Читать книгу Schatten und Licht - Gerhard Kunit - Страница 12
Dunkle Geschäfte
ОглавлениеJahr 27 des Kaisers Polanas, Frühjahr
Chiero Albacca
Chiero Albacca sah von seinen Büchern auf, als Semira, begleitet von einem Schwall mittäglicher Hitze, in sein Kontor rauschte. „Hallo“, hauchte sie und begrüßte ihn mit flüchtigen Wangenküssen. Ihre Aufmerksamkeit galt jedoch dem abgegriffenen Buch in ihrer Linken. Er sah ihr nach, bis sich die Türe zu ihrem Lagerraum hinter ihr schloss.
Das aufgeweckte Mädchen war zu einer außerordentlichen und begehrenswerten Schönheit gereift. Der Händler lächelte, als er an die drei Jahre seit ihrer ersten Begegnung dachte. Obwohl sie an der Akademie aufgenommen wurde, mietete sie bei ihm ein Zimmer – um unabhängig zu bleiben, wie sie sagte. Ein Jahr später bat sie ihn, den Handel und Verkauf für ihre Tränke und Elixiere zu übernehmen, und seitdem blühte sein Geschäft. Im Gegenzug überließ er ihr den alten Lagerraum hinter seinem Kontor. Der übermannshohe Spiegel, der seit Menschengedenken unverrückbar in dem Gemäuer stand, war ihm schon immer unheimlich, und die dicken Laken, mit denen er verhängt war, änderten daran wenig. Semira störte sich nicht an dem Ding. Sie nutzte den Raum zur Lagerung ihre alchimistischen Utensilien und der fertigen Tränke.
Chiero wandte sich seinen Abrechnungen zu. Der Reingewinn des letzten Mondes betrug mehr, als er früher in einem Jahr verdient hatte. Semiras Ware war von guter Qualität, was bei magischen Tinkturen selten war. Demgegenüber konnte man ihre Preise als fair betrachten, das sprach sich herum, und mittlerweile erstreckte sich die Stammkundschaft auf die gesamten nördlichen Sklavenstädte.
Der Blick des Kaufmanns fiel auf einen Flakon aus rotem Kristallglas. „Souriner Nächte“ stand auf dem Etikett aus Blattgold. Dieses teuerste Elixier des Sortiments war in den Palästen und Villen der Reichen und Mächtigen ebenso beliebt wie in gehobenen Freudenhäusern. Er gedachte der Worte, mit denen ihm die Magierin die Mischung präsentiert hatte: Stell Dir vor, Du könntest die Manneskraft stärken und zugleich einen Geruch entwickeln, der jegliche Hemmung nimmt. Darüber legst Du eine Illusion, die alle Menschen anziehend und begehrenswert erscheinen lässt. Leichte Halluzinationen runden die Wirkung ab. Das könnte ein Fest in Schwung bringen.
Ihre glockenhelle Stimme stand in herrlichem Kontrast zu seinen verruchten Vorstellungen, die in ERUs verführerische Welt abglitten, und die leichte Berührung an seiner Schulter tat ihr übriges. Nur widerstrebend entzog er sich damals ihrem Bann und erntete dafür ein gekünsteltes Schmollen. Geschäft ist Geschäft, sagte er sich. Da haben Gefühle keinen Platz. Außerdem war sie noch ein Mädchen, als ich sie damals am Laudon aufgelesen habe.
Ein einziges Mal war er selbst der Wirkung der „Souriner Nächte“ erlegen. In dieser Nacht hatte er einen ganzen Monatsverdienst in „ERUs Badepalast“ gelassen – und noch heute bereute er nicht ein Kupferstück davon. Kein Wunder, dass die Tinktur im Kaiserreich verboten ist, dachte er. Die Bürger der südlichen Länder waren prüde und betrachteten schon eine gewöhnliche Orgie als unanständig.
Magische Tränke und alchimistische Erzeugnisse unterlagen hohen Zöllen. Das machte den Schmuggel gleichermaßen einträglich und gefährlich. Gerüchten zufolge schmachteten einige seiner Kollegen bereits in imperialen Kerkern. Die kaiserlichen Grenzer hatten ihre Zusammenarbeit mit den Akademiemagiern weiter verstärkt, und gerade Gegenstände mit magischer Aura waren kaum noch zu verbergen. Obwohl es Chiero nach dem harten Kutschbock und dem Griff der Schlangenhautpeitsche juckte, war er doch froh, dass ihm die Zusammenarbeit mit Semira die gefährlichen Fahrten ersparte.
Seit sie den hinteren Lagerraum übernommen hatte, übte der eine unerklärliche, fast mystische Anziehung auf ihn aus. Nachdenklich sah er zu der Türe, hinter der die junge Magierin verschwunden war. Oft zog sie sich für viele Stunden zurück und er stellte keine Fragen mehr. Heute aber, spürte er, ging etwas Ungewöhnliches vor sich. Er hob die Hand und wollte anklopfen, doch ein Geräusch ließ ihn innehalten. Janic, sein Hausdiener, brachte Tee.
Chiero ließ sich in seinen Sessel sinken und widmete sich dem herrlich duftenden Getränk. War es klug war, der berechnenden Magierin zu vertrauen? Er kannte die Antwort, wollte ihre belebende Nähe Frau aber um Nichts auf der Welt missen.
* * *
Janic, Hausdiener
Janic stapfte missmutig aus dem Kontor. Er machte sich nichts aus Frauen. Schon gar nicht aus diesem ausgekochten Luder, das sich ins gemachte Nest setzte. Mit ihrem aufgesetzten Mädchencharme wickelte sie den Kaufmann um den Finger. So wie der gerade die Türe zum Lagerraum angestarrt hatte, hatte sie ihn eindeutig verhext. Jetzt, wo die Geschäfte endlich gut liefen, zog sie ihm sein Geld aus der Tasche.
Janics Weg führte ihn an der Treppe zum ersten Stock vorbei. Dort oben lag ‚ihr‘ Zimmer. Er hatte immer gewusst, was in den Räumen des Kontors vorging. Das war seine Aufgabe, bis vor drei Jahren, seitdem war der Raum abgesperrt. ‚Ihr‘ Zimmer, ärgerlich war das. Auch der Lagerraum blieb verschlossen. Mochte ANRADA wissen, welch widernatürliche Abscheulichkeiten dort vor sich gingen. Er wusste es nicht, und sein Herr wusste es auch nicht.
Sein Fuß streifte einen Schemel, als er die Küche betrat. Wütend stieß er ihn beiseite. Könnte ich doch diese Hure beiseite treten, dachte er, aber der Herr hat seinen Narren an ihr gefressen.
Sorgsam stellte er den Schemel wieder auf. Er gehörte dem Herrn und Janics Aufgabe war es, Ordnung zu halten. Vor langer Zeit hatte er sich damit abgefunden, dass der Herr Frauen liebte, nur Frauen. Dennoch war er dem Kaufherrn treu, wie es sich für einen Diener geziemte. Aber was diese Semira mit seinem Herrn aufführte, war nicht in Ordnung. Er hielte die Augen offen, bis das blonde Weibsstück einen Fehler machte. Dann würde Janic dem Herrn die Augen öffnen und dieser wäre dankbar.
* * *
Chiero Albacca
Viele Stunden blieb Semira im Lager und draußen wurde es dunkel. Die Lohnlisten der vergangenen Woche lagen vor ihm, doch Chiero schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit und das trübe Licht der einzelnen Öllampe hätte dazu auch nicht gereicht. Janic versuchte, ihn zum Schlafengehen zu bewegen, aber der Kaufmann winkte ab und trat ans Fenster. Draußen mussten die zahllosen Sterne des nördlichen Nachthimmels miteinander um die Wette funkeln, doch das unebene Glas der Butzen behinderte die Sicht. Er wusste nicht, weshalb er hier blieb, doch seine innere Unrast hielt ihn wach.
Das Geräusch des Riegels unterbrach sein Sinnieren. Im Schein einer magischen Lichtkugel huschte Semira aus der Türe. Auf halbem Weg bemerkte sie Chiero und hielt inne.
„Eine Hügellandschaft. Grün, mit Olivenhainen und Weingärten, dazwischen einzelne Gehöfte und kleine Dörfer. Sagt Dir das etwas?“
Chiero riss sich von ihrem Dekolleté los, das sich mit ihrem Atem hob und senkte. Geschäfte, redete er sich ein. Es geht nur um Geschäfte. „Wie, nein, ich weiß nicht.“ Er rang um seine Fassung und wandte den Blick ab.
