzmagischen Ambitionen ist nach dem vierten Ergänzungstext zum Kapitel dreizehn des Codex Alburium ausgeschlossen. Schweren Herzens muss ich daher den Bedenken dahingehend stattgeben, als die von besagter Schülerin ausgehende Gefahr nur durch die vollständige Expurgation ihrer magischen Kräfte und Begabungen getilgt werden kann.“
Magistra Schmied erbleichte, doch Geron nahm das zustimmende Gemurmel mit Genugtuung zur Kenntnis.
* * *
Semira
Zwei Geschoße tiefer, in den Kellergewölben, verlor Semira jegliche Farbe. Ihre Finger krallten sich in den rauen Bruchstein der Fundamente. Natürlich hatte sie mit einer Bestrafung gerechnet. Das gehörte zu dem Spiel um Macht und Wissen, das sie an der Akademie zu spielen gelernt hatte. Sie kannte Geron als erbitterten Gegner, aber ein derartiges Exempel überstieg ihre schlimmsten Befürchtungen. Expurgation, hallte das Wort in ihr nach, die totale Löschung jeder magischen Faser und Fähigkeit. Nach dem Wenigen, was sie darüber gelesen hatte, musste der Prozess äußerst schmerzhaft sein, doch das wäre zu ertragen. Den Verlust des Zauberns, die Vernichtung jenes Teils, der ihre Identität darstellte, war allerdings schlimmer als der Tod.
Die Schallverstärkung auf den Beratungssaal zu fokussieren, war kräfteraubend, und die lange Dauer der Verhandlung erschöpfte sie zunehmend, aber sie war nicht willens, die Verbindung abzubrechen. Bereitwillig öffnete sie die Pforte zwischen Körper und Geist, die ihre magischen Ströme mit der Kraft ihres Lebens speisten.
* * *
Geron der Wandler
Geron genoss seinen Triumph. Letzte Vorstöße Einzelner, die Strafe abzumildern, waren zum Scheitern verurteilt, und Magistra Varna würde in Kürze das Urteil verkünden, das die magische Welt vor einer unkalkulierbaren Bedrohung bewahrte.
Schließlich erhob sich die Rektorin und sprach die rituelle Formel, die ihrem Rang als oberste Richterin bei internen Fragen der Akademie entsprach und dem folgenden Urteil unumstößliche Geltung verschafften: „Codex Alburis Prädictum et Rectora Prima!“
Das Gemurmel erstarb.
„Wir, Magistra Elida Varna Sternseherin, Rektorin der weißen Akademie der Wandlung zu Rand, erlassen in der Sache Semira folgenden Spruch: Besagte Schülerin wird der Anwendung von Magie gegen Mitglieder des Lehrkörpers sowie der Aneignung ungebührlichen Wissens für schuldig befunden. Vorsatz und Wiederholung trotz mehrmaliger Ermahnung gelten als erwiesen. Wir verfügen daher die Expurgation, wie es der Codex Alburium fordert.“
Leise knackten Gerons Knöchel, als er die Finger ineinander schob. Das würde anderen eine Warnung sein und die Disziplin deutlich verbessern.
„Im Rahmen unserer umfassenden Verantwortung als Leiterin dieser Akademie und unter Berücksichtigung des jugendlichen Alters der Schülerin machen wir von unserem Recht nach dem sechsten Anhang zum Kapitel dreizehn des Codex Gebrauch und verfügen eine aufschiebende Wirkung des Urteils.“
Geron weigerte sich zu begreifen, was er hörte.
„Semira wird an die Akademie in Hesgard überstellt. Dort wird man zur nachhaltigen Besserung auf ihren Charakter einwirken. Im Falle einer anhaltenden Bewährung kann folglich auf den Vollzug verzichtet werden.“
Zu weich. Sie sind allesamt zu weich. Kein Wunder, dass der Ausbildungsstand der Absolventen immer miserabler wird. Wieder knackten Gerons Fingerknöchel. Die weiteren Worte der Rektorin drangen wie durch einen dämpfenden Schleier an sein Ohr. Wie hatte er die Ermächtigung im sechsten Anhang übersehen können? Er selbst hatte sie noch auf die selten genutzten Anhänge aufmerksam gemacht. Höchste Zeit einzugreifen, aber wie? Sein Gehirn arbeitete fieberhaft, aber ergebnislos.
„So lautet unser Spruch und der ist unwiderruflich!“ Magistra Varnas Stab schlug auf den Boden und besiegelte ihre Entscheidung!
Stimmen schwirrten durcheinander und immer wieder hörte Geron seinen Namen heraus. Die Rektorin hatte ihn vor dem versammelten Kollegium gedemütigt. Noch einmal schlug ihr Stab auf das Parkett und das Stimmengewirr verebbte.
„Geron, bitte beaufsichtigt die Überstellung selbst. Ich möchte diese heikle Aufgabe keinem anderen anvertrauen.“ Magistra Varnas Lächeln war süß, aber ihre Augen blitzten. „Ihr seid der Akademie für die Übergabe der Schülerin an Hesgard persönlich verantwortlich.“
Irgendwann krieg’ ich Dich, Du falsche Schlange. Er zwang sich zu einem unverbindlichen Lächeln.
* * *
Semira
Semira sackte zusammen. Die Erschöpfung trieb ihr die Tränen in die Augen. Nur allmählich begriff sie, was die Schulleiterin für sie getan hatte. So hatte sich noch nie jemand für sie eingesetzt.
Das Alles war zu viel. Sie begann haltlos zu weinen. Ein unkontrolliertes Zittern durchlief sie und wollte nicht mehr aufhören.
* * *
Parin, Sohn des Fuhrmannes Haul
Shingra, die mächtige graue Stute, spürte seine Unrast und scharrte nervös im Geschirr des klobigen Kastenwagens. Immer wieder fanden ihre gelben Zähne die Bissplatte des Zaums, nur um enttäuscht abzulassen, da sich das abgewetzte Metall als unüberwindbar darstellte. Der blond gelockte Junge prüfte den Sitz des Kummets bereits zum vierten Mal, doch seine Aufmerksamkeit galt dem fremdartigen Gebäudekomplex der magischen Akademie. Der weiß gekieste Weg zum Tor lag unberührt in der Morgensonne.