„Die Ansiedlungen liegen auf den Hügelkuppen.“, fuhr sie aufgeregt fort. „Weit im Süden ist eine weiße Bergkette zu sehen, davor eine weite Ebene.“
Der Händler grübelte. „Das könnten die Chantas sein. Warum?“
„Was wären unsere Elixiere dort wert?“
Während er überlegte, verfing sich sein Blick in ihren Augen. „Der weite Weg, die Risiken, die Zölle. Rand und Bethan sind von dort gut erreichbar, Hesgard auch. Das Vier- bis Fünffache schätze ich, die verbotenen Tinkturen vielleicht mehr.“
Sie dachte nach, rechnete. Gerade, als er sie vor Schmuggelfahrten ins Kaiserreich warnen wollte, platzte sie heraus: „Was hältst Du davon, wenn wir miteinander reich werden?“ Sie missdeutete sein Zögern und strahlte ihn an. „Also Du ein bisschen und ich richtig.“
„Du kannst die Chantas nicht übers Meer erreichen“, wandte er ein. „Die Küste ist unwegsam, voll von vorgelagerten Klippen und anderen Widrigkeiten. Außerdem gibt es Piraten und Patrouillen der kaiserlichen Marine. Die wenigen Landestellen werden wahrscheinlich schon von Schmugglern genutzt. Schlags Dir aus dem Kopf.“
„Mit dreihundert Goldstücken wären wir im Geschäft.“ Das sanfte Streicheln ihres Zeigefingers unter seinem Kinn bereitete seinem Bemühen sich auf Einwände zu konzentrieren ein Ende.
„Bitte“, fügte sie mit einem Augenaufschlag hinzu.
ERU steh mir bei, dachte er und ging in Gedanken seine Abrechnungen durch, um sich nicht völlig in seinem Verlangen nach der schönen Magierin zu verlieren, die ihn so unverhohlen und zugleich verspielt umgarnte.
* * *
Liberna Radina
Die ehrwürdigen Gebäude des Weinguts Castelgionda warfen lange Schatten, und die Hitze des Tages wich einer angenehmen Wärme. Die Bruchsteinmauern gaben die gespeicherte Glut ab und hielten die Kühle des beginnenden Herbstes bis weit in die Nacht fern. Die rhythmischen Gesänge der Männer und die Klänge einer Gitarola begleiteten die Frauen und Mädchen, die in einem großen Bottich die Trauben stampften, und Gelächter kündete von der ausgelassenen Stimmung, die das Weinfest begleitete. Die Frauen hatten die Röcke hochgerafft und ihre Schenkel schimmerten im Glanz des Traubensaftes.
Liberna Radina schmunzelte. Falls einer der Männer ein Auge auf ein Mädchen geworfen hatte, wäre heute der Tag, an dem sie sich ihm nicht verweigerte. So wollte es der Brauch der Chantas.
Das Weinfest, an dem sich Liberna ihrem späteren Gemahl zum ersten Mal hingegeben hatte, lag lange zurück. Vier Kinder hatte sie Gendar geboren: Lyon, ihr Ältester, der seiner Frau mit leuchtenden Augen beim Bottichtanz zusah und selbst schon zwei Kinder hatte, Marya, die vor drei Jahren in ein anderes Gut der Chantas eingeheiratet hatte, Lanka, ihre freiheitsliebende, jüngere Tochter und Tonio, ihr Jüngster, der gerade das heiratsfähige Alter erreicht hatte. Mal sehen, ob ihm Eine gefällt, dachte sie. Könnte nicht schaden, wenn sein Interesse erwacht.
Während sie zum Festplatz schlenderte, bemerkte sie eine Bewegung beim Gesindehaus. Dann erkannte sie Finn, einen der Knechte, doch die Frau in der zweckmäßigen Kleidung einer fahrenden Händlerin war ihr fremd.
Hübsch, dachte sie. Nein, schön, korrigierte sie sich, als die Fremde ins Licht trat.
„Herrin, wir haben einen Gast“, sagte Finn und verneigte sich ehrbietig. „Sie möchte Euch sprechen.“
„Danke Finn, es ist gut“, erwiderte sie und wandte sich an die Besucherin: „Ich bin Liberna Radina, willkommen auf Castelgionda.“
„Mein Name ist Raffaella. Raffaella ya Carano“, erwiderte die Fremde. Ihr feiner Akzent erinnerte an die Aussprache der nördlichen Reiche. „Ich möchte mit Euch ein paar Dinge besprechen, wenn Ihr erlaubt.“
Manieren hat sie, dachte Liberna, und die Augen sind bemerkenswert. „Feiert mit uns, wenn es Euch gefällt und Euer Anliegen bis morgen Zeit hat.“
Die Händlerin nahm die Einladung mit einem leichten Neigen des Kopfes an und folgte Liberna zum Festplatz.
* * *
Die Fremde fand sich rasch in das ausgelassene Treiben. Sie benahm sich ungezwungen, als wüsste sie nicht um ihre berauschende Wirkung auf die Männer. Schon bald stand sie im Bottich, mit nichts bekleidet, als einem leichten Unterkleid und trat Trauben, als hätte sie nie etwas anderes gemacht.
Liberna sah zu ihrem Sohn Tonio, der die hübsche Fremde mit den Augen verschlang. Sieh an, sieh an, schmunzelte sie. Vielleicht ist sie der Funke, der sein Feuer entfacht. Es konnte nicht schaden, wenn die Händlerin ein wenig auf dem Gut verweilte. Alles Weitere würde sich ergeben.
„Lyon! Lanka!“, rief sie lachend zu ihren Älteren hinüber. „Es wird Zeit, dass ich alte Frau Euch junges Volk alleine lasse. Achtet mir auf das Feuer, bevor Ihr zu Bett geht.“
Liberna Radina wusste um ERUs Macht, die sich heute Nacht entfaltete. Es war nur recht und billig, dass sie, als Herrin, nicht mitbekam, was in dieser Nacht noch geschähe. Sie lenkte ihre Schritte zu dem abgezäunten Viereck, in dem Gendar seit vier Sonnenläufen ruhte. Es war ein gutes Leben gewesen, das sie geführt hatten und für sie war es das noch.
Sie dankte UNA für ihre Gnade und wandte sich dem Haupthaus zu. Während sie zu Bett ging, drangen fröhliche Stimmen und schnelle Weisen an ihr Ohr. Liberna Radina schlief lächelnd ein und JANARA, die Göttin der Träume, meinte es gut mit ihr.
* * *
Tonio Radina
In Tonio loderte ein nie gekanntes Feuer. Seine Augen folgten der Unbekannten wie unter einem magischen Bann. Es war ihm, als wäre ERU selbst nach Castelgionda herabgestiegen, um seine Leidenschaft zu entfachen. Verlegen trat er von einem Fuß auf den anderen, während er versuchte unbefangen zu wirken. Raffaella, strich der Name lockend durch seine Gedanken.
Er sah zu Lyon. Zunächst vermeinte er Spott zu erkennen, aber sein Bruder nickte ihm mit einem Seitenblick auf die Fremde aufmunternd zu.
Der Feuerschein verlieh der Händlerin ein unwirkliches, überirdisches Aussehen und Tonio konnte den Druck in seiner Hose nicht länger ignorieren. Er trat an den Bottich und fiel in das aufpeitschende Händeklatschen ein, mit dem schon andere junge Männer die Damen ihres Herzens anfeuerten. Cyrus, einer der Knechte, warf ihm einen finsteren Blick zu, stellte sich neben ihn und klatschte ebenfalls für die schöne Fremde. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre das gegenüber dem Sohn der Matriarchin ungebührlich gewesen, aber die Nacht des Weinfests hatte ihre eigenen Regeln. Tonio nahm die Herausforderung an.
Raffaellas Bewegungen wurden eckiger, als die ungewohnte Anstrengung ihren Tribut forderte. Sie hielt inne und wandte sich den Männern zu. Mit einem Lächeln streckte sie jedem einen Arm entgegen und vermied damit eine frühzeitige Entscheidung. Die Rivalen hoben sie mit Leichtigkeit aus dem Bottich, doch als ihre Beine den Boden berührten, gaben ihre Knie nach. Sie taumelte gegen Tonio, der sie bereitwillig auffing.
„Danke“, hauchte sie, während sie sich an seiner Brust abstützte. Sein Herz machte einen Sprung. Er schnitt Cyrus eine Grimasse, die sogleich einfror, als sich Raffaella dem Knecht zuwandte.
„Auch Euch aufrichtigen Dank, junger Mann“, drang ihre Stimme an Tonios Ohr, während ihre Lippen Cyrus‘ Wange streiften. „Ihr seid?“
Geschieht Dir recht, dachte Tonio, als der Knecht nicht einmal seinen Namen herausbrachte, doch die schöne Händlerin ließ nicht locker: „Erklärt mir mal die Spielregeln von Eurem hübschen Fest. Ich will ja nicht schon am ersten Abend in den Fettnapf treten.“ Sie funkelte Cyrus an und dann Tonio.
„Also, es gibt keine Regeln“, stammelte er.
„Nur eine“, ergänzte der Knecht. „Was immer heute Nacht passiert, ist morgen vergessen.“
„Die Regel gefällt mir“, bemerkte sie. Ihr Lächeln verbreiterte sich zu einem spitzbübischen Grinsen. „Ich möchte mir die Sterne ansehen. Kennt Ihr ein abgelegenes Plätzchen, wo der Feuerschein nicht so stört?“ Züchtig, fast scheu, senkte sie den Blick. „Ihr werdet doch ein einsames Mädchen heute Nacht nicht alleine lassen?“
Die Männer funkelten sich an und nahmen eine bedrohliche Haltung ein. Keiner wollte zurückweichen, aber Tonio schlotterten die Knie, da Cyrus kräftiger war als er. Andererseits wusste er, dass Raffaella ihn begehrte. Als die Spannung unerträglich wurde, spürte er eine warme Hand unter seinem Hemd, die ihn sanft gegen den Bottich schob, und Cyrus erging es nicht anders.
Sie sprach fast unhörbar und doch unwiderstehlich: „Bitte vertragt Euch. Ich habe eine bessere Verwendung für Eure Kräfte.“ Er spürte ihren Atem an seinem Ohr und sein Puls raste.
„Die Laube hinter dem Speicher“, keuchte Cyrus.
Hand in Hand verschwanden die drei in der Nacht.
* * *
Liberna Radina
Die Frauen musterten sich abschätzend. Eine Magd trug aufgeschnittenen Speck, Käse und Weißbrot mit frischen Tomaten auf. Als sie sich zurückgezogen hatte, brach Liberna das Schweigen: „Was schwebt Euch vor?“
„Frau Radina, ich hätte mehrere Anliegen. Oder eher Vorschläge, wenn Ihr erlaubt.“
Ich muss auf der Hut sein, dachte die Gutsherrin. Ihr Auftreten verriet mehr Erfahrung, als ihre Jugend vermuten ließ. Vor Jahren hatte ein Händler aus Hesgard versucht, sie mit einer hinterhältigen Vertragsklausel um den Ertrag einer ganzen Ernte zu bringen. Die Knechte hatten ihm handfest beigebracht, dass man auf Castelgionda keinen Amtmann brauchte, um die Rechte der Madrona zu wahren und der Schurke hatte sich nie wieder blicken lassen.
„Lasst hören.“
„Ich möchte mich hier niederlassen und ein Handelsgeschäft aufbauen. Wenn ich mich auf Wein und Olivenöl spezialisiere, kann ich Euch bessere Preise machen als Eure aktuellen Partner. Falls ich mit Eurer Unterstützung noch andere Gehöfte unter Vertrag bekomme, wird es für alle einträglich.“
„Ich muss Euch warnen, mein Kind“, erwiderte Liberna. „Ihr seid nicht die Erste, die hier ein Geschäft aufziehen möchte. Die Menschen der Chantas tun sich mit dem Weinbau leichter, als mit Handel und Geld.“
„Trifft sich gut“, lachte die Händlerin. „Ich stamme nicht von hier und ich habe nichts gegen Geld. Ich möchte einen Schuppen mieten, wo ich ein Fuhrwerk und ein paar Waren unterstellen kann.“
Liberna wurde misstrauisch. Warum hier? Die nächste größere Straße ist etliche Wegstunden entfernt. Der Ort taugt nicht für ein Fuhrgeschäft.
„Ich werde einen besseren Stützpunkt brauchen, weiter unten und näher an der Hauptstraße“, machte die blonde Frau einen Rückzieher – und nahm damit Libernas Einwand vorweg. „Es ist nur so, dass mir die Gegend hier zusagt – und Eure Gastfreundschaft“, setzte sie leiser nach, und Liberna glaubte, ein flüchtiges Erröten zu erkennen.
„Ich habe einen Schuppen und ein Zimmer, wenn Ihr wollt. Über den Preis werden wir uns einigen.“ Sie bot ihre Rechte und die Jüngere schlug ein. „Willkommen auf Castelgionda. Eines müsst Ihr noch wissen: Es gibt hier ein paar Schmuggler. Harmlose kleine Fische, solange Ihr ihnen nicht in die Quere kommt. Haltet Euch einfach von Ihnen fern.“
„Danke, ich werde es beherzigen.“ Die Händlerin zögerte. „Der Turm am Hügel, gehört der zu Eurem Anwesen?“
„Ja, aber er ist komplett verfallen. Soll einem Zauberer gehört haben. Jetzt hat niemand mehr Verwendung dafür. Was ist damit?“
„Verkauft Ihr das Land? Die Aussicht von dort oben ist herrlich.“
„Verkauft wird hier gar nichts“, antwortete Liberna. „Das ist seit Generationen so. Was haltet Ihr von einem Pachtvertrag für hundertundeinen Sonnenlauf. Dort wächst sowieso nicht viel.“
„Ich danke Euch für Eure Großzügigkeit Frau Radina.“
„Sag Liberna zu mir“, bot die Ältere an. „Das ist einfacher.“
„Danke, Liberna. Ich bin Raffaella.“ Die ungleichen Frauen umarmten sich steif.
Die Händlerin war schon an der Tür, als Liberna sie zurückwinkte. „Darf ich Dich mit einer Bitte behelligen, die Dir vielleicht ungehörig vorkommt?“
Raffaella sah sie abwartend an.
„Mein Sohn, Tonio, er ist, also er hat noch nie …, na Ihr – Du … Du verstehst schon.“
„Nein.“
Liberna musste wohl oder übel deutlicher werden. „Vielleicht könntest Du ihm …?“
Wieder zögerte sie, doch Raffaella schien nicht zu begreifen. „Also Tonio hat noch nie eine Frau berührt. Ich mache mir langsam Sorgen.“
Jetzt war es heraus. Würde die Händlerin sie zurückweisen? Gerade noch war ihr die Bitte einfach erschienen, doch die Worte fühlten sich ungelenk und hohl an.
Die junge Frau reagierte sachlich, als hätte sie nach dem Preis für ein Fass Wein gefragt, und doch vermeinte Liberna ein abgründiges Schmunzeln zu erkennen. „Ersteres ist definitiv falsch. Zumindest seit letzter Nacht. Also brauchst Du Dir zweitens keine Sorgen zu machen: Mit Deinem Sohn ist alles in Ordnung. Drittens kann ich Dich dahingehend beruhigen, dass ich derzeit keine ernsten Absichten in Bezug auf Tonio hege. Sollte ich meine Meinung dazu ändern, weiß ich, dass ich das mit Dir zu verhandeln habe.“
Raffaella küsste sie flüchtig auf die Wangen und war zur Türe hinaus, ehe sie die Antworten geschlichtet hatte.
Was für ein freches Luder, dachte sie, nachdem der blonde Wildfang verschwunden war. Das Mädchen wird mehr Unruhe auslösen, als wir hier gewohnt sind. Ihr Blick wanderte zum Fenster und der vertraute Anblick der sonnendurchfluteten Weinberge erfüllte sie mit Kraft und Ruhe.
* * *
Silvio, Wanderer im geheimen Transportwesen der Chantas
Glitzernde Nachtlibellen tanzten in Schwärmen über die Hügel und der Geruch vermodernder Blüten der UNA-Kelche lag über den feuchten Wiesen. Silvio sah über die Schulter zurück. Die Umrisse der Grauwiesel, die in loser Reihe durch die Nacht marschierten, waren gerade noch erkennbar. Sie kannten den Pfad und durchwanderten das gewundene Tal des Furin mit schlafwandlerischer Sicherheit. Entfernt von größeren Fuhrwegen führte das Flüsschen bis in die Ebene, wo es die Straße nach Bethan querte. Dort, in einem kleinen Wäldchen, sollten sie Marik treffen, ihren Mittelsmann. Die Route war gut gangbar, aber einige Strecken waren für Pferde ungeeignet, und das Fortkommen mit Wagen war gänzlich unmöglich. Deshalb war der Weg für Händler von geringem Interesse und folglich auch für kaiserliche Patrouillen.
Am Ende der Reihe konnte Silvio Lysandras zarte Gestalt ausmachen. Ihr Rucksack wirkte größer als sie selbst, und wer sie nicht kannte, traute ihr die Anstrengung nicht zu. Seine Augen wanderten zum Himmel, als der Mond durch die Wolkendecke brach. Silvio fluchte leise. Wäre er mit Lysa alleine, wüsste er die stille Schönheit der Nacht zu schätzen, aber für ihr heutiges Unternehmen war es zu hell.
Hoffentlich taugte Mariks neuer Kontakt etwas. Wenn sie schon fünf Nächte wie Maulesel bepackt durch die Chantas marschierten und ihre Haut riskierten, sollte sich die Tour zumindest auszahlen. Früher brachten die Gänge mehr ein, doch seit einiger Zeit verdarb jemand die Preise. Zumindest war das Mariks Erklärung, als er ihn zur Rede gestellt hatte. Andererseits hielten sich Gerüchte, wonach die Kaiserlichen fleißiger waren oder auch nur erfolgreicher. Angeblich hatten sie eine Gruppe der „Nachtmarder“ aufgegriffen und nach den Berichten eines fahrenden Barden waren sechs Schmuggler am Sirfaner Marktplatz gehenkt worden. Unbehaglich fasste sich Silvio an seinen Hals.