Parin sah zum Wagen. Der kantige Aufbau mit den kleinen vergitterten Fenstern wirkte abweisend und das frische Grün im fürstlichen Wappen von Rand konnte den düsteren Eindruck kaum mildern. Gewöhnlich diente der Kasten der Überführung verurteilter Verbrecher in die Minen der Randberge.
Um wen es heute ging, wusste der Fünfzehnjährige nicht, und es war ihm auch egal. Heute durfte er erstmals seinen Vater auf eine große Fahrt begleiten. Den Winter über war er seiner Mutter in den Ohren gelegen und schließlich hatte sie eingewilligt. Vier Tage sollte die Fahrt dauern und der Rückweg noch einmal so lange. Parin freute sich auf spannende Abenteuer, mit denen er vor den gleichaltrigen Burschen und Mädchen angeben könnte und auf die Hauptstadt. An den Winterabenden schwärmte sein Vater von den mächtigen Mauern, den Palästen und der alles überragenden kaiserlichen Residenz. Rand war eine richtige Stadt, aber wenn er den Erzählungen seines Vaters Glauben schenkte, war Hesgard ungleich größer und schöner.
Am Tor tat sich Etwas. Parin erkannte die breite Gestalt seines Vaters. Die Anderen mussten zur Zauberschule gehören, Bedienstete vielleicht, aber mit ein wenig Glück bekäme er gleich einen echten Magier zu Gesicht. Tatsächlich trug der ältere Mann, der eindringlich auf seinen Vater einredete, einen aufwändig verzierten Stab. Obwohl das graue Reisegewand nicht dem vorherrschenden Bild eines Zauberers entsprach, konnte es sich nur um einen solchen handeln. Ein Mann und eine Frau führten eine schmächtigere Gestalt in ihrer Mitte, deren Gesicht Parin noch nicht erkennen konnte, doch als die Frau beiseite trat, machte sein Herz einen Sprung. Blondes Haar gleißte in der Sonne wie flüssiges Gold. Das Mädchen mochte in seinem Alter sein, aber sie war schöner als die Statue der ERU im Tempel. Eine ergebene Traurigkeit überschattete ihre Züge. Was mochte diesem wundervollen Geschöpf widerfahren sein? Die vollen Wimpern hoben sich und ihre Blicke trafen sich in einem einzigen, herrlichen Augenblick, während ihm ihr Schmerz wie ein kalter Dolch ins Herz fuhr.
„Parin! Die Tür!“ Die Stimme seines Vaters klang ungeduldig. Mit zittrigen Fingern löste Parin die Riegel an der Rückseite des Wagens. Seine Augen suchten das schöne Mädchen, aber sie vermied den Blickkontakt. Erst jetzt bemerkte er die schwere Eisenkette, mit der ihre Hände hinter den Rücken gefesselt waren, und gab sich wilden Spekulationen über die unschuldig verfolgte Schönheit hin.
„Parin!“ Hastig öffnete er den Verschlag. Er kannte den Wagen seit seiner Kindheit, aber erst jetzt wurde ihm die Unüberwindbarkeit der eisenbeschlagenen Konstruktion bewusst.
Die Gefangene zögerte. Mit ihren gefesselten Armen bereitete ihr die schmale Trittstufe Probleme. „Rein mit Dir!“, blaffte der Magier. „Wenn Du Schwierigkeiten machst, kriegst Du noch mehr Ärger.“
Parins Arme zuckten vor, um ihr zu helfen, doch der warnende Blick seines Vaters hielt ihn ab. Dennoch bemerkte die Fremde seine Geste. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie wagte den Schritt, taumelte und schlug mit dem Schienbein gegen den Wagenboden.
„Können wir die Spielchen lassen, Semira?“ fragte der Magier, half ihr jetzt aber. Parin mochte den Mann nicht und in diesem Augenblick hasste er ihn. Teilnahmslos sah er zu, wie sein Vater die Türe schloss und die Riegel vorlegte. Der Zauberer brachte noch ein zusätzliches Vorhängeschloss an einer dafür vorgesehenen Öse an. „Verschluss“, murmelte er, während seine Hände über das Schloss strichen.
Parin hatte schon Scharlatanen auf Jahrmärkten zugesehen, aber das hier war echte Magie. Die Handlung und das einzelne Wort waren enttäuschend unspektakulär, aber sein Körper reagierte. Schauer liefen über seinen Rücken und die Haare standen ihm zu Berge. Er sah sich verstohlen um. Sein Vater verfolgte das Geschehen mit der ihm eigenen Gelassenheit und die Bediensteten der Magierschule ließen keinerlei Regung erkennen. Die müssen daran gewohnt sein, aber mit Vater sollte ich das besprechen, überlegte er.
„Da kommt keine Ratte mehr heraus“, sagte der Zauberer, so dass es das Mädchen hören musste. Dann wandte er sich an Haul: „Wir können losfahren.“
Parins Vater half dem Magier, Magister Geron, auf den Kutschbock und kletterte hinterher. Der Fuhrmann schnalzte mit der Zunge und Shingra zog an.
* * *
Die Straße von Rand nach Hesgard führte durch das Lange Feld, eine unmerklich ansteigende Ebene, die sich, soweit das Auge reichte, nach Osten erstreckte. Linkerhand lagen die Kuppen der Randberge, die allmählich in die sanfteren Hügel der Chantas übergingen, eine von Weinbergen und Olivenplantagen geprägte Landschaft, in der die Zeit still zu stehen schien. An einem klaren Morgen wie diesem schimmerten im Süden die weißen Gipfel des baelischen Kammes, die sich kaum von den vereinzelten Wolkentürmen abhoben. Noch spürte Parin die morgendliche Kühle durch seine Fuhrmannsjacke, aber der blaue Himmel und die an Kraft gewinnende Sonne versprachen einen herrlichen Frühlingstag. Der Junge sog die Luft ein und genoss den Geruch der Freiheit.