* * *
Zwei Nächte später waren sie am Ziel. Lysa setzte ihre Last ab und schlich geschmeidig über einen schmalen Wiesenstreifen. In dieser Nacht hatte ANRADA ein Einsehen, sorgte für eine dichte Wolkendecke und die Rothaarige verschmolz nach wenigen Schritten mit der Nacht.
Kurz darauf hörte Silvio ihren leisen Pfiff und setzte sich mit den übrigen Wieseln in Bewegung. Der Umriss des Wäldchens schälte sich aus der Dunkelheit. Er zuckte zusammen, als eine Gestalt auftauchte, doch es war nur Lysa.
„Wirst‘ doch nicht schreckhaft werden“, kicherte sie und übernahm die Führung. Hier, im Unterholz, schätzte er ihre Fähigkeit bei geringstem Licht noch zu sehen.
Normalerweise lachte er über das Gerede, sie hätte elbisches Blut in den Adern. Ihr Gesicht wies keine der Missbildungen auf, die der Volksmund mit den unheimlichen Waldbewohnern der Legenden verband. Er konnte bei ihr jedenfalls keinerlei Anzeichen einer elbischen Abstammung erkennen, was aber auch daran liegen konnte, dass er noch nie einen Elben gesehen hatte. Genau genommen hatte noch niemand einen Elben zu Gesicht bekommen, doch das tat den Legenden über sie keinen Abbruch. In solchen Nächten, in denen er selbst kaum seine Hand vor Augen sah, während Lysa sicher und lautlos durch das dunkle Gehölz glitt, glaubte er jedenfalls daran.
Endlich sah er den schwachen Schein einer Blendlaterne. Mariks massige Gestalt trat aus dem Schatten einer Kiefer. „Habt ihr Alles?“, zischte er.
„Ja“, antwortete Silvio. „Hast Du das Geld?“
„Besser“, kam die unerwartete Antwort. „Unser neuer Kontaktmann ist hier.“
Silvio zog seinen Dolch, während er die Ränder der Lichtung absuchte. „Bist Du wahnsinnig jemanden hierher zu bringen?“ Die Leute murrten und im schwachen Schein der Laterne blitzten Klingen auf. Das Wäldchen war seit Jahren ihr Umschlagplatz und Mitwisser waren gefährlich.
Ungeachtet der gereizten Stimmung glitt eine Gestalt aus den Baumschatten, deren Gesicht unter der Kapuze des dunklen Umhangs verborgen lag.
Abwarten, wen Marik da angeschleppt hat. Wenn das wieder so ein verwöhntes Balg ist, bring‘ ich ihn gleich um, dachte der Schmuggler. Vor zwei Jahren hatten sie sich mit dem Söhnchen eines Barons eingelassen, das den Nervenkitzel suchte. Seine Ungeschicklichkeit zog zu viel Aufmerksamkeit auf sie, aber es ging damals gerade noch gut aus. Henrik sähe das zwar anders, aber seine Meinung zählte seit jener Nacht nichts mehr. Silvio wusste nicht einmal, wo die Zöllner seine Leiche verscharrt hatten.
Der Unbekannte hob beschwichtigend die Arme, und zu Silvios Verwunderung beruhigten sich die Schmuggler fast augenblicklich. „Marik, wie viel bekommen die Leute?“ Obwohl der Fremde flüsterte, klang die Stimme melodisch. Eine Frau?
„Dreißig Silbertaler“, antwortete Marik leise.
„Dreißig? Für Alle? Kein Wunder, dass sie unzufrieden sind.“
Die Frau, da war sich Silvio jetzt sicher, sprach ihm aus der Seele. Dreißig lächerliche Silbertaler für zwölf Männer und Frauen. Vier Nächte unterwegs, dazu der Rückweg – jeder Handwerker in Bethan verdiente mehr und war nicht ständig in Gefahr. Dennoch verwunderte ihn die Offenheit, mit der die Fremde das heikle Thema ansprach. Marik pflegte die Preise mit fadenscheinigen Ausflüchten zu drücken, um seinen eigenen Profit zu erhöhen.
„Wie viele seid Ihr?“, wandte sich die Frau an Silvio.
„Acht“, antwortete er nach kurzem Zögern. Vorsicht war besser als Nachsicht und die Fremde musste noch nicht alles wissen.
„Nein, mit den Vieren, die dort hinten im Unterholz stecken.“
Verdammt, dachte er und biss sich auf die Lippen. Die sieht noch besser, als Lysa. Die Idee, jemand könnte seine Gedanken lesen, war ihm ähnlich fern wie der Verdacht, sein Gegenüber verstünde sich auf Magie. „Zwölf“, korrigierte er widerwillig. „Wir sind zwölf.“
„Gut“, sagte sie sanft. „Das wären die dreißig Silbertaler und noch einmal fünf für Jeden. Macht zusammen neunzig, aber ich will ich die Ware sehen.“
Silvio vernahm das Klingen von Silber, als die Fremde zwei Beutel aus ihrem Umhang fischte. Ihre Bewegung trug einen irritierenden Duft an seine Nase, exotisch, geheimnisvoll und doch unaufdringlich.
„Wenn Ihr so nett wärt, den Dolch wegzustecken, könntet Ihr mir das abnehmen.“ Sie klang belustigt, während sie die Geldbeutel vor seinem Gesicht baumeln ließ. Unter der Kapuze blitzten weiße Zähne und blondes Haar.
„Tropenholz, Seifen, Rum, ein paar Gewürze – kein Wunder, dass Ihr Eure Leute knapp haltet, mein lieber Marik.“
„Ich muss nehmen, was bis zur Küste durchkommt“, antwortete er zögerlich. „Ich kann ja nicht zaubern.“
„Schon gut, ich nehme Euch den Plunder ja ab“, beschwichtigte sie. „Fürs Erste will ich mich in der Stadt sowieso nach Handelspartnern umsehen, aber ich könnte mir vorstellen, dass wir nächstes Mal den Einsatz erhöhen.“
Silvio spürte ihr Lächeln mehr, als er es sah. Lysandras Ellbogen krachte in seine Rippen. „Starr sie nicht so an“, zischte sie in sein Ohr.
„Hab‘ ich doch gar nicht“, flüsterte er, wissend, dass sie Recht hatte. Eifersüchtige Zicke. Gleichzeitig ertappte er sich dabei, auf ein weiteres Aufblitzen des Gesichts unter der Kapuze zu hoffen.
* * *
Lysandra, Wanderin im geheimen Transportwesen der Chantas
Die Rothaarige fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Sie zog den Schal fester und sah den Wolken ihres Atems nach. Hier, in den tieferen Lagen, fiel nur selten Schnee, aber der plötzliche Kälteeinbruch erinnerte sie daran, dass die Herrschaft des Winters noch nicht gebrochen war. Dabei lag es weder an der Kälte noch an dem aufgeweichten Boden, dass Lysandra mit sich und dem Rest der Welt haderte. Seit vor einem halben Jahr diese Städterin aufgetaucht war, hatte sich vieles geändert, zum Besseren, wie sie widerwillig zugab. Die Lasten waren leichter, brachten mehr ein und die Fremde zahlte pünktlich.
Giftig sah sie zu Silvio hinüber. So sehr er sich um sie bemühte, konnte er sein Interesse für die Händlerin doch nicht verleugnen. Lysandra wäre keine Frau, spürte sie seinen Zwiespalt nicht. So konnte sie auf seine Avancen auch verzichten. Sollte er doch sehen, ob ihm das blonde Luder auch die Stiefel auszöge oder das Essen zubereitete. Jedenfalls sah sie nicht danach aus. Männer! Wütend trat sie einen Stein beiseite. Von einer spritzenden Schlammfontäne begleitet, flog er in hohem Bogen über die Böschung.
„Au! Passt doch auf!“, tönte es von der unteren Wegschleife. Die Stimme könnte Keres gehören oder auch Gregan. Sie widerstand dem Reflex nachzusehen. Sie sah keine Veranlassung, den vorne marschierenden Wieseln zu offenbaren, wer den Stein losgetreten hatte.
* * *
Während einer Rast hockte sich Silvio zu ihr und wollte ein Gespräch beginnen. „Ist Dir Marik bei unserem letzten Treffen auch seltsam vorgekommen?“
Lysandra überlegte. Auch sie fand Mariks Benehmen befremdend und wollte das auch mit Silvio besprechen, ging ihm aber trotzdem aus dem Weg. Na gut, dachte sie. Reden wir halt, doch sein Blick lag schon wieder in der Ferne. Klar. Wir überlegen uns, wie wir die Blonde ins Bett bekommen. Und ich dumme Kuh wollte mich gerade auf ein Gespräch einlassen.
„Wahrscheinlich war Marik damit beschäftigt nachzudenken, wie er sie vor Dir herum kriegt!“, fuhr sie ihn an.
Sein dümmlicher Gesichtsausdruck stachelte sie noch an und sie setzte nach. „Geh davon aus, dass sie ihn schon ran gelassen hat. Glaubst Du, er hätte sie einfach so am Geschäft beteiligt?“
Silvio starrte sie entgeistert an. Recht so, dachte sie. Jetzt hast du was zum Nachdenken.
Der Schmuggler trollte sich zur anderen Seite des Lagerplatzes und nahm seinen Rucksack auf. „Los! Wir müssen weiter.“
Wusste ich doch, dass Dich das beschäftigt, dachte sie, doch die erhoffte Genugtuung wollte sich nicht einstellen.
* * *
Den Rest des Tages hielt sich Sylvio von ihr fern, und auch die übrigen Wiesel begriffen, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen war. Selbst die hängenden Wolken passten zu ihrer Stimmung. Während sie mürrisch einen Fuß vor den anderen setzte, grübelte sie über Marik, konnte aber nicht sagen, was sie an ihm störte. Sie sollte das mit Silvio besprechen, doch der würdigte sie keines Blickes.
Schließlich erreichten sie das Wäldchen einige Stunden zu früh und lagerten in einem kaum zugänglichen Dickicht. Lysandra verspürte noch immer keine Lust auf Gesellschaft und zog sich hinter einen Maulbeerbusch zurück. Trotz des Wetters schaffte sie es, sich halbwegs trocken einzurichten.
Wo war die Zeit, als sie die Landschaft des Chantas, die Abwechslung der Jahreszeiten oder auch den Marsch selbst einfach nur genießen konnte? Was hatte ihr Verhältnis zu Silvio gestört? In ihren Gedanken erschien ein schönes, geheimnisvolles Gesicht und beantwortete die Frage eindeutiger, als ihr lieb war. Lysandra zog einen Grashalm durch ihre Finger. Sie spürte den Schnitt kaum, den er hinterließ. Wütend stampfte sie auf. Ihre Lippen schlossen sich um den blutenden Finger. Gerne hätte sich gerne eingeredet, die aufsteigenden Tränen wären eine Reaktion auf den Schmerz, doch das wollte ihr nicht gelingen.
Da fiel ihr Blick auf den Rucksack. Ihre unverletzte Rechte spielte an der Verschnürung und ehe sie es sich versah, war ihre Hand in der Öffnung. Sie ertastete weiche Päckchen und andere, die kantige Fläschchen enthielten. Lysandras Finger umschlossen ein kleines Bündel.
Sie sah auf, aber keiner beachtete sie. Rasch zog sie das Päckchen heraus, schlug es auseinander – und erstarrte. Das Leder enthielt ein Geschmeide aus purem Gold, in so feiner Machart, wie sie es noch nie gesehen hatte. Kunstvoll gearbeitete Weinranken umschlangen ein sternförmiges Mittelstück, das ihren Blick in den Bann zog. Der Schmuck lag leicht wie eine Feder in ihrer Hand. Hastig schlug sie das Leder um das Geschmeide. Sie widerstand der Versuchung, das Päckchen in die eigene Tasche zu stecken. Die Grauwiesel waren ehrliche Schmuggler, und so sehr die Brosche sie faszinierte, wollte sie diesen Ruf nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
* * *
Farin, Novize an der Akademie des Kampfes zu Bethan
Missmutig beäugte der Novize den Lehm, der in zähen Klumpen an seinen Stiefeln klebte. Längst hatte er aufgehört, die Brocken während der spärlichen Rasten abzukratzen. Es war eine Auszeichnung, dass Magister Reimer ihn als Begleiter für seine Reise nach Sirfan erwählt hatte, aber der Marsch war um diese Jahreszeit anstrengender als erwartet. Drei Schritte vor ihm marschierte Sylva mit federnden Schritten durch den Matsch. Weder der tiefe Grund noch der weite Weg schienen ihrer Laune etwas anzuhaben. Sie wollte sich mit ihrer aufgesetzten Fröhlichkeit bei Reimer einschleimen.
Er hatte nie verstanden, was der Lehrer an ihr fand. Beim Zaubern hatte sie den einen oder anderen lichten Moment, doch in den theoretischen Fächern war sie schlecht. Eine Zeit lang hatte er sich gefragt, ob sie an ihrer Borniertheit oder an ihrer Faulheit scheiterte, kam dann aber zu dem Schluss, dass er als Jahrgangsbester über solchen Überlegungen stand. Wahrscheinlich schenkte ihr Reimer so viel Aufmerksamkeit, damit sie nicht völlig verzweifelte. Die Schwäche des Magisters für Verlierer war hinlänglich bekannt.
Der Lehrer hielt an und wartete auf seine Schützlinge. „In einer Stunde erreichen wir das kleine Gasthaus, in dem wir auf dem Hinweg übernachtet haben. Schafft Ihr noch eine Etappe oder lassen wir’s damit gut sein?“
Farin keuchte: „Ich denke, das schaffe ich noch, Herr Magister.“
Die hochgewachsene Sylva schmunzelte, als wollte sie sich über ihn lustig machen, lenkte aber ein. „Ich denke, wir sollten es dabei belassen.“
„Wie gefällt Euch unser Ausflug?“, erkundigte sich der Lehrer, während er wieder in seinen flotten Marschtritt verfiel.
Sylva wollte antworten, doch Farin kam ihr zuvor: „Sirfan war nett, aber im Vergleich zu Bethan doch armselig. Was kann es dort geben, was wir zu Hause nicht haben?“
„Bescheidene, höfliche Menschen vielleicht“, entgegnete Reimer. „Du solltest Harinas Buchladen nicht für gering erachten. Ich habe dort schon so manches seltene Werk erstanden.“ Der Novize wollte etwas erwidern, aber der Magister sprach weiter: „Sirfan, Zweimühlen, Birkenweiler und wie sie alle heißen. Das ist das Reich, das wir verteidigen. Dort leben die Untertanen unseres Kaisers. Glaubst Du, nur die Bewohner von Palästen verdienen unsere Achtung und unseren Schutz?“
Farin zuckte die Achseln. Reimer hing überholten Idealen nach. Farins Vater verdiente mit dem Begleitschutz großer Handelszüge ein Mehrfaches vom Salär eines Lehrers. Einmal hatte der Novize die Verpflichtungen angesprochen, die in Bethan gelehrt wurden. Da hatte sein Vater gelacht, auf die Raubüberfälle verwiesen, die er mit seiner Tätigkeit für die reichen Kaufleute verhinderte und das Gold, das er damit verdiente.
„Überdies wollte ich Euch Grünschnäbeln die Gelegenheit geben vor Eurer Prüfung noch ein wenig frische Luft zu atmen“, sagte Reimer und Farin hoffte, die Moralpredigt wäre damit zu Ende.
* * *
Der Magister hielt an und wies auf eine kleine Ansammlung am Weg vor ihnen. Farin erkannte Soldaten, Zivilisten, zwei Wagen und ein paar Pferde. „Vorsicht“, mahnte Reimer. „Wir wissen nicht, womit wir es zu tun haben.“ Langsam gingen sie weiter.
Eine stämmige Frau in der Uniform der Grenzreiter löste sich aus der Gruppe. „Magier! Euch schicken die Götter.“ Die Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Mit Eurer Hilfe schaffen wir es sicher.“
Farin sah zu Reimer, der seinerseits die Grenzerin taxierte. Sylva wirkte hingegen erregt. Sie erhoffte sich wohl jenes Abenteuer, von dem sie seit ihrem Aufbruch schwärmte. Farin konnte er ihre hochgespielte Aufregung nicht nachvollziehen, obwohl auch er eine Unruhe verspürte.
Einige Fuhrleute wollten wissen, wann es weiterginge, doch die Grenzerin blockte ab. Sie ging zu den übrigen Soldaten und winkte einen Zivilisten heran. Trotz seiner beflissenen Art empfand ihn Farin als schmierig.
„Entschuldigt meine Unhöflichkeit, Meister“, wandte sie sich an den Magier. „Ich bin Weibelin Kornmüller. Sarina, wenn Ihr wollt. Das ist Marik.“ Sie wies auf den Zivilisten. „Er hat uns von einer Gruppe Schmuggler berichtet, die sich in dem Wäldchen da vorne verkrochen haben sollen. Es ist unsere Pflicht diese Verbrecher zu stellen, aber wir sind in der Unterzahl, und ich setze das Leben meiner Männer und Frauen nicht leichtfertig aufs Spiel. Im Wald können wir unsere Bögen und die Lanzen nicht effektiv einsetzen. Meine Jungs und Mädels würden mit der Bande schon fertig, aber das gäbe Verluste. Außerdem könnten sich die Schurken ins Unterholz verdrücken.“ Weibelin Kornmüller kam auf den Punkt: „Haltet uns nicht für feige, aber Eure Hilfe wäre willkommen.“
Farin sah zu Reimer, der das unverschämte Anliegen der Grenzerin gleich zurückweisen musste. „Gut, ich helfe Euch“, sagte der. „Vielleicht geben sie auf, wenn ich mich zu erkennen gebe und ihr könnt sie samt ihrer Ware einsammeln.“
Sylva trat von einem Fuß auf den anderen, als freute sie sich auf ihren ersten Kampf, doch Reimer dämpfte ihre Begeisterung: „Ihr haltet Euch im Hintergrund. Bleibt außer Bogenschussweite, seht zu und lernt. Magieanwendung ist nur im Notfall gestattet, um Euch zu verteidigen.“
Närrisches Weib, dachte der Novize. Was nutzt dir eine Keilerei mit dahergelaufenen Straßenräubern, wenn du die Prüfung sowieso nicht schaffst.