* * *
Ein Holpern riss Parin aus seinem Dösen. Die Sonne stand hoch im Norden und brannte auf die Reisenden herab. Die klare Luft war einem dichten Dunst gewichen und selbst die nahen Randberge waren kaum noch zu erahnen. Obwohl der Junge die Jacke längst abgelegt hatte, setzte ihm die Hitze zu, und sein Wasserschlauch verlor schon deutlich an Gewicht. Parin wollte ein Gespräch beginnen, aber Geron erwies sich als äußerst schweigsam und die Antworten seines Vaters blieben einsilbig.
Hin und wieder begegnete ihnen ein Fuhrwerk, aber nur einmal hielten sie an und tauschten Informationen über den Zustand der Straßen aus. Letztlich bedeuteten die spärlichen Begegnungen auf der trockenen Piste, die nächste Meile in einer Staubwolke zu fahren, die sich beklemmend auf die Kehle legte. Ein unterdrücktes Husten aus dem Wagen erinnerte ihn an das Mädchen, und er dachte an die Hitze, die in dem Kasten herrschen musste.
„Sie wird Wasser brauchen“, bemerkte er krächzend. Der Magier zuckte nicht einmal mit einer Wimper, aber sein Vater wies auf ein abseits stehendes Gehöft: „Von hier ist es noch eine gute Stunde zur Wegstation. Dort können wir essen und Shingra braucht auch eine Pause. Sobald Du die Stute versorgt hast, kannst Du dem Mädchen Wasser bringen.“
„Und danach kannst Du Deinen Jungen gleich begraben“, ätzte der Magister. „Erstens kann sie zaubern, zweitens ist sie gefährlich und drittens sind schon Andere auf ihr unschuldiges Gehabe hereingefallen.“ Parin erschauerte unter seinem Blick.
* * *
Die Wegstation bestand aus neuen, großzügig angelegten Gebäuden mit einer Einfriedung für die Zugtiere. Auf Gerons Geheiß stellten sie den Wagen ein wenig abseits, unter mächtigen Kastanienbäumen, ab. Haul legte ihm den Arm auf die Schulter. „Junge, Du bleibst hier. Spann aus. Keiner nähert sich dem Wagen auf weniger als zehn Schritt, verstehst Du?“
Parin nickte verdrossen. Falls es etwas Spannendes zu hören oder gar zu erleben gab, dann im Speiseraum der großen Herberge, der nach der Anzahl der Wagen, Pferde, Eseln und Ochsen, gut besucht war.
„Ich bring Dir Dein Essen später heraus“, ergänzte der Fuhrmann.
„Bleib vom Wagen weg“, schärfte ihm der Magier ein. „Lass dich ja auf kein Gespräch ein und öffne keinesfalls die Tür!“
Er sah seinem Vater und dem Zauberer nach, bis sie im Haupthaus verschwanden. Dann setzte er sich unter einen Baum, lehnte sich an den Stamm und kaute versonnen an einem Grashalm. Das Zirpen der Zikaden wurde von Shingras gelegentlichem Schnauben unterbrochen und aus der Ferne drang das Lied einer Bardin oder Zigeunerin an sein Ohr. Es erzählte von der Tochter eines Grafen, die ihr Herz an einen fahrenden Sänger verlor und in ihrer Sehnsucht nach ihm verging, während Prinzen und Fürsten vergeblich um sie warben.
Die Weise war eindringlich. Parin sah die junge, blonde Frau mit dem Gesicht einer Göttin vor sich, wie sie Tag für Tag einsam, blass und schön durch den väterlichen Garten streifte. Da wurde die Melodie fröhlicher. Die sanfte Stimme der Sängerin gewann an Tempo, als der Fahrende zurückkehrte und nunmehr ihre Liebe erwiderte. Der Text wurde frivol und aufreizend, und der Junge spürte eine wohltuende Enge in seiner Hose, während er in seinem Tagtraum die Stelle des Begehrten einnahm.
Ein Geräusch ließ Parin hochfahren und riss ihn aus seiner Phantasie. Sein Vater stand vor ihm, beladen mit Essgeschirr und frischen Wasserschläuchen. Der Magier schlug seinen Stab gegen den Wagenkasten. „Lass den Burschen in Frieden du Luder!“
Der schöne Gesang verstummte.
„Wie es aussieht, kann ich ihn mit der Gefangenen nicht alleine lassen und Euch vermutlich auch nicht“, knurrte Geron. „Noch drei Nächte, dann bin ich sie endgültig los.“
Parin nahm sein Essen entgegen und versteckte sein hochrotes Gesicht in seinem Napf. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Zauberer die Eisenklappe neben der Türe öffnete und den Eintopf und einen Wasserschlauch ins Innere schob. Haul zog das Gefäß für die Notdurft aus dem Wagenboden und entleerte es. Danach prüfte Magister Geron die Verschlüsse und wollte aufbrechen, aber der Fuhrmann winkte ab: „Das Tier braucht Ruhe. In einer Stunde ist die schlimmste Mittagshitze vorüber und Zweimühlen erreichen wir jedenfalls noch vor der Dämmerung.“
* * *
Der Nachmittag verlief ereignislos. Sein Vater war jetzt gesprächiger und gegen Abend taute auch der Magister auf. Er verlor sich in einer Betrachtung über die Bedrohung der Welt durch Schwarze Magie und die Notwendigkeit, diesem Unwesen wachsam zu begegnen. Parin verstand kaum die Hälfte davon, sog die Legenden von uralten Zauberern und dunklen Hexen aber begierig auf und die Zeit verging wie im Flug.