Gelangweilt beobachtete Farin, wie sich die Grenzer dem Wäldchen näherten. Die Männer und Frauen pirschten geduckt durch das hohe graubraune Gras, achteten auf gleichmäßige Abstände und hielten ihre Reiterbögen schussbereit. Die Weibelin hielt sich im Zentrum der kleinen Formation, und Magister Reimer folgte mit einigen Schritten Abstand.
„Vorgehen in aufgelockerter Schützenkette“, murmelte Farin mit einem Seitenblick auf Sylva. „Kommandant im Zentrum, unterstützende Magier dahinter.“ Er bezweifelte, dass sie die Fachbegriffe aus dem Taktik-Unterricht behalten hatte oder gar den Sinn der Formation verstand. Ausgeführt von gerade einmal sechs Soldaten, wirkte das Ganze sowieso lächerlich.
Eine Distel verfing sich in Farins Robe. Ein erster, zaghafter Befreiungsversuch blieb erfolglos. Er zerrte heftiger, und der Saum gab mit protestierendem Knirschen nach. Magier gehörten nun einmal in eine Schreibstube oder ein Labor, nicht auf einen nassen, kalten Acker. Er fluchte leise.
„Still“, zischte Sylva. Die Novizin schien den Zwischenfall ernst zu nehmen, obwohl sie nur zusehen durften, falls es überhaupt etwas zu sehen gäbe.
Der Schrei eines aufgestörten Hähers fuhr Farin bis ins Mark. „Mistvieh!“, schimpfte er. Das fehlte noch, dass er sich von ihrem nervösen Getue anstecken ließ.
* * *
Drei Zehntelstunden später arbeiteten sich die Grenzer durch den Wald, doch es gab keine Spur von Schmugglern. Die waren längst über alle Berge. Farin marschierte inzwischen aufrecht und mitunter geräuschvoll durchs Unterholz. Seine Beine spürte er sowieso kaum noch, wenn sie nicht gerade schmerzten. Sylva hingegen bewegte sich betont leise und unauffällig. Ihre kindliche Begeisterung erinnerte ihn an die Räuber und Grenzer-Spiele, die er als Bub gemocht hatte. Jetzt war er erwachsen.
An einer Lichtung hielten die Soldaten an. Farin wäre in sie hineingerannt, hätte Sylva ihn nicht zurückgehalten. Die Grenzer hoben ihre Bögen und dann zischten Pfeile in das gegenüberliegende Dickicht. Farin konnte nicht ausmachen, worauf sie zielten.
„Schwerter“, befahl Kornmüller gedämpft.
Die Soldaten rannten los und eine Grenzerin kippte schreiend nach hinten. Ein gefiederter Schaft ragte aus ihrer Schulter. Als ob dies ein Signal gewesen wäre, erhob sich ein ohrenbetäubender Lärm. Wilde Gestalten brachen aus dem Unterholz und stürmten Kornmüllers Truppe brüllend entgegen.
Reimer ließ den ersten Schockzauber los. Drei oder vier Banditen wurden umgestoßen und der Ansturm geriet ins Wanken. Es bedurfte einer disziplinierten Truppe, um gegen einen Weißen Magier zu bestehen. Damit war hier nicht zu rechnen, und der Kampf wäre rasch entschieden.
Sylva näherte sich der Lichtung, und Farin rief, sie solle stehenbleiben. Sie sah herüber und er deutete ihr, sich zurückzuhalten.
Als er sich wieder dem Gefecht zuwandte, hatte sich die Lage dramatisch verschlechtert. Die Grenzer waren in Einzelgefechte gegen zwei oder auch drei Gegner verwickelt und hatten einen schweren Stand. Dann erkannte Farin, was schief gelaufen war: Die magische Unterstützung fehlte. Reimer stand starr auf der Lichtung und rührte keinen Finger. Fassungslos beobachtete Farin, wie einer der Grenzer unter den wilden Angriffen einer quirligen Rothaarigen zu Boden ging. Die Schmuggler jubelten.
Soll das Alles gewesen sein? Werde ich in diesem götterverlassenen Wäldchen sterben? Gefällt von der rostigen Klinge eines mordgierigen Banditen? Wieso hat sich Reimer auf dieses dumme Unternehmen eingelassen? Warum, in TANIS Namen, hat er mich mit hineingezogen? Vermutlich sollte er weglaufen, aber wie weit käme er mit seinen müden Beinen schon?
„Da ist sie!“, schreckte ihn Sylvas Stimme auf.
Sein Blick folgte ihrem gestreckten Arm zu einer schlanken blonden Frau am gegenüberliegenden Waldrand. Obwohl sie sich in ihrer Kleidung nur wenig von ihren Kumpanen unterschied, stach sie in Haltung und Aussehen hervor. Ihre Linke war nach Reimer ausgestreckt und ihre Finger deuteten einen Würgegriff an. Obwohl der Zauber Farin fremd war, erkannte er darin die Ursache für die völlige Lähmung des Magiers.
„So nicht, meine Liebe“, zischte Sylva. Ihre Rechte stieß vor: „Kälte!“
Gar nicht dumm, dachte Farin. Der Zauber würde die Blonde nicht töten, vielleicht nicht einmal ernsthaft verletzen, musste aber ausreichen, ihren Bann zu brechen.
„Scheiße!“, fluchte Sylva und Farin erschrak. Die feindliche Magierin war unversehrt, während sich Reimers Gesicht mit den hauchfeinen, für den Kältezauber typischen Eiskristallen überzog. Der Würgegriff beinhaltete eine gemeine Falle, die für einen ableitenden Schutz sorgte.
„Wir müssen weg!“, kreischte er. „Wenn Du sie angreifst, bringst Du Reimer um!“ Ohne magische Unterstützung mussten die vier noch kämpfenden Grenzer der Übermacht erliegen.
„Feuerlanze!“, rief Sylva zu Farins Entsetzen.
Dreht sie jetzt durch? Ihr Zauber musste den gelähmten Magister verletzen oder gar töten.
Zu Farins Verwunderung brüllte einer der Schmuggler vor Schmerz, als sich der feurige Strahl in seine Seite fraß.
„Feuerlanze!“
Wieder schrie eine Kämpferin auf und ließ wimmernd von ihrem Gegner ab.
„Hilf mir!“ Sylvas linke Faust traf seine Schulter und er begriff. Die feindliche Magierin musste sich auf Reimer konzentrieren, um ihren Zauber aufrecht zu halten und diese Taktik neutralisierte nicht nur ihr Opfer.
„Feuerlanze!“ Farin griff in den Kampf ein. Sie mussten ihre Kräfte einteilen. Die Angriffe waren zu schwach, um die Banditen zu töten, aber das war auch nicht notwendig.
„Feuerlanze!“
Panik erfasste die Schmuggler, die sich schon als sichere Sieger gesehen hatten. Ihr beginnender Rückzug mündete in einer wilden Flucht. „So ist‘s recht!“, rief der Novize hinterher. „Lauft nur!“ Das Hochgefühl des Sieges ließ ihn seine Erschöpfung vergessen.
„Achtung!“ Sylvas Warnruf lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die fremde Magierin. Ihr Zauberstab war genau auf ihn gerichtet.
Die Kraft, die ihn von den Beinen riss und ins Unterholz schleuderte, fühlte sich fremdartig und unwirklich an. Etwas schlug gegen seinen Rücken und ein dürrer Ast gab krachend unter ihm nach. Als er sich stöhnend aufrappelte, sah er Sylva neben sich liegen. Sie regte sich nicht, aber ihr Brustkorb hob und senkte sich. TANIS sei Dank, sie lebt, schoss es ihm durch den Kopf.
* * *
Es war vorbei. Eine leblose Gestalt lag anklagend im Zentrum der Lichtung. Sie trug die einfachen Kleider der Schmuggler. Drei der Grenzer waren schwer verletzt, würden aber dank der heilenden Kräfte der Magier überleben. Die übrigen hatten mehr oder weniger tiefe Schnittverletzungen erlitten. Weibelin Kornmüller blutete aus zwei klaffenden Wunden, hielt sich aber auf den Beinen. Sogar Magister Reimer war ohne ernsthafte Verletzung davon gekommen. Seine steifen Bewegungen rührten noch von Sylvas Kälteschock.
„Hilfe!“, krächzte Farin. Seine Stimme war ungewohnt rau. „Sylva braucht Hilfe!“
Reimer eilte herbei. „Hier“, keuchte Farin. „Hier liegt sie.“
Der Lehrer beugte sich zu seiner Schülerin und untersuchte sie mit kundigen Griffen. „Sie ist nicht ernsthaft verletzt. Sie schafft es ganz sicher. Gut gemacht. Alle beide.“
Farins Knie gaben nach. „Sie war es. Sie ganz alleine. Ich hatte nur eine Scheißangst.“ Der matschige Waldboden, der seine Robe durchnässte, war ihm genauso gleichgültig, wie die Tränen, die ihm über die Wangen liefen. Sein Vater hatte ihn nicht alles über das Leben gelehrt.
An eine Verfolgung war nicht zu denken. Die Soldaten machten sich auf den Weg zur Straße. Farin hielt sich neben Sylva, die vor Erschöpfung kaum gehen konnte. Von vorne hörte er, wie Weibelin Kornmüller auf Magister Reimer einredete: „Wenn dieser Marik gewusst hat, dass die Schweine eine Zauberin dabei haben, dreh ich ihm den Hals um. Ohne Euch wär’s uns dreckig gegangen.“
Reimers Antwort konnte er nicht hören, doch sie schien den Zorn der Grenzerin noch zu schüren. „Die hat Euch ganz schön vorgeführt“, geiferte sie. „Ohne Eure Schüler dahinten … Na jedenfalls knöpf ich mir diesen Marik vor.“
Sylva holte ihr Amulett hervor und betrachtete es nachdenklich. „Was ist damit?“, erkundigte sich Farin.
„Vor dem Kampf ist es warm geworden. Als ob es mich warnen wollte.“ Sylva zögerte. „Ich weiß auch nicht.“ Hastig ließ sie das Schmuckstück unter ihre Robe verschwinden.
* * *
Die verletzten Soldaten kamen nur langsam voran und die Dunkelheit brach herein, ehe sie die Straße erreichten. Zwei Stunden später trafen sie in der Wirtschaft ein, doch von Marik war nichts mehr zu sehen. Die übrigen Reisenden waren neugierig, und der Kampf gegen die Schmugglerbande war bald das einzige Thema. Der Wirt ließ es sich nicht nehmen, die Soldaten auf eine stärkende Mahlzeit und Bier einzuladen und hockte sich gleich dazu, um ja kein Detail zu verpassen.
Ein Händler spendierte eine Runde Gebrannten. „Endlich unternimmt mal jemand was. Das Ungeziefer verdirbt einem ehrlichen Kaufmann die Preise“, meinte er und ließ die Soldaten hochleben.
Magister Reimer wollte sich und seine Schüler im Hintergrund halten, aber Weibelin Kornmüllers Zunge saß nach ein paar Schnäpsen recht locker. „Ohne das Mädel da“, grölte sie und ihr erhobener Krug wanderte in Sylvas Richtung. „Ohne das Mädel wären wir jetzt ziemlich tot. Wir Alle meine ich. Also hauptsächlich.“ Die Novizin winkte ab, doch die Grenzerin ließ nicht locker: „Bin jetzt Deine Freundin, Mädchen! Wenn Du mal was brauchst, kommst Du zu mir! Sarina Kornmüller steht da ihre Frau, wenn Du weißt was ich meine!“
Die Weibelin betrank sich und angesichts des knappen Ausgangs des Kampfes nahm ihr das keiner übel. Schließlich schoben sie die Tische beiseite und breiteten die Strohsäcke für das Lager aus. Farin war zum Umfallen müde. Das letzte, was er hörte, war Sarina Kornmüllers unflätiges Grölen: „Gibt‘s hier keinen Kerl, der‘s einer tapferen Soldatin besorgt!“
* * *
Dion Angwar
Von all den Reisenden nach Bethan war Dior Angwar der unauffälligste. Als Schreiberling des Hofes in Hesgard sollte er die Namen der angehenden Magier in Rand und Bethan aufnehmen und an die Kanzlei für Reichsverteidigung übermitteln, doch diesmal hatte er einen zusätzlichen Auftrag. Gräfin Gerhild Finnstein, Reichsrätin und enge Vertraute des Kaisers, hatte ihn ersucht, nach ungewöhnlichen Novizinnen Ausschau zu halten. Es schien sich um eine Angelegenheit höchster Wichtigkeit zu handeln, und er fühlte sich geehrt, dass die Wahl auf ihn, den kleinen Schreiber, gefallen war.
Obwohl die Anhaltspunkte spärlich waren, konnten sie auf die Schwarzhaarige passen. Der Jahrgang stimmte und nach den Schilderungen der Soldaten war sie tüchtig. Er sah zu der jungen Frau, deren Finger gedankenverloren mit einem Amulett spielten. „Sylva“, prägte er sich ein. Es konnte der mutigen Novizin nicht schaden, wenn das Auge einer Mächtigen wohlwollend auf ihr ruhte.
* * *
Farin
Ein Fuhrmann bot den Magiern am nächsten Morgen eine Mitfahrgelegenheit an. An diesem Tag führte Farin das erste vernünftige Gespräch mit Sylva, seit er sie kannte.
Selbst Magister Reimer war erleichtert, als sich die vertrauten Umrisse der Akademie aus dem Nebel schälten. Erschöpft, aber guter Dinge marschierten die drei Zauberer durch das Haupttor.
In der Halle lief ihnen Magistra Esperia Feuerstaub über den Weg. Sie war in Gedanken versunken und beachtete sie nicht, doch plötzlich unterbrach sie ihren Schritt: „Ihr wisst es noch nicht?“
Was, wollte Farin fragen. Er schwieg, um nicht vorlaut zu wirken. „Was ist passiert?“, erkundigte sich Reimer beunruhigt.
„Der Kaiser ist tot“, brach es aus der Kampflehrerin hervor. „Kaiser Polanas ist tot.“
Farin spürte Tränen aufsteigen. Seine eigenen Erlebnisse, die ihm gerade noch auf der Zunge gebrannt hatten, waren mit einem Schlag bedeutungslos.
Magister Reimer kratzte sich am Kinnbart. „Rhodena?“, fragte er.
Die Magierin nickte. „Morgen brechen wir zu ihrer Krönung auf. Likandros, Du, ich, alle Novizen des Abschlussjahres.“
„Säubert Eure Roben, wascht Euch und ruht Euch aus“, befahl sie Sylva und Farin, ehe sie sich wieder an Reimer wandte: „Die Südfahrer muss hierbleiben und auf die Schüler und jüngeren Novizen aufpassen. Dementsprechend ist ihre Laune. Lauf ihr also nicht über den Weg. Bis morgen.“
„Lang lebe Kaiserin Rhodena!“, tönte Reimers kräftige Stimme durch die Halle. „Lang lebe Kaiserin Rhodena!“, fielen drei weitere Stimmen ein.
* * *
Magister Romero Retsin, Lehrmeister für Beherrschung zu Sourin
Romero Retsin schlenderte durch den Garten der Mariner Akademie. Für einen Moment erreichte ihn die Schönheit der Parkanlage, ehe er sich wieder auf die bevorstehende Aufgabe konzentrierte. Die Prüfungen erforderten Umsicht und Fingerspitzengefühl. Einerseits sollte er eine objektive Bewertung der Prüflinge sicherstellen, andererseits beeinflussten seine Beurteilungen das Machtgefüge innerhalb der Akademie und die Beziehungen zwischen den Schulen. Deshalb hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, bei Lehrern, aber auch bei Novizen des Jahrganges und sogar bei Bediensteten Erkundigungen über die Probanden einzuholen.
Besonders zwiespältig waren die Meinungen diesmal bezüglich einer Novizin namens Semira. Viele bewunderten sie, andere betrachteten sie mit Misstrauen oder gar Hass. Rijka von Sirnan, die Lehrmeisterin für Beherrschung, war von ihr überzeugt, ja geradezu begeistert. Sobald er die Anwärterin nur erwähnte, schwelgte sie bereits in höchsten Tönen über ihr herausragendes Talent und ihre natürliche Affinität zur Magie. Solch einseitige Beurteilungen waren der Grund, warum Examina der schwarzen Lehre grundsätzlich von Professoren anderer Akademien abgenommen wurden. Gleichzeitig ermöglichte dieses Vorgehen ein Mindestmaß des Austauschs.
Die Erkundigungen bei Semiras Gegnern ergaben ein anderes Bild von Rijkas Lieblingsschülerin. Sie vernachlässigte ihre Studien und fand es nicht der Mühe wert, an allen Lektionen teilzunehmen. Überdies unterhielt sie ein privates Quartier in der Stadt und blieb dem Unterricht oft tagelang fern. Sie war ein verwöhntes reiches Gör, das sich, neben einem gewissen Maß an Talent, vor allem durch Unwillen und Faulheit auszeichnete. Ihre fehlenden Leistungen überspielte sie offenbar durch persönliche Beziehungen zu Lehrkräften. Vielleicht war auch Bestechung im Spiel, aber das war Magister Retsin einerlei. Ihn hatte nur ihre fachliche Leistung zu interessieren.