* * *
Zweimühlen war ein bedeutender Weiler. Seinen Namen verdankte er den großen Windmühlen, die das Korn der umliegenden Bauernhöfe verarbeiteten, und das Mehl in die Städte Rand und Bethan, vielleicht sogar bis Hesgard lieferten. Der Fuhrhof war diesmal kleiner und den Gebäuden war das Alter anzusehen. Parin hoffte, einen Blick auf die schöne Gefangene zu erhaschen, aber der Magier dachte nicht daran, die Verschlusszauber zu entfernen. Stattdessen ließ er das Fuhrwerk in den Schuppen schieben und wies den Wirt an, ihm dort sein Lager zu richten. Den Fuhrleuten blieb nichts übrig, als es ihm gleich zu tun, aber da der Magier beim Wagen blieb, durfte Parin seinen Vater in den Schankraum begleiten.
Der schlecht erleuchtete Raum war gut besucht. Neugierig sah sich der Junge um. Zwischen den Fuhrleuten und Reisenden erregten drei verwegene, bis an die Zähne bewaffnete Gestalten seine Aufmerksamkeit. „Söldner“, raunte sein Vater. „Starr sie nicht an. Das könnte ihr Missfallen erregen.“
Sie ergatterten einen Platz an der Theke und aßen das bis zur Unkenntlichkeit zerkochte Gemüse. Parin lauschte den Erzählungen der Mietlinge, die ihre Heldentaten lautstark zum Besten gaben. Einer berichtete von seinem Kampf gegen einen Grautiger. Das waren gewaltige Steppenraubtiere, die früher das Lange Feld beherrscht hatten, mittlerweile aber von den berittenen Patrouillen des Kaisers aus den besiedelten Gebieten verdrängt worden waren. Der Söldner schilderte, wie er die Parierstange seines zerbrochenen Schwertes in den Rachen des Untieres geklemmt hätte, um den dolchartigen Reißzähnen des Tigers zu entgehen. Seine gestenreiche Erzählung gipfelte im Sieg über das Raubtier, das er in seiner Not mit bloßen Händen erwürgen musste.
„Ist das wahr, was die Drei erzählt haben?“, fragte Parin, als sie im Schein einer Windlaterne zum Schuppen schlenderten.
„Wahr oder gut erfunden!“, lachte Haul. „Stell solche Fragen nie, solange der Erzähler noch im gleichen Raum ist.“ Parin fiel in sein Lachen ein. Jetzt, wo der Zauberer nicht bei uns ist, hat auch Vater wieder gute Laune, dachte er.
Sie fanden den Magier schlafend vor. Auch aus dem Wageninneren hörten sie ruhige, regelmäßige Atemzüge. Jemand hatte mit Kreide etwas an den Wagenkasten geschrieben und die Fuhrleute entzifferten den kurzen Text.
„Den Wagen nicht berühren!“, stand da in schön geschwungenen Zeichen.
Parin konnte besser lesen, als sein Vater. Immerhin hatte er zwei Jahre die Schule besuchen dürfen. Mehr konnten sich seine Eltern nicht leisten, aber Mutter hatte Wert darauf gelegt, dass er seine Leseübungen gewissenhaft ausführte, obwohl sie selbst keinen einzigen Buchstaben kannte. „Du sollst es einmal leichter haben“, pflegte sie zu sagen.
Haul zeigte ihm, wie er sich aus Stroh und einer Decke ein Lager richten konnte, und wenige Augenblicke später schlief Parin ein. Seine Träume drehten sich um Jungfrauen, um kühne Helden, die ihnen ohne Zögern zu Hilfe eilten und um die romantischen Szenen, in denen die Geretteten ihren Dank zum Ausdruck brachten. Gerade als sich einer kreischenden Harpyie entgegenwerfen wollte, begriff er, dass das Geschrei real war und kämpfte sich schlaftrunken aus seiner Decke.
Das ohrenbetäubende Gezeter kam vom Wagen. Sein Vater stand hilflos da und presste die Hände an seine Ohren, während der Magier hektisch gestikulierend auf den Kasten einredete, bis das Kreischen verstummte. Gleichzeitig flog das Tor auf und die Söldner stürmten mit blanken Klingen herein.
Magister Geron beschwichtigte: „Sieht aus, als wollte unsere Gefangene einen Ausflug machen, aber mein Alarm hat ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.“
„Ich bin im Schlaf an die Türe gestoßen und Euer dämlicher Zauber hat die ganze Herberge aufgeweckt“, widersprach eine ebenso wohltönende wie trotzige Stimme aus dem Wageninneren.
Die Söldner sahen sich ratlos an und verließen achselzuckend den Schuppen. Nur Parins Müdigkeit bewahrte ihn davor, loszulachen.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Beim Frühstück wurden die Fuhrleute mit unwirschen Blicken und missmutigen Kommentaren über die nächtliche Störung bedacht, und so verließen sie Zweimühlen noch in der Morgendämmerung.
* * *
Der Tag verlief eintönig, bis am späten Nachmittag Sirfan erreichten. Hier kreuzte die Straße, die von Chur im Süden nach Bethan im Norden führte, und so war ein florierender Warenumschlagplatz entstanden, an dem sich nach und nach auch Handwerker angesiedelt hatten. Seine Lage verlieh dem Städtchen eine strategische Bedeutung, und er wies, nebst einer äußerst wehrhaften Stadtbefestigung, auch eine bedeutende Garnison auf. Deshalb konnte Magister Geron Semira im Verlies der Festung unterbringen.
Parin begleitete seinen Vater in die Taverne. Wieder hörten sie viele Geschichten, aber von Bedeutung war nur das Gerücht, nachdem auf der Straße nach Hesgard Raubtiere gesehen worden wären. „Kann stimmen oder auch nicht“, sagte Haul. „Kein Grund zur Besorgnis. Wir hängen uns morgen an ein paar andere Wagen dran. Das reicht um die Viecher abzuschrecken.“
* * *
Nachdem sie den Zauberer und seine Gefangene in der Festung abgeholt hatten, trafen sie am Stadttor auf zwei Fuhrwerke. Die stämmige, schwarzgelockte Varna war Mitte Dreißig. Sie lenkte einen offenen Wagen und hatte Bauholz geladen. Das andere Fuhrwerk war ein mächtiger, zweispänniger Planwagen. Er gehörte einem Händler aus dem Norden, der sich als Chiero Albacca vorstellte. Er mochte an die Vierzig sein und sein glattes, schwarzes Haar zeigte erste weiße Strähnen.
„Jungchen, kannst bei mir mitfahren“, bot die Fuhrfrau an. „Hab‘ noch Platz am Bock und könnt‘ Gesellschaft vertragen. Außerdem“, fügte sie augenzwinkernd hinzu, „reicht es, wenn zwei von Euch meinen Staub schlucken.“ Haul willigte ein, und Parin war erleichtert, der bedrückenden Gegenwart des mürrischen Zauberers entfliehen zu können. Varna erwies sich als fröhliche Plaudertasche und der Vormittag verging wie im Fluge.
Am Nachmittag kam es zu einem Zwischenfall. Das nahe Brüllen eines hungrigen Steppentigers erschreckte die Fuhrleute und Varna konnte das Ausbrechen ihres Zugtieres nur mit Mühe verhindern.
Chiero Albacca schloss seitlich auf und zog eine Armbrust unter dem Kutschbock hervor. „Habt ihr gesehen, wo das Biest steckt?“, fragte er. Seine Augen blitzten unternehmungslustig, während er mit geschickten Handgriffen den Mechanismus spannte.
„Nö!“, gab Varna knapp zurück. Sie redete beruhigend auf ihr Pferd ein, das nervös im Geschirr tänzelte.
Parin sah sich hektisch um, konnte aber nichts erkennen, obwohl der Tiger neuerlich brüllte. Das heisere, kehlige Pfauchen jagte ihm die Gänsehaut über den Rücken. Das Geräusch kam eindeutig von hinten, und als Shingra ängstlich wieherte, bekam er Angst um seinen Vater.
Plötzlich war es still, vollständig und unnatürlich still. Der Zauberer kam nach vorn und bedeutete Varna weiterzufahren. Sie wollte etwas fragen, hielt aber irritiert inne, als kein einziger Ton über ihre Lippen kam. Selbst das Schnauben der Tiere war verstummt, und als sich das Fuhrwerk in Bewegung setzte, hörte man nicht einmal mehr das allgegenwärtige Knarren des Ledergeschirrs.
Nach zwei endlos scheinenden Zehntelstunden verschwand die beklemmende Stille ebenso plötzlich, wie sie gekommen war. Varna zog die Bremse an. „Ich will wissen, was da verdammt noch mal los war und wo der blöde Tiger steckt!“, rief sie nach hinten.
Die anderen Wagen schlossen seitlich auf und Magister Geron versuchte zu erläutern: „Es gibt keinen Tiger. Die einzige Wildkatze hier ist diese verfluchte Hexe im Wagen. Sie wollte wohl einen Unfall provozieren, um eine Gelegenheit zur Flucht zu bekommen. Wird aber nichts, wie es aussieht. Die Stille habe ich gezaubert, damit sich die Tiere beruhigen. Können wir?“
Diesmal setzte sich Haul an die Spitze und die Fuhrfrau reihte sich hinter Chieros Planwagen ein. „Staub für Sicherheit. Is‘ne alte Fuhrmannsweisheit. Weiß aber nich‘, ob das hier noch sicher ist“, knurrte sie missmutig, während sich der Staub der Landstraße um sie herum verdichtete.
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Die Nacht verbrachten sie erneut im Schuppen einer Wegstation. Die Stimmung war wieder besser, aber den Zauberer schien eine innere Unruhe zu plagen. Immer wieder sprang er auf, lief auf und ab und überprüfte zum x-ten Mal den Sitz der Riegel. Dazwischen brabbelte er in seinen Bart.
Haul wollte der Gefangenen Essen und Wasser geben, aber der Magier wiegelte ab: „Soll sie sehen, wo sie bleibt. Vielleicht macht sie dann morgen weniger Mätzchen.“
Keiner verspürte Lust die Schankstube aufzusuchen. Die Erzählungen von Varna und Chiero waren spannend und abwechslungsreich, und Parins Vater steuerte die eine oder andere Anekdote bei. Schließlich fingerte Varna eine abgegriffene Mundharmonika aus ihrem Beutel und begann zu spielen. Irgendwann fielen dem Jungen die Augen zu. Er sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
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Am nächsten Morgen fiel ihm das Aufstehen schwerer als sonst. Die anderen waren schon hellwach und guter Dinge. Nur Magister Geron hatte dunkle Ringe unter den Augen, als hätte er keine Ruhe gefunden. Noch einmal überprüfte er den Wagen und erneuerte den Zauber, der Riegel und Vorhängeschloss schützte, ehe sie sich auf den Weg machten.
Parin fuhr wieder bei seinem Vater mit und durfte die Zügel übernehmen. Einen Gutteil des Vormittags hielten sie die Spitze, ehe sie sich hinten einreihten. An den Staub werde ich mich gewöhnen müssen, dachte Parin. Er lockerte seinen Griff um die Zügel, um eine bequemere Sitzposition einzunehmen. Kaum hatte er wieder Halt gefunden, zerriss das nervenzerfetzende Kreischen angreifender Harpyien das eintönige Knarren der Fuhrwerke.
Shingra stieg steil nach oben und der Wagen schlingerte gefährlich. Haul griff herüber, aber Parin hatte sich bereits in die Zügel geworfen, um das Durchgehen der Stute zu verhindern.
„Stille!“, dröhnte Magister Gerons Stimme – und das war das Letzte, was sie für die nächste Stunde hören sollten. Wütend schlug der Magier seinen Stab gegen das Wagendach, aber selbst das wurde von der Stille verschluckt. Wieder spürte Parin die Kraft des Zaubers bis in seine Knochen. Diesmal dauerte es, bis sich die Pferde beruhigten, und Haul schlug seinem Sohn anerkennend auf die Schulter. Das dazugehörige Lob konnte er nicht hören, aber in den Augen seines Vaters las er Stolz.