Nach reiflicher Überlegung beschloss er, ein Exempel zu statuieren. Eine einzige negative Prüfung könnte man ihm kaum als Schikane anlasten, doch da Semira polarisierte, brächte ihr Scheitern das Machtgefüge in der Akademie durcheinander. Mittelfristig könnte das Marins Position schwächen. Tioman Haranet ya Chernez hatte sich in den letzten Jahren zu viele Freiheiten herausgenommen, und dem konnte Romero jetzt gegensteuern. Semira war in diesem Spiel nebensächlich, nur eine Schachfigur auf dem Brett der Gildenpolitik.
* * *
Er wusste nicht mehr, warum er Semira zu sich beordert hatte. Vielleicht wollte er sich einen persönlichen Eindruck machen. Falls die Gerüchte über ihre oberflächliche Einstellung stimmten, und davon war er überzeugt, wäre es ihm ein Leichtes, ihre Schwachstellen zu entdecken um sie bei der Prüfung bloßzustellen. Mitleid war innerhalb der schwarzen Gilde nicht angebracht und wer die Ausbildung nicht ernst nahm, verdiente auch keines.
Das Klopfen klang fest und bestimmt. „Komm rein“, rief er und entriegelte die Türe mit einem Wink seiner Hand. Hübsch, dachte er, reizend, außergewöhnlich. Er wies auf den Stuhl neben sich. „Nimm Platz.“
„Danke.“
Ihr Augenaufschlag zeugte von Respekt. „Ich möchte mit Dir die Themen der morgigen Prüfung durchgehen“, kam er gleich zur Sache.
Romero Retsin zögerte, als das Bild des Raums vor seinen Augen verschwamm. Habe ich mich überanstrengt oder werde ich krank? Er fuhr sich über die Stirn und schüttelte die Benommenheit ab. Verstohlen musterte er die Novizin, aber die schien nichts bemerkt zu haben. „Und ich möchte Details über Dein Gesellenstück wissen.“
Ihre Hand glitt zu ihrem Hals und fasste nach einer filigranen Kette. Mit einer geschmeidigen Bewegung fischte sie den Anhänger hervor. „Hier. Der wirkende Zauber verstärkt die charismatische Ausstrahlung, wodurch Beeinflussung und Beherrschung erleichtert werden. Die Wirkung hält etwa eine Stunde an.“ Sie zögerte, sah zu ihm auf und ergänzte leise: „Leider kann ich es nur einmal am Tag aktivieren.“
Magister Retsin war beeindruckt, ließ sich das aber nicht anmerken. Der Wirkzauber war unbedeutend, aber selbstladende Artefakte waren schwierig herzustellen, entsprechend selten, und täglich abrufbare Anwendungen stellten selbst für erfahrene Artefaktenmagier die Grenze des Machbaren dar. Vermutlich hatte ihr jemand geholfen. Ein Grund mehr sie hart anzufassen.
Er hob den Blick von dem Schmuckstück und sah ihr in die Augen. „Nette Spielerei“, meinte er abwertend. „Falls es fehlerfrei funktioniert, wird das genügen.“
Eine Zehntelstunde reichte, um sich einen Überblick über ihre Kenntnisse zu verschaffen. Sie verstand sich auf die Verzauberung von Gegenständen und die Herstellung einfacher Tränke und Mixturen, aber Beeinflussungen oder gar Beherrschungen fielen ihr schwer. Ihr Können mochte ausreichen, einen Bauern oder eine Marktfrau übers Ohr zu hauen, aber die Bezauberung eines ausgebildeten Verstandes überstieg ihre Fähigkeiten. So gesehen zeugte es von Schläue, ihr Manko durch das Artefakt zu kompensieren.
„Ich weiß, was ich wissen muss um Dir eine faire Prüfung zu ermöglichen.“ Das sollst du zumindest glauben.
Semira machte keine Anstalten, sich zu erheben. Ihre Finger glitten verspielt durch ihre Haare und folgten dem Saum des Ausschnitts. Sie lächelte herausfordernd und sprach ihn unverblümt an: „Ich würde sehr viel für ein gutes Prüfungsresultat tun Professor Retsin, wirklich sehr viel.“
So läuft das also, schoss es ihm durch den Kopf. Die Bestechung beschränkt sich nicht auf Gold. Solche Angebote waren ihm nicht fremd und wenn ihm eine Kandidatin zusagte, sah er keinen Grund sie abzulehnen. Diese hier gefiel ihm außerordentlich gut und sein Körper reagierte entsprechend. Er erhob sich, griff in ihr Haar und zog ihren Kopf an seinen Bauch.
Wieder legte sich ein Nebel über seine Wahrnehmung, doch ihr Kuss vertrieb das eigenartige Gefühl. Morgen würde sie ihn hassen, aber davon wollte er sich nicht den Abend verderben lassen. „Zeig mal, was Du gelernt hast“, stöhnte er und überließ sich Ihrer überraschend geschickten Führung. Bei der Prüfung wird dir das auch nichts helfen, war sein letzter klarer Gedanke, ehe er sich dem Rausch ihrer Sinnlichkeit hingab.
* * *
Noch einmal schüttelte er den irritierenden Schleier ab, fand sich diesmal aber im Festsaal der Akademie von Marin wieder. Tioman Haranet ya Chernez wirkte belustigt, aber die ältliche Magierin links von ihm, Sybilla Ternis oder so ähnlich, starrte ihn an.
Hier stimmte nichts, gar nichts. Wie komme ich hierher? Wieso stehe ich mit hochgeraffter Robe vor der Prüfungskommission?
Als nächstes wurde er sich der warmen, klebrigen Flüssigkeit bewusst, die seine Hand benetzte und auf dem Parkett zu seinen Füssen kleine, weißliche Flecken bildete. Rijka von Sirnans Augen blitzten vor Vergnügen. Hastig ließ er die Robe fallen und strich sie mit fahrigen Bewegungen seiner Linken glatt, während er die Rechte konsterniert von sich streckte.
„Kann mir jemand etwas zum Abwischen bringen“, pfauchte er wütend, während er fieberhaft nachdachte, wie er in diese unmögliche Situation geraten war. Da verlor Magistra von Sirnan ihre mühsam aufrecht erhaltene Beherrschung und prustete los.
Endlich bekam auch Romero genug mit, um eine tiefe Röte aufzuziehen. Semira, rauschte es durch seinen Kopf. Gerade noch war sie auf seinem Zimmer gewesen. Es sollte Abend sein, und die Novizin sollte nackt in seinen Armen liegen. Stattdessen stand sie voll bekleidet neben ihm und musterte ihn mit züchtig-unschuldigen Blicken, die jedem Waisenmädchen Ehre gemacht hätte.
Tioman Haranet ya Chernez ergriff das Wort: „Beherrschung: Ausgezeichnet. Beeinflussung: Ebenfalls ausgezeichnet, würde ich meinen.“ Der Akademieleiter legte eine Pause ein und bedachte Romero Retsin mit einem Blick, den man nur als spöttisch interpretieren konnte: „Illusion: Schön ausgeführt, perfekt zur Verstärkung der Gesamtwirkung eingesetzt, aber nicht prüfungsrelevant. Das Artefakt ist von tadelloser Qualität und scheint von praktischem Wert zu sein, wenn wir uns den Verlauf der Prüfung vor Augen führen.“
Langsam hatte auch er Schwierigkeiten, sein Lachen zu unterdrücken. „Alles in Allem eine gelungene Vorstellung. Ich denke, Ihr werdet meiner Bewertung zustimmen, werter Kollege.“
Ehe die Examina fortgesetzt wurden, zog ihn Ya Chernez beiseite und legte ihm vertrauensvoll die Hand auf die Schulter. Er entschuldigte sich betont jovial: „Ich hätte Euch diese Peinlichkeit gerne erspart, werter Kollege, aber die Einflussnahme auf den Prüfungsverlauf ist uns ja nur im Notfall gestattet. TANIS sei Dank, ist ja niemand zu Schaden gekommen.“
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Magister Romero Retsin änderte seine Pläne und reiste unmittelbar nach den Prüfungen ab. Die Kutsche mit dem Wappen der Souriner Akademie donnerte mit zugezogenen Vorhängen durch die Stadt. Es würden Jahre vergehen, ehe er sich in Marin blicken lassen konnte. Überdies musste er seinem Rektorat das Notwendige berichten, ohne das Peinliche zu berühren. So oft er das Geschehen drehte und wendete, kam er zu demselben Schluss: Die blonde Novizin hatte ihn von Anfang an vorgeführt und ihre Fähigkeiten heruntergespielt, um ihn bloßzustellen. Unklar blieb, welche Mitglieder des Lehrkörpers in das schändliche Spiel eingeweiht waren, aber Semiras Rolle war eindeutig.
Er gehörte nicht zu jener Sorte von Schwarzmagiern, die in einem Anfall von Jähzorn Tod und Vernichtung über ihre Feinde spien. Dafür war er zu besonnen. Magister Romero Retsin war als geduldiger Mann bekannt, aber er legte großen Wert auf seine Reputation und hatte keinerlei Verständnis für jemanden, der seinen Ruf derart infam beschädigte. Die Fähigkeit des Verzeihens zählte nicht zu seinen Tugenden.
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