Vielleicht ist diese Semira ja wirklich gefährlich, dachte Parin. Noch am Morgen hatte er vergeblich versucht, einen Blick auf die schöne Gefangene zu erhaschen, doch jetzt, angesichts der überstandenen Gefahr, kam ihm das töricht vor.
Kurz darauf zweigte eine Straße nach Norden ab. Haul öffnete den Mund, brach aber ab, da noch immer kein Ton zu hören war. Chieros Wagen scherte nach links. Der Händler wollte ihnen etwas zurufen, musste sich aber mit Handzeichen begnügen. Er würde der Abzweigung folgen. Varna erhob sich und winkte ihm zum Abschied. Dann setzte sie ihr Fuhrwerk in Bewegung und Parin folgte ihr.
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In der Ferne waren bereits die Türme der Stadt zu sehen, als die Stille wich. „Die Straße vorhin führt nach Rotfurt“, erläuterte Haul. „Sie ist nicht viel kürzer, wird aber gerne von Schmugglern benutzt um Hesgard zu vermeiden.“ Er stutzte, als Parin ihn fragend ansah. „Das heißt nicht, das Chiero ein Schmuggler ist, aber wir können es auch nicht ausschließen“, ergänzte er. „Die Garde kennt den Weg ohnehin.“
Haul wandte sich an Geron und deutete vorwurfsvoll auf den Wagenkasten. Der Magier schlug auf das Dach: „Wenn du noch einen einzigen Trick versuchst, lass ich den ganzen Wagen in Flammen aufgehen. Hast Du mich verstanden?“ Seine Stimme hatte einen schneidenden Unterton und das Mädchen verzichtete auf eine Entgegnung. „Auch gut“, schimpfte Geron. „Wir schmollen also.“
„Wenn Du die Kiste abfackelst, helf‘ ich Dir!“, brüllte Varna von vorn. „Die Kleine ist ja gemeingefährlich!“
Parin gab die Zügel an seinen Vater ab und brütete vor sich hin. Seine erste große Fahrt hatte er sich anders vorgestellt. Er war sich seiner Gefühle für das Mädchen so sicher gewesen, doch hatte sie bedenkenlos ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel gesetzt.
Endlich lag die Hauptstadt vor ihnen und eine gute Stunde später schälte sich das mächtige Westtor aus dem Schatten der Mauer. Zahlreiche Menschen strömten in die Stadt oder verließen sie und manch Einer wies raunend auf ihren Wagen. Die haben wohl noch nie das Wappen von Rand gesehen, oder es ist der Gefängnisaufbau, der sie interessiert, dachte sich Parin.
Dann hatte Varna die Kontrolle passiert und zwei Gardisten traten an seinen Wagen. „Wer? Woher? Wohin? Ladung?“ Die Aufforderung kam beiläufig, aber Parin bemerkte den wachen Blick der Soldaten.
„Geron der Wandler, Magister und Lehrmeister an der Akademie zu Rand“, antwortete der Magier ähnlich routiniert. „Überstellung einer Gefangenen von Rand nach Hesgard.“
„Eine Magierin, also alleinige Sache der Gilde“, ergänzte er, als sich einer der Stadtwächter dem hinteren Teil des Wagens zuwendete. Der ließ sich nicht beirren und umrundete das Gefährt. Plötzlich hielt er inne. „Gefangene, welche Gefangene? Hattet ihr einen Unfall?“
Standesbewusste Zurückhaltung und Alter wichen einer überraschenden Behändigkeit, als der Zauberer vom Kutschbock sprang. Parin glitt vom Bock und hatte kaum den Boden berührt, als er den Magister fluchen hörte. Dann sah auch er das Ausmaß der Bescherung: Große Teile der Türe fehlten und aus den Resten der Rückwand ragten ellenlange Splitter, als ob sie von innen heraus zerschmettert worden wäre. Nur die Riegel und das Vorhängeschloss hingen ebenso unbeschädigt wie nutzlos in ihren Halterungen, geschützt von dem intakten Verschlusszauber. Geron starrte mit offenem Mund auf die angerichtete Verwüstung und den leeren Innenraum.
„Mann, das müsst Ihr doch gehört haben?“, meinte der Soldat beiläufig.
Er wich erschrocken zurück, als der Magier einen fremdartigen Fluch ausstieß, während das letzte bisschen Farbe aus seinem Gesicht wich. Parin starrte betreten zu Boden. Er war nicht der Einzige, der den Zusammenhang zwischen dem Stillezauber und dem völlig lautlosen Ausbruch der Gefangenen erkannte.
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Chiero Albacca, Kaufmann aus Marin
Chiero Albacca schüttelte den Kopf. Er befuhr die Straßen Arans seit mehr als zwanzig Jahren, aber so etwas war ihm noch nicht untergekommen. Schade eigentlich, dachte er. Diese Varna war unterhaltsam und nicht unhübsch. Er selbst war frei und ungebunden, und man konnte nie wissen, was sich auf einer gemeinsamen Fahrt ergab. Egal. Dieser Magister Geron konnte einem die Laune verderben und seine Gefangene schien wirklich gefährlich zu sein. Warum übergibt man eine überführte Hexe nicht gleich den Flammen, fragte sich Chiero, anstatt sie ohne angemessene Bedeckung durch die Gegend zu kutschieren. Aber das war nicht mehr seine Sorge. Die vertrauten Geräusche des Wagens und der Zugpferde setzten nach der Trennung von den Anderen wieder ein und damit kehrte auch seine gute Laune zurück.
Ein Wäldchen an der Straße lud zu einer Rast ein und die Tiere konnten eine Pause vertragen. Chiero richtete sich im Schatten der Bäume ein und klaubte ein paar Ästchen für ein Feuer zusammen. Nach bewährter Manier legte er Armbrust und Kurzschwert griffbereit und freute sich schon auf eine Suppe und frischen Tee.
Als er den Kessel vom Feuer nahm, hörte er von hinten ein Geräusch. Behutsam griff er nach der Armbrust.
Da! Da war es wieder. Ein Tier? Wohl kaum. Räuber? Schon eher.
„Hallo!“, erklang eine helle Mädchenstimme. Chiero drehte sich um. Die junge Frau mit den blonden Haaren mochte sechzehn sein, vielleicht auch jünger.
„Bitte tut mir nichts. Ich brauche Eure Hilfe.“ Ihre Stimme zitterte vor Angst und Aufregung. Er musterte sie. Ihre Haare waren zerzaust, das Kleid zerrissen und verschmutzt, und ihr Gesicht war unter den Schlammkrusten kaum zu erkennen. Sie mochte hübsch sein, vielleicht sogar schön, aber so bot sie ein Bild des Elends. „Bitte“, flehte sie. „Bitte nehmt mich mit.“
Chiero sah sich um. Natürlich konnte sie ein Mensch in Not sein. Andererseits kannte er Geschichten über Räuberbanden, die hübsche Mädchen als Lockvögel einsetzten. Immer wieder hatte er sich vorgenommen, eine derart abgefeimte Schlange über den Haufen zu schießen. Aber was, wenn sie wirklich Hilfe suchte? Wenn ihre Geschichte stimmte? Sein Mitgefühl gewann die Oberhand.
„Setz Dich!“, knurrte er. Er kramte einen zweiten Teller aus seinem Beutel, was mit einer gespannten Armbrust in der Hand gar nicht einfach war.
„Hungrig?“ Seine Augen wiesen auf den dampfenden Kessel mit der Suppe. Keine Zehntelstunde später, hatte sie ihren Teller ausgelöffelt und auch seinen.
Der Schrei eines Raubvogels ließ ihn zusammenfahren. Er sah sich um, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Wird Zeit, dass ich mich beruhige, dachte er. Ich muss ja nicht gleich leichtsinnig werden.
„Wer bist Du? Was hat Dich hierher verschlagen?“, wandte er sich an das Mädchen.
„Ich heiße Mirja“, begann sie stockend. „Ich war mit meiner Tante und meinem Cousin auf dem Weg nach Rotfurt, als wir überfallen wurden. Wir hatten nur einen Söldner als Begleitung, mehr konnten wir uns nicht leisten, und der wurde sofort von zwei Pfeilen getroffen. Dank unserer Pferde konnten wir fliehen, aber mein Tier ist durchgegangen. Zwischen den Bäumen habe ich die Anderen aus den Augen verloren.“
Ein leises Schluchzen unterbrach ihre Erzählung. Das arme Kind ist deutlich jünger als sechzehn, dachte der Händler. Er widerstand dem Drang, sie schützend an sich zu ziehen.
Sie fuhr mit zittriger Stimme fort: „Mein Pferd ist gestürzt, hat sich das Bein gebrochen. Ich hatte nicht einmal mehr einen Dolch, um ihm den Gnadenstoß zu geben. Das arme Tier hat sich die Seele aus dem Leib gewiehert und damit wieder die Räuber angelockt. So musste ich noch tiefer in den Wald fliehen, und dann habe ich mich verirrt.“ Mirja rang mit den Tränen. „Ich weiß nicht, ob meine Tante und mein Cousin noch leben, ob ich sie jemals wiedersehe.“ Sie warf sich Chiero an die Brust und begann haltlos zu weinen.
Er streichelte ihre verfilzten Haare und redete auf sie ein. „Ich nehme Dich bis Rotfurt mit“, versprach er. „Dort erkundigen wir uns nach Deiner Tante. Sobald wir einen Nebenarm des Laudon finden, verpass‘ ich Dir ein anständiges Bad.“
Das Mädchen sah ihn eindringlich an, und er wurde sich ihrer außerordentlichen Schönheit bewusst. „Danke“, hauchte sie, während sie ihm half, das Essgeschirr zu säubern.
Soviel zur Vorsicht, dachte Chiero, als er seine Armbrust aufnahm und die Sehne entspannte. Sie hätte nicht einmal Komplizen gebraucht, um mir ein Messer zwischen die Rippen zu jagen.
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Dort wo sich die Straße dem Laudon näherte und entlang des Flusses nach Osten schwenkte, lag ein uraltes Gasthaus. Die Schrift unter dem seltsamen Wesen am Wirtshausschild lautete „Zum einsamen Dachs“, aber die Stammgäste kannten es als „Dachsbau“. Nicht unweit davon führten Karrenwege in die Auwälder. Die Mehrzahl mochte der Gewinnung von Holz, Schilf oder Torf dienen, aber andere führten zu geheimen Furten über den Strom. Nicht zuletzt deshalb war der Hof bei manchen Reisenden beliebt. Kaiserliche Soldaten wagten sich nur in voller Truppstärke hierher, während für die Händler kaum eine Gefahr bestand. Dennoch hielt Chiero seine neue Begleiterin für zu hübsch, um einfach so in den Dachsbau zu marschieren. Also machte er an einem kleinen Weiher halt und holte eine Flasche aus seinem Gepäck. „Schwarzwurz“, sagte er. „Kriegst dunkle Haare davon und fällst dann weniger auf. Wäscht sich wieder heraus. Jetzt mach Dich sauber.“ Er sah ihr nach, bis sie im Uferdickicht verschwand. Dann holte er einen Kanten Brot und etwas Speck hervor, da ihn sein Magen deutlich an die vermisste Suppe erinnerte.
Er pfiff ein Liedchen vor sich hin, als das Mädchen aus dem Unterholz kam. Die nassen Haare waren jetzt fast schwarz und klebten eng am Körper. Genau, wie das frisch gewaschene Kleidchen, dessen Risse und Löcher augenscheinlich hervorstachen. Chiero setzte sich auf, starrte sie an und schluckte: „Das geht gar nicht.“
Das geht wirklich nicht, schob er einen anderen, weiterführenden Gedanken beiseite. Das Mädchen war ja fast noch ein Kind. Besser wäre es, die Bekanntschaft mit Kira, einer Schankmagd im „Dachs“ zu vertiefen. Er fischte eine alte Hose, ein angegrautes Leinenhemd und eine zerschlissene Wolljacke aus dem Wagen und warf sie dem Mädchen zu: „Zieh das an. Das spart uns eine Menge Ärger.“
Sie fing die Sachen geschickt aus der Luft. „Danke“, rief sie fröhlich, und zum ersten Mal huschte ein flüchtiges Lächeln über ihr Gesicht. Mit einer fließenden Bewegung streifte sie ihr Kleid ab, und seine Erstarrung fiel gerade rechtzeitig von ihm ab, um sich hastig abzuwenden.
Als er sie in seinen alten Sachen sah, die haltlos um ihre zarte Figur schlotterten, musste er lachen. Sie sah an sich herab und stimmte ein.
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„Chiero“, fragte sie, als sich der schwere Planwagen in Bewegung setzte. „Wie weit fährst Du?“
„Marin, hoch im Norden, bei den Regenwäldern. Warum?“
Sie ignorierte seine Gegenfrage. „Was hast Du geladen?“
Er musterte sie misstrauisch, gab aber Auskunft. „Eichenholz, Werkzeuge und ein wenig Kupfer. Dinge, die im Norden schwer zu kriegen sind.“
„Bist Du reich?“
Wieder stutzte der Kaufmann, aber ihr eindringlicher Blick ließ ihm keine Wahl. „Ich komme gut zurecht, aber reich bin ich nicht.“ Wieso habe ich das jetzt gesagt, schoss es ihm durch den Kopf. Das geht sie gar nichts an.
„Aber Du bist doch ein Händler?“
„Das heißt nicht, dass man dabei reich wird – zumindest nicht mit ehrlicher Arbeit“, fügte er verstimmt hinzu. Bereitwillig erzählte er, worauf es ankam, wie man Profite machte und welche Risiken es zu vermeiden galt. Das Mädchen hing an seinen Lippen und Chiero fühlte sich durch ihr Interesse geschmeichelt. „Wie schon gesagt: Reich wirst Du damit nicht“, schloss er seine Ausführungen.
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Eine gute Meile bevor sie den „Dachs“ erreichten, lösten sich Reiter aus dem Schatten des Uferwaldes. „Räuber?“, fragte das Mädchen.
Chiero schüttelte den Kopf. „Kaiserliche Patrouille. Der Laudon ist eine Zollgrenze.“
„Haben wir Schwierigkeiten?“, wollte sie wissen.
„Vermutlich nicht“, antwortete er zögernd. „Nicht, wenn Du die bist, für die Du Dich ausgibst.“
Sie zog einen Schmollmund, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.
Die sechs Reiter näherten sich. Die Lanzen, ihre Reiterbögen und die graugrünen Uniformen wiesen sie als Grenzreiter aus. Ein Siebenter wirkte wie ein wohlhabender Zivilist, der sich im Wald verlaufen hatte. Mirja erblasste, als sie den geschmückten Stab in seiner Hand erkannte und wandte sich ab. Chiero beruhigte sie: „Bleib im Hintergrund. Ich glaube nicht, dass sie hinter Dir her sind.“
Dann waren die Reiter heran. Der Korporal stellte die üblichen Fragen, während zwei Männer absaßen, um den Wagen zu durchsuchen. Die Kontrolle verlief routiniert, bis einem der Soldaten der doppelte Boden des Wagens auffiel. „Wie geht das auf?“, fragte er mürrisch, während seine Kameraden ihre Waffen hoben.
„Oh, bitte“, lächelte Chiero. „Das ist doch einfach.“ Er löste die verborgenen Verschlüsse und öffnete die Abdeckung.
„Dann sehen wir mal, was da drinnen ist“, grinste der Soldat und schob Chiero beiseite. „Leer“, stellte er ungläubig fest.
„Man kann nicht vorsichtig genug sein“, erläuterte der Kaufmann. “Hie und da hat man eine wertvolle Ladung, und trotz der lobenswerten Bemühungen der Armee, kann es zu unliebsamen Begegnungen mit Räubern kommen, die ihr irgendwie übersehen haben müsst.“
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„Es klappt doch jedes Mal“, freute er sich, nachdem die Soldaten abgezogen waren. „Sobald sie den leeren Geheimboden gefunden haben, suchen sie nicht weiter. Dich haben sie gar nicht beachtet.“ Ein breites Grinsen zierte plötzlich sein Gesicht. „Also, was hast Du ausgefressen, Mirja?“
„Semira“, berichtigte ihn das Mädchen.
„Du hast gesagt ‚Ich heiße Mirja‘“, beharrte er.
„Du hast schlecht zugehört“, widersprach sie. „Ich sagte, ich heiß‘ Semira.“ Ihr Lachen perlte wie ein klarer Gebirgsbach an sein Ohr.
„Ich hab‘ was gut bei Dir“, knurrte er eingeschnappt.
„Stimmt“, lachte sie. „Aber so laut und verkrampft, wie Du an die Schwertklingen in den drei hohlen Balken gedacht hast, hätte Dich der Hellsichtmagier gar nicht überhören können, wenn ich Dich nicht abgeschirmt hätte.“
„Welcher …?“ Der Händler verstummte, als er sich der Gefahr bewusst wurde, in der er geschwebt hatte. Er sah sie an und nickte anerkennend. „Das mit dem Magier ist neu.“, murmelte er. „Ich denke, das wird den Wirt des Dachsbaus auch interessieren.“
„Danke“, sagte er nach einer ganzen Weile. „Ich glaube, ich habe Dich unterschätzt.“
„Nichts zu danken“, grinste sie. „Es reicht, wenn Du mich bis Marin mitnimmst.“
